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2.2.2 Raison und déraison

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An der Auseinandersetzung zwischen dem komischen Helden und den anderen Figuren offenbaren sich die unterschiedlichen moralischen und sozialen Weltanschauungen innerhalb der Handlungswelt, die auf die Opposition von raison und déraison zurückzuführen sind. Molière definiert in Le Misanthrope sein Verständnis einer vollkommenen Vernunft, die sich durch eine aurea mediocritas auszeichnet, durch eine kompromissbereite Mäßigung des Subjekts, das, im Sinne der gesellschaftlichen Ausrichtung des Begriffs, jegliche Extreme meiden sollte. So sagt hier Philinte: „La parfaite Raison fuit toute extrémité, / Et veut que l’on soit sage avec sobriété.“ (LM, 653)

Die raison ist einer der höchsten Werte der französischen Gesellschaft der Klassik, Gradmesser und Garant sozialen Anstandes und respektablen Geschmacks. Der positiv besetzte Wert orientiert sich an den Wertvorstellungen von la cour et la ville, also am Wertesystem der führenden Gesellschaftsschicht, den honnêtes gens:

Die Sittenvorschrift für den honnête homme schrieb vor, sich den bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Mächten zu unterwerfen; im Bestehenden und Gefügten seinen richtigen Platz zu erkennen, seine Haltung mit diesem Platz in volle Übereinstimmung zu bringen ist das ethisch-ästhetische Ideal, das sich gerade damals bildet […].1

Dieses ethisch-ästhetische Ideal korreliert mit der bienséance, der Sittlichkeit und Weltgewandtheit, sodass der Begriff der raison den vernünftigen Figuren aufgrund ihres gesellschaftsangepassten Verhaltens in der Komödie zugeschrieben werden muss. Dieser vernunftbetonten Seite lassen sich die Räsoneure zuordnen, die zumeist Figuren in den Handlungswelten sind und häufig in direkter Beziehung zum komischen Helden stehen. Zu ihnen zählen beispielsweise Cléante in Le Bourgeois gentilhomme und Béralde in Le Malade imaginaire.2 Sie können zwischen der gelegentlichen Partizipation an der Intrige um den Querdenker und der Rolle eines externen Kommentators oszillieren,3 wie Cléante Hauptbestandteil des Konflikts sein oder wie Béralde von außen das Treiben beurteilen. Im Allgemeinen repräsentieren die Räsoneure die gültigen Zivilisationsregeln und die Werte der Zeit; sie etablieren „the play’s system of values“4, sodass sich das Publikum mit ihnen identifizieren kann und sich eine starke Relation zwischen ihm und ihnen herauskristallisiert. Ferner tragen sie in ihrer dramenästhetischen Funktion als Kontrastfigur zum komischen Helden auch zu einer den Dramentext strukturierenden Symmetrie bei. Sie kontrastieren mit ihrem Diskurs der Mäßigung mit den verrückten Machtinstanzen und schmälern deren Autorität, die im Zeichen der déraison steht. Ihre Rollengesinnung spiegelt Molières Ethik wider, die vom folgenden triadischen Werteideal bestimmt ist: la probité – die exzellente Moral –, le bon sens naturel – der exzellente Intellekt – und l’honnêteté – die exzellente Soziabilität.5 Die exzellente Moral impliziert ein an der bienséance orientiertes Verhalten, das in einer korrekten Erfüllung des gängigen mondänen Moralverständnisses liegt. Der exzellente Intellekt reflektiert das Urteil des Hofes wie auch der Stadt und erklärt das Bündnis dieser beiden Zuschauergruppen. Ferner legitimiert er den Erfolg Molières durch die Referenz auf die „esthétique galante“ 6, die im Zeichen des zeitgenössischen Ratio-Verständnisses steht. Der exzellenten Soziabilität werden häufig die Attribute überständisch, apolitisch, areligiös und unheroisch angehängt. Ihre Vertreter sollen sich ihres Standes bewusst, gesellig und allseitig gebildet sein, aber keine fachspezialisierten Experten verkörpern.7

Der Räsoneur ist vordergründig der vernünftigste Handlungsträger in seiner ideologischen Grundausrichtung, die er aber im Kontakt mit dem komischen Helden wiederholt modifiziert, da er mit den Schwächeren sympathisiert und sich nicht selten mit ihnen gegen die Autoritäten verbündet. Dies passiert, wenn er sich dem Ränkespiel um den komischen Helden anschließt und ihn mit der gleichen Waffe, der der déraison, unschädlich macht. Mit diesem Verhalten gestaltet Molière die Beurteilung der raisonneurs vonseiten des Publikums eher komplexer als einfacher. Ist keine Figur mit dieser speziellen Funktion binnenfiktional ausfindig zu machen, tritt der Zuschauer in Erscheinung. In diesem Fall findet das Bühnenspektakel sein vernunftbehaftetes Gegengewicht im Publikum, das sodann als Räsoneurinstanz in die Fiktion eingebunden wird. Dies ist möglich, weil es eine Adressateninstanz bildet. In diesem Kontext unterscheidet sie sich allerdings insofern von der lebensweltlichen Einstellung zum Geschehen, als sie das ‚Als-ob‘ des Rollenspiels der Schauspieler akzeptiert.8 Sie kann dem Anspruch des Theaters im Sinne einer Identifikation mit den Figuren nur unter negativen Vorzeichen nachkommen.

Der komische Held hingegen vertritt eine altmodische Weltsicht, die gegen die honnêteté verstößt und ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter degradiert. Er positioniert sich diametral zur molièreschen Ethik, zieht er doch ein autokratisches, egomanisches Verhalten dem sozialen vor. Im Grunde scheitert er, weil sich sein imaginiertes Wertesystem zwar auf die Handlungswelt projizieren lässt, diese aber nicht grundlegend verändert. In den Ballettkomödien zählen zu diesen peripheren Gesellschaftsgruppen neben den komischen Helden Vertreter des Schwertadels und der altfeudalen Aristokratie, Bürger, Preziöse, Künstler, Ärzte, Astrologen, Juristen, Philosophen, Parasiten, Pedanten und Fremde. Die weiter gespannte déraison umfasst alle Vertreter, die sich nicht zur Elitegesellschaft von la cour et la ville zählen oder ihr kritisch gesinnt sind. Sie alle wirken lächerlich im Kontrast zu den Vertretern der raison.

Ferner spiegelt die gewählte Opposition den Zeitgeist der klassischen Epoche wider, welche im Gegensatz zur Renaissance eine strenge Grenzziehung zwischen Vernunft und Unvernunft prägt: „Une ligne de partage est tracée qui va bientôt rendre impossible l’expérience si familière à la Renaissance d’une Raison déraisonnable, d’une raisonnable Déraison.“9 Die Nähe dieser Sujetschicht zum zeitgenössischen Weltbild lässt es angemessen erscheinen, die Weltanschauungen auf die mores der Epoche zu beziehen. Von dieser Warte aus gesehen erhält die raison das Attribut ‚moralisch‘, weil sich ihre Vertreter an die gängige Moral der sozialen Elite halten.10 Im Umkehrschluss handeln die Opponenten unmoralisch, also nicht so, wie es gängige Sitte und Moral fordern. Matzat sieht einerseits – aufgrund der moralischen Dimension dieser Opposition – eine Kongruenz mit der dramatischen Rezeptionsperspektive, weil sie die Zuschauer veranlasst, durch Illusion und Identifikation das dargestellte Geschehen ernst zu nehmen, und andererseits – aufgrund der sozialen Dimension – eine Kongruenz mit der lebensweltlichen Perspektive, da sie die Zuschauer veranlasst, einen lebensweltlichen Bezug herzustellen, woraus letztlich das sozialkritische Moment der Ballettkomödien generiert wird.11

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

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