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2.1.4 Die metadramatische Kommunikationsebene – die intermediale figurale Interaktion

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Die von Matzat vorgeschlagenen Rezeptionsperspektiven für die Komödie sind sinnfällig, funktionieren aber nur eingeschränkt für die Ballettkomödie. Für sie bedarf es einer weiteren Komponente innerhalb der für die Theaterrezeption signifikanten Kommunikationsebenen, um ihrer strukturellen Eigentümlichkeit Rechnung zu tragen: die metadramatische Ebene (B–B’). Ihre Berechtigung im Kommunikationsmodell erhält sie dadurch, dass sie eine von den anderen Kommunikationsebenen divergierende Weltsicht beinhaltet, der gewisse Gesetzmäßigkeiten eigen sind, die auf das Bühnengeschehen projiziert werden.

Die metadramatische Perspektive stellt sich ein, wenn es zu einer Erweiterung des inneren Kommunikationssystems kommt. Dieser Fall tritt dann ein, wenn eine Verständigung zwischen den Dramenpersonen aus der Handlungswelt der Komödie und denen aus den Intermedien stattfindet.1 Generell kann von solch einer Ebene gesprochen werden, sofern der Zuschauer sich dieser Erweiterung bewusst wird, weil sich sonst keine Differenz zur dramatischen Perspektive aufzeigen lässt. Erst über einen Sujetrealitätenwechsel in Kombination mit einem Medienwechsel stellt sich beim Zuschauer diese Rezeptionsperspektive ein: In diesem Fall impliziert der Wechsel der Sujetrealitäten einen merklichen Übergang von der Komödie zum Zwischenspiel, der über die Opposition von Fiktion und Metafiktion erfahrbar gemacht wird. Dieser komödieninterne Realitätsbruch gestaltet sich über zwei Arten von Unwirklichkeit. Zum einen kann eine soziale Unwirklichkeit ausfindig gemacht werden, die gesellschaftlich Unmögliches ermöglicht. Zum anderen kann eine empirische Unwirklichkeit ausfindig gemacht werden, die Übernatürliches natürlich erscheinen lässt.

Die soziale Unwirklichkeit taucht dann auf, wenn eine Transformationszeremonie den sozialen Status einer Figur verändert. Die Ermöglichung des gesellschaftlich Unmöglichen wird mit dem die Komödie und das Zwischenspiel verbindenden Spiel-im-Spiel-Prinzip etabliert und geschieht in Absprache mit den Zuschauern im Sinne einer Komplizenschaft, wobei die Drahtzieher des Ränkespiels die vorgetäuschte soziale Unwirklichkeit bis zum Komödienende aufrechterhalten und nicht beenden. Dabei wird das Dargestellte nicht als selbstzweckhafter Spielimpuls verstanden, denn dadurch, dass die sekundäre Fiktionsebene zur primären wird, handelt es sich um den tatsächlichen Handlungsrahmen der Komödie. Das unverbrüchliche Ränkespiel ist aufgrund der fehlenden Endbereinigung zum Spiel des Spiels geworden, zum Spiel des Schauspiels; ihm ist ausschließlich eine handlungstreibende Funktion zuzusprechen. Dieser Vorgang erzeugt über seine doppelseitige mise-en-abyme-Struktur einerseits eine illusionsfördernde, andererseits eine illusionsmindernde Wirkung beim Publikum. Der Zuschauer kann die innerfiktional dargestellte Mischung aus Realismus und Fiktion in der Spiel-des-Spiels-Situation als Mitwisser genießen, weil die von ihm eingenommene Sichtweise eines internen Zuschauers das letzte Band zur sozialen Normalität darstellt, das ihn davon abhält, dem Unmöglichen anheimzufallen.2

Die empirische Unwirklichkeit kommt über fiktive Fantasiewesen oder mythologische Wesen zum Vorschein, die in der Handlungswelt der Komödienfiguren inexistent sind, aber über die intermediäre Korrespondenz der Figuren darin Einzug halten. Sie zeigt sich dem Zuschauer als willkommene Überraschung und wird mittels Komödienfiguren umgesetzt, die kurzzeitig mit dem Übernatürlichen in Kontakt treten und hiernach wieder ungezwungen realitätsbezogen agieren. Hierbei kann es zu einer Weiterführung der Intrige kommen, allerdings wird diese ohne eine Spiel-im-Spiel-Situation dargestellt. Diese Szenen sind von einem episodenhaften Charakter geprägt und zumeist auf Nebenhandlungen limitiert. Während die in der ersten Kategorie erwähnten Transformationszeremonien die typische, im Zentrum höfischer Feste stehende Alltagsverwandlung szenisch explizit thematisieren, mithin die soziale Alltagsverfremdung aktiv vorantreiben, akzentuiert die zweite Kategorie durch ihre empirische Unwirklichkeit eher eine transzendente Verzauberung der Lebenserfahrung. Die soziale wie auch empirische Unwirklichkeit spiegeln den absolutistischen Festcharakter in ganz besonderer Weise wider. Dieser ist mit einer lebensweltlichen Grenzerfahrung der Besucher konnotiert, mit einem realen Erlebnis fiktionaler Unwirklichkeit unter den Augen des Sonnenkönigs.

Ferner verweist die erhöhte Anzahl an ausführlicheren Regieanweisungen in den Aktend- beziehungsweise Zwischenspielanfangsszenen des Dramentextes auf einen aufführungstechnischen Umbruch, der sich in einem Medienwechsel zeigt. Diese mediale Verschiebung wird als Ausdehnung binnenfiktionaler Kommunikation verstanden und als Illusionsbruch wahrgenommen, wenn die präsentierte Sujetrealität der Komödie von der des Intermediums divergiert. Die ‚Als-ob‘-Wirklichkeit der Komödie projiziert aus ihrem Wirklichkeitsgestus eine Unwirklichkeit auf die Bühne, die zu einer potenzierten Verfremdung des gesamten Bühnengeschehens beiträgt, da das illusionsbrechende Moment an die Komödienhandlung rückgekoppelt ist. Diese Erfahrung kann der Zuschauer weder allein über die dramatische noch über die theatralische Perspektive machen, sodass dieses für die Geschichte wichtige Element über die metadramatische Ebene kommuniziert wird. Darüber hinaus ereignet sich im Fall einer Weiterführung der Intrige ein Kollaps von Komödie und Intermedium in puncto Dramen- und Sujetstruktur, was mit einem Zusammenfall von ‚Als-ob‘-Wirklichkeit und sich daraus abzeichnender Unwirklichkeit einhergeht.

Eine Aktualisierung der metadramatischen Kommunikationsebene führt nicht nur zu einer einfachen Überlagerung dieser mit der dramatischen, theatralischen und lebensweltlichen Kommunikationsebene, sondern zu einem krassen Illusions- und Identifikationsbruch auf allen Ebenen: Das Infragestellen der Handlungswelt durch die Dramenfiguren löst den Zuschauer von der dramatischen Perspektive los. Obendrein vergegenwärtigt ihm die Ungewissheit über das störende Moment der dargestellten Wirklichkeitsinkohärenz die Fiktionalität der Theatersituation, die er aber zugleich unter dem Aspekt des ‚Als-ob‘ hinterfragt und ihn ebenfalls aus der theatralischen Perspektive ausschließt. Schließlich unterzieht er das Geschehen einer metaphysischen Infragestellung hinsichtlich dessen, was der Realitätscharakter der Lebenswelt ist. Der Zuschauer verweilt nicht in dieser philosophischen Haltung, denn diese dynamische Zersplitterung der Rezeptionsperspektiven verstärkt eine simultane Interaktion zwischen allen Kommunikationsebenen, die in der erstarkten multimedialen Darstellung die größte Publikumsaffizierung erzielt. Es kommt zu einer Aktualisierung der Aufführungssituation und sonach wird die Perspektivenverwirrung in einer theatralischen Perspektive gebündelt. Diese dominiert letztlich sowohl die dramatische respektive metadramatische als auch die lebensweltliche Perspektive. Das dynamische Moment der Theatralik setzt sich aus der Verbindung von schauspielerischem Agieren, musikalischer Untermalung und tänzerischer Darbietung im Modus des sozial beziehungsweise empirisch Unwirklichen zusammen. Sie erzeugt eine starke Performance, die in gesteigertem Maße publikumswirksam ist, da sie einen multimedialen Unterhaltungswert fernab der Realität garantiert und zugleich ein Bewusstwerden von Irrealem in einer rein rationalen Weltanschauung ermöglicht. Die theatralische Kommunikationsebene evoziert daher eine aus der Alltagswelt enthobene Sinnenklave, die sich als utopischer Fluchtraum zeigt, als komisches Refugium. Letzteres konstituiert sich aus der Dialektik von Schein und Sein und sorgt für eine ambige Haltung der Zuschauer zum Dargestellten. Einerseits unterhält und erfreut es sie in der poetologischen Gesinnung des horazischen delectare, andererseits erzeugt es im höfischen Kontext eine einschüchternde Wirkung im Sinne des horazischen prodesse, ist es doch vehement mit dem unschicklichen Unvernünftigen semantisiert, das mit dem Preis einer gesellschaftlichen Stigmatisierung zum Verrückten korreliert.

Es ist festzuhalten, dass der Zuschauer das Geschehen aus einer metadramatischen Perspektive betrachtet, wenn er den Wirklichkeitsbruch und die medialen Bereicherungen als binnenfiktionale Realitätsverfremdung des gesamten Bühnengeschehens ins soziale oder empirische Unwirkliche wahrnimmt. Den Wirklichkeitsbruch innerhalb der Fiktion empfindet der Zuschauer jedoch nicht als besonders störend, sodass es ihm gelingt, die verstärkt mediale Theatralik auf die figurale Interaktion zu beziehen, und er sich daher dem Sog der Theaterfiktion nicht widersetzen muss. Die Wahrnehmung der Realität ist für einzelne Figuren auf der Bühne gestört und auch der Zuschauer wird mit dem Problem konventioneller Sichtweisen bei der Aufführung über die binnenfiktionale metadramatische Perspektive konfrontiert. Diese erweitert sich aufgrund ihres intermediären Charakters, nähert sich der theatralischen Perspektive an und wird letztlich von jener absorbiert. Diese Perspektive ist auch als Brückenperspektive zwischen der dramatischen und theatralischen zu betrachten, da soziale wie auch empirische Fiktionalitätsprobleme in eine theatralische Perspektive hinübergespielt werden und sich in der Heiterkeit des Spiels auflösen, sodass bei der Ballettkomödie von einem dominant theatralischen Theater zu sprechen ist. Die metadramatische Perspektive enthält folglich ein potenziell störendes Moment, das aus dem Spannungsverhältnis zwischen Realität und Fiktion resultiert – zwischen Fiktion und Metafiktion oder, wie Georges Forestier konstatiert, zwischen „la fiction et le merveilleux“3 – und den Zuschauer in eine verzerrte Traumwelt hineinmanövriert.

Wenn man Gattungen als fundierte Organisationsformen von Kommunikationsprozessen versteht, dann bestärkt die für die Ballettkomödie spezifische Kommunikationssituation, die sich aus der zusätzlichen metadramatischen Perspektive ergibt, die Originalität des Genres. Dies gilt auch dann, wenn diese Metaebene nicht in allen Ballettkomödien in vollem Umfang auftaucht, weil die figurale Korrespondenz zwischen Komödie und Intermedium genauso gut ohne Wirklichkeitsbruch vonstattengehen kann und sich somit nur ein medialer Kommunikationswechsel innerhalb einer Sujetwirklichkeit vollzieht. In diesem Fall sind Fiktion und Metafiktion realitätsgleichwertig im Sinne einer einheitlichen Theaterfiktion und über die dramatische, theatralische oder lebensweltliche Perspektive erfahrbar.

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

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