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Kapitel 1

„Bitte anschnallen!“

Wie mein Leben zur Achterbahnfahrt wurde

„Habe dein Schicksal lieb, es ist der Weg Gottes mit deiner Seele.“

FJODOR MICHAILOWITSCH DOSTOJEWSKI

Es war damals die höchste Achterbahn Europas. Das wusste ich, aber mein Sohn wollte unbedingt damit fahren. Und weil Christian erst zehn war, musste Papa mit. Wir stellten uns geduldig an, dann waren wir an der Reihe. Wir zwängten uns in die Sitze. Die Bügel wurden runtergeklappt und ich war fest im Wagen verkeilt. Zumindest meine Oberschenkel. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Ratternd ging es in die Höhe. Immer weiter und weiter. Langsam wurde mir mulmig. Dann hatten wir den Gipfel erreicht und gleich darauf ging es fast senkrecht nach unten. Ich war mir sicher: Da waren keine Schienen vor uns, da war nur eine große Leere und in wenigen Sekunden würden wird dort unten krachend auf dem Boden aufschlagen und das war’s. Aber kurz vor dem tödlichen Aufprall änderte der Wagen seine Richtung, legte sich in die Kurve und schoss direkt auf den nächsten Gipfel zu. Ganz kurz war ich erleichtert, dass ich den Sturz ins Bodenlose überlebt hatte. Dann sah ich den nächsten Gipfel der Achterbahn. Und mir war klar: Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit über die nächste Spitze fahren, hebt es mich einfach aus dem Sitz und ich verschwinde irgendwo im All. Ich war mir sicher.

Der Bügel an meinen Beinen hat auch dieser Belastung standgehalten und es hat mich nicht aus dem Sitz katapultiert. Langsam wurde die Fahrt etwas gemütlicher und ein Ende war absehbar. Als wir kurz vor dem Ziel langsam ausrollten, war ich überzeugt: Das war meine letzte Fahrt in einer Achterbahn. Man soll sein Schicksal nicht unnötig herausfordern. Christian war begeistert. Ich war nur froh, dass ich aussteigen konnte und dass er vor lauter Begeisterung meine zitternden Knie nicht bemerkte.

In einem Vergnügungspark kann man sich aussuchen, welche Attraktionen man ausprobieren will. Da gibt es auch durchaus entspanntere Möglichkeiten als eine halsbrecherische Achterbahnfahrt. Aber im wahren Leben ist die freie Auswahl begrenzt. Gerade wenn man sich so richtig wohl und sicher fühlt, kann es passieren, dass man sich auf einmal auf der Achterbahn des Lebens wiederfindet. Manchmal reicht ein Anruf, um das Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine kleine Unachtsamkeit beim Autofahren oder eine überraschende Diagnose nach einer Routineuntersuchung.

Die Diagnose

Seit dem Sommer 2008 weiß ich, dass ich Zystennieren habe. Der Arzt informierte mich darüber, dass es wahrscheinlich noch acht bis zehn Jahre dauern würde – bis zum Nierenversagen. Terminale Niereninsuffizienz nennt man das im Fachjargon. Danach müsste ich dann an die Dialyse, und wenn ich Glück hätte, käme für mich eine Transplantation infrage.

An diesem Tag begann meine persönliche Fahrt auf der Achterbahn des Lebens. Niemand hatte mich gefragt, ich bin nicht freiwillig eingestiegen und ich hatte auch kaum eine Ahnung davon, was auf mich zukommen sollte. Das kam erst Stück für Stück, als ich begann, mich über „meine“ Krankheit zu informieren: Bei ADPKD wachsen Zysten im Nierengewebe, die das gesunde Gewebe verdrängen. Die Zystennieren können mehrere Kilogramm schwer werden und entsprechend groß, was zu erheblichen Belastungen und Schmerzen führen kann. Eine Heilung gibt es nicht.1

Im Sommer 2008 hatte ich noch nicht viel Ahnung – und die Zystennieren schränkten mein Leben auch noch nicht ein. Deshalb habe ich das Ganze für die nächsten Jahre erst einmal – so gut es ging – verdrängt. Dennoch war mir klar, dass diese Krankheit einen wesentlichen Einfluss auf meine Zukunft haben würde. Einschränkungen durch die Dialyse, vielleicht eine Transplantation und auf jeden Fall eine geringere Lebenserwartung.

Ich hatte Angst vor dem, was auf mich zukommen würde. Ich war wütend, weil ich das Gefühl hatte, der Krankheit ausgeliefert zu sein: Da brach etwas über mein Leben herein, das ich nicht beeinflussen konnte.

Ich traute mich kaum zu hoffen, dass es für mich irgendwann noch einmal ein unbeschwertes Leben würde geben können. Aber gleichzeitig erinnerte ich mich auch an die vielen Lebensgeschichten von Menschen, die Ähnliches erlebt hatten. Ihr Glaube hatte ihnen Hoffnung gegeben, und auch in schweren Situationen hatten sie eine neue Lebensperspektive bekommen. Jetzt war ich an der Reihe. Und die Frage nach dem, was im Leben hält, galt nicht einem Interviewgast vor der Kamera, sondern dieses Mal galt sie mir selbst: „Stefan, gibt dir dein Glaube an Gott Halt, wenn es dir den Boden unter den Füßen wegzieht?“

So kurz nach der Diagnose hatte ich noch keine ehrliche Antwort auf diese Frage. Aber nach all den Interviews, die ich geführt hatte, hatte ich die Hoffnung, dass es auch bei mir „funktionieren“ würde. Die Hoffnung, dass ich nicht allein durch diese schwere Zeit würde gehen müssen.

Was für eine Geschichte!

Als Redakteur und Autor liebe ich es, wahre Geschichten zu erzählen. Lebensgeschichten von Menschen, die durch herausfordernde Zeiten in ihrem Leben gegangen sind und die dabei erfahren haben, dass Gott ihnen gerade in diesen Zeiten besonders nahe war. Ich habe mit Menschen gesprochen, die schwere Schuld auf sich geladen haben, mit Menschen, die schlimme Krankheiten überstanden haben, deren Leben von Missbrauch und Drogen gezeichnet war. Geschichten von Leid, Schmerz, Hoffnung und Liebe. Es waren aber auch Geschichten von einem guten Gott, der dem Leben Halt gibt, wenn es einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Mir war es immer schon wichtig, solche Geschichten zu erzählen. Erstens, weil ich davon überzeugt bin, dass sie anderen Menschen Mut, Hoffnung und vielleicht sogar Glauben schenken können. Und zweitens, weil diese Geschichten mir selbst geholfen haben, an Gott zu glauben.

Während ich dieses Buch schreibe, lebe ich schon seit fast drei Jahren mit einer Niere meiner Frau. Ich habe etwas Abstand zu dieser herausfordernden Zeit bekommen. Nierenversagen, die Zeit an der Dialyse, die Krankenhausaufenthalte und die Transplantation liegen schon einige Jahre zurück. Und ich merke, dass das auch gut so ist. Einiges habe ich verdrängt, vieles klingt im Rückblick nicht mehr so dramatisch, wie es tatsächlich war. Manches treibt mir heute noch die Tränen in die Augen – vor allem vor Dankbarkeit, dass Gott mich immer wieder fest an die Hand genommen hat, wenn ich es dringend brauchte.

Ich habe damals einen Blog geschrieben, über den ich enge Freunde auf dem Laufenden gehalten habe. Außerdem gibt es Mails, Notizen und Fotos, die mir geholfen haben, mich beim Schreiben dieses Buches wieder in diese Zeit hineinzudenken, auch wenn mir das nicht immer leichtgefallen ist.

Einzelne Zitate aus dem Blog, aus WhatsApp-Nachrichten und aus Mails lasse ich in das Buch einfließen. Mir ist es wichtig, an entscheidenden Stellen möglichst authentisch nachzuzeichnen, wie mein direktes Erleben war. Ungefiltert und unreflektiert.

Manches mag respektlos klingen, aber in Grenzsituationen will man keine netten Worte finden. Da denkt man nicht über komplizierte Sätze nach, sondern sagt frei raus, was einem auf dem Herzen liegt. Übrigens: Nichts anderes ist Gebet, wenn man es richtig versteht. Ich bin davon überzeugt: Ein Glaube, der mit Leib und Seele gelebt wird – sozusagen mit Blut, Schweiß und Tränen, der lässt sich kaum in schöne, saubere und glatte Worte fassen.

Und schließlich ist dieses Buch nicht nur für Menschen geschrieben, die mit der Kultur und Sprache von Kirche vertraut sind. Es richtet sich an alle, die nach einem Halt für ihr Leben suchen. Jedes menschliche Wesen hat eine Seele, und jede Seele hat Durst nach Sinn, Halt und echtem Leben. Durst nach Gott, wie David es im 143. Psalm so anschaulich beschreibt:

„Ich strecke meine Hände zu dir aus, meine Seele dürstet nach dir wie dürres Land nach Wasser.“ Psalm 143,6 (NGÜ)2

Warum es dieses Buch gibt? Ich erlebe, dass es gut ist, ehrlich zu sein und auch von den Tiefen und Schlaglöchern im eigenen Leben zu erzählen. Das schafft die Basis für Gespräche und Beziehungen auf Augenhöhe mit anderen Menschen, unabhängig davon, ob sie so denken und glauben wie ich oder nicht. Das Leben ist kein Ponyhof, wie man so schön sagt. Auch das Leben von Christen ist kein Ponyhof, obwohl das mancher glaubende Mensch gerne so hätte. Gott bewahrt uns nicht vor der Achterbahnfahrt des Lebens, aber er hat versprochen, dabei zu sein, mir die Hand zu halten, meine Tränen zu trocknen und mir ein Licht anzuzünden, das mir Hoffnung gibt, wenn ich keine Hoffnung mehr sehe. Und er hat versprochen, dass er mich hält, wenn das Leben droht, mich aus der Bahn zu katapultieren.

Wie gesagt – ich liebe es, Geschichten zu erzählen von Menschen, die durch große Herausforderungen in ihrem Leben gehen. Diesmal ist es meine eigene Geschichte. Und ich hoffe, dass sie anderen Mut macht, nach einem Halt im Leben zu fragen, wenn sie den für sich noch nicht gefunden haben. Aus den Interviews, die ich gemacht habe, habe ich die Erkenntnis mitgenommen: Der Glaube an Gott ist eine tragfähige Basis im Leben, an guten und an schlechten Tagen. Gott sei Dank habe ich genau das selbst erlebt, als über meinem Leben die dunklen Wolken einer schweren Krankheit heraufgezogen sind. Davon soll dieses Buch erzählen. Offen, ehrlich, authentisch. Und getragen von der Hoffnung, die der Glaube an Gott schenken kann:

„Bei Gott allein soll meine Seele Ruhe finden,

von ihm kommt meine Hoffnung.

Er allein ist mein Fels und meine Rettung,

ja, er ist meine sichere Festung. (…)

Er ist der Fels, der mir Halt gibt,

meine Zuflucht finde ich bei Gott.

Vertraut auf ihn zu jeder Zeit, ihr alle aus meinem Volk!

Schüttet ihm euer Herz aus!

Gott ist unsere Zuflucht.“

Psalm 62,6-9 (Luther 2017)3

Stefan Loß, Aßlar, im April 2020

Auf Herz und Nieren

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