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1.3.2 Ballettmusik

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Im 17. Jahrhundert wird Musik in drei unterschiedliche Stile klassifiziert – ecclesiasticus, cubicularius und theatralis.1 Letzterer bedarf – da für diese Arbeit besonders von Belang – einer genaueren Erfassung. Musik ist, wie Friedrich Böttger feststellt, zu Zeiten Molières fast immer in Verbindung mit Tanz aufgeführt worden.2 Auf diese Weise hält mit dem Aufkommen des Tanzes auch ein musikalisches Moment Einzug in die französische Kultur. Hans Hahnl drückt das komplexe Verhältnis von Ballett und Musik mit der Leidenschaftsmetaphorik zweier Liebender aus und akzentuiert damit die Tragweite ihrer symbiotischen Verbindung:

Die Musik befreit den Tanz zu sich selbst, sie entfesselt und sie bändigt ihn, sie gibt ihm Gesetze, mit denen er nach Belieben verfahren kann. Sie überwältigt ihn, um von ihm überwältigt zu werden […]; ein lebenslanger Kampf mit Vereinigungen [und] Versöhnungen.3

Die Beziehung zwischen den beiden Künsten manifestiert sich darin, dass musikalische Strukturen wie Rhythmik, Klangfarbe und Dynamik choreografisch materialisiert und vice versa choreografische Bewegungsformen akustisch realisiert werden können; Musik im Ballett kann eine stimulierende Funktion für die Bewegungsaktion, aber auch eine begleitende Funktion haben.4 Ferner korrespondiert jeder Balletttanz mit einem spezifischen Musikstück: „[T]he tempo and meter of the music determine the number of step-units per measure of dance, and the affect of the music by and large determines the affect of the dance.“5

Dieses Zusammenspiel ist von der neoplatonischen Lehre der Universumsharmonie bestimmt, die Musik und Tanz eine wohltuende Wirkung auf die Seele der Zuhörer oder Zuschauer zuspricht und trotz des zunehmend ästhetischen Anspruchs der Hoffeste und der damit verbundenen Ästhetisierung des ballet de cour noch bis ins 18. Jahrhundert Gültigkeit hat.6 Da Musik Leidenschaften auszudrücken vermag, kann sie auch die Seele von diesen reinigen.7 Jean Boiseul schildert die ethische Wirkung von Musik im Jahre 1606 wie folgt:

[L]a musique est un excellent don de Dieu, elle recrée, remet les esprits, chasse la melancholie, appaise la colere, arreste la fureur, esmeut les plus stupides, resveille les abestis, esleve à Dieu, esmerveille les hommes de sa beauté & exellence diverse en toutes sortes, & sa gravité & douceur retire du propos de mal faire, esteint les mauvaises conceptions, incite à la vertu.8

Sichtbar wird Musik in den Ballettbewegungen und kann sonach über zwei Vermittlungskanäle, durch das Ohr und das Auge, auf die Seele einwirken.9 Ihr Ziel ist, so Pierre Bardin 1638, „la continuité de l’harmonie“10, die allumfassende Eintracht. Der philosophischen Gesinnung der Musik geschuldet, wirkt sich diese positiv auf eine konfliktfreie staatliche Organisation aus, die den hohen Stellenwert der Musik dadurch legitimiert sieht, denn, wie der Musiklehrer in Le Bourgeois gentilhomme verkündet: „Sans la Musique, un État ne peut subsister […].“ (BG, 270) Mit der starren Ordnung des Kosmos und der daraus abgeleiteten Ordnung der Musik korrespondiert die statische Anschauung vom Menschen in der Gesellschaft,11 die sich in der absolutistischen Ständegesellschaft widerspiegelt. Der positive Einfluss der Musik auf die Gemütszustände der Rezipienten kann vom Staat als Machtmittel genutzt werden, um die Aspirationen seiner Mitglieder auf den richtigen Weg zu bringen.

Über die enge Verbindung zum Tanz hinaus ist Musik auch in eine nahe Beziehung zur Sprache zu setzen. Im Zuge der Bestrebungen nach Reinheit der französischen Sprache, die das Ziel haben, jeden Gedanken und jedes Gefühl in klarster und subtilster Form wiederzugeben, nähert sich die Musikästhetik den Prinzipien der literarischen Klassik jener Zeit an, denn der klare Ausdruck wird auch zu einem ihrer Grundprinzipien: „kein Klang ohne Sinn […], klare Linien, symmetrische Fakturen, echte Kontraste aus [sic] Ausdruck gegensätzlicher Gedanken oder Gefühle“12. Diese Eigenschaften perfektioniert Lully in seinen Kompositionen für das komische Genre, indem er die französischen Qualitäten des Rhythmus und der buffonesken Fantasie mit den musikalischen Qualitäten der Italiener kombiniert.13 Damit bereitet er die französische Barockmusik mit ihrer Formschönheit und ihrem erhabenen Klang für seine Opern vor, deren dichter Instrumentalsatz ein Spiegel des kompakten, aber dennoch klaren Satzbaus der französischen Sprache ist.14 Bevor Lully diese Symbiose zwischen Sprache und Musik umzusetzen vermag, die Einheit von Text und Ton für seine Musik beansprucht, scheint er zunächst noch den Ansichten der Theoretiker seiner Zeit unterworfen zu sein – insbesondere Bénigne de Bacilly –, die postulieren, dass die Musik keine Prosodie-, Rhythmus- und Akzentfehler in der Sprache hervorrufen dürfe.15 Diese Forderungen zeigen, wie Molière den maître de musique in Le Bourgeois gentilhomme sagen lässt – „Il faut […] que l’Air soit accommodé aux Paroles“ (BG, 269) –, dass sich die Musik den sprachlichen Besonderheiten fügen muss, der Musiker dem Poeten letztlich untergeordnet ist. Diese gattungsgeschichtlich begründete Hierarchie manifestiert die Vorrangstellung der Sprache in den Ballettkomödien und lässt nachvollziehbar werden, warum sich Lully künstlerisch weiterentwickeln wird.16

Darüber hinaus zeugen Molières prosaische Passagen in den Ballettkomödien von einem stark musikalischen Moment:

Elle [la prose, Anm. S.W.] a un caractère particulier, que c’est une prose presque toujours chantante et même, en certains passages, mesurée et rythmée. […] [I]l ne lui suffisait pas que sa prose eût la sonorité du verbe; il voulait qu’elle fût propre à faciliter et à soutenir le débit de l’acteur, qu’elle eût du ton d’une façon générale et continue. […] [I]l mêla à sa prose des vers isolés; c’était comme des clous brillants où s’accrochait le souvenir, comme des points lumineux […]. [U]n vers isolé au milieu de la prose frappe l’oreille du spectateur, réveille son attention et saisit son esprit.17

Molière integriert immer wieder isolierte Verse, zumeist Blankverse, in seine Prosa und verstärkt damit das lyrisch-musikalische Element seiner Texte. Dies hat den Effekt, dass der Wechsel des Schreibstils zwischen den dominant lyrischen Intermedien und der dominant prosaischen Komödie harmonischer, weil kohärenter wirkt. Molière appliziert dieses Kompositionsphänomen weitgehend auf seine Ballettkomödien und etabliert derart einen ästhetischen Übergang zwischen dem gesprochenen und dem gesungenen Wort, den der Zuschauer wohlwollend wahrnimmt: „[L]’oreille est surprise de trouver de la musique où elle n’en attendait pas, et du coup elle en met elle-même plus qu’il n’y en a …“18 Die ‚lyrische Klangprosa‘ bedingt nicht nur den einzigartigen Charakter der comédie-ballet, sondern bestimmt Molières ästhetisches Schaffen im Allgemeinen.

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

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