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2.2.4 Réalité und fiction

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Die zweite textinterne Sujetschicht ist als Erweiterung zur déraison zu fassen und subsumiert die Komponenten réalitéfiction. Zur Sujetschicht der folie sind Betroffene zu zählen, die im Vergleich zur Sujetschicht der déraison eine gesteigerte Konventionendivergenz und einen gesteigerten Verlust des Realitätssinns aufweisen. Die Übergänge zwischen déraison und folie sind fließend, denn: „[L]a folie commence là où se trouble et s’obscurcit le rapport de l’homme à la vérité […].“1 Die folie-Sujetschicht nähert sich am stärksten von allen Sujetschichten der Protosujetschicht an und tritt nur in den Intermedien auf. Der komische Held rückt mithin ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein interner Konflikt zwischen Sein und Sein-Wollen wird in diesen Intermezzi amoralisch exteriorisiert, seine Schimären zur Theaterrealität erhoben, sodass im Zwischenspiel kein Realitätsbezug zur Sujetrealität der Komödie und somit auch zum lebensweltlichen Kontext mehr hergestellt werden kann. Das Brisante daran ist, dass das Interludium aber als solches angelegt ist, also eine an die Komödienstruktur gebundene Sujetstruktur hat.

Das häufig von den Nebenfiguren inszenierte Intrigenspiel versteht der komische Held als Bestätigung seiner idée fixe, sodass er innerhalb dieser Enthebung Zuspruch in seiner Handlungsmotivation erfährt. Die Sujetrealität der Handlungswelt der Komödie tritt in Opposition zur Sujetrealität des Interludiums, was dazu führt, dass das Intermedium als Metafiktion vom Zuschauer wahrgenommen wird. Diese Enthebung epistemologischer Gesetze in der Metafiktion der Fiktion impliziert eine Loslösung von der Moral, da in dieser Transzendierung ins Unwirkliche keine Relation mehr zum Moralbegriff erwägenswert ist. Die Betroffenen sind aus der Mitte ihrer sozialen Umwelt im buchstäblichen Sinne ‚ver-rückt‘; sie können nicht mehr zwischen der inneren und äußeren Wirklichkeit unterscheiden. Damit steht nicht nur die Sujetschicht im Zeichen einer extrarationalen folie, sondern das gesamte Zwischenspiel.

Diese Sujetschicht ist binär verzweigt, wobei die Seite der réalité den realitätsbezogenen Figuren zugesprochen wird (respektive der realistischen Ausrichtung der Handlungswelt in der Komödie) und die der fiction dem komischen Helden entspricht (respektive der potenzierten Fiktionalität der Handlungswelt im Interludium). Handelt es sich dabei um ein transzendierendes Spiel im Spiel im Sinne einer Realitätsenthebung, impliziert der Begriff réalité eine unvernünftige Handlungsweise der Handelnden, die aber den Realitätsbezug zur Handlungswelt im Sinne eines Spaßes um die Autoritätsfigur als solchen noch erkennen lässt. Dahingegen ist die Verhaltensweise des komischen Helden über den Begriff der fiction zu erfassen, zielt seine Handlungsmotivation doch auf das Ausleben seiner idée fixe ab, die nur im Modus der Fiktion in die Handlungswelt der Komödie Einzug halten kann. Mithin impliziert der Terminus einen Moment der Unwirklichkeit, dem der komische Held zum Opfer fällt. Die Nebenfiguren überblicken die unrealistischen Elemente ihres Intrigenspiels um den komischen Helden, indem sie seine Illusion durch Transformationsszenen, begleitet von Musik und Tanz, inszenieren. Ihr Wissen um das arrangierte Unwahre legitimiert den Ausdruck réalité, obzwar diese im Spiel kaum erkennbar ist und abgesehen vom spärlichen Getuschel der Drahtzieher komplett beseitigt sowie im Sinne des merveilleux zu verstehen ist. Da aber die Idee der Ränkeschmiede ebenfalls auf einem amoralischen und somit unrealistischen Boden fußt, wird die fiction erst im Kontakt mit der wohlwollenden réalité zur folie subsumiert und ermöglicht. Diese Opposition kann ebenfalls einen Agon generieren, den Intermezzo-Agon, der indirekt zustande kommt: Obschon die réalité-Fraktion immer im Wissen um ihre figurale Stellvertreterfunktion ist, wird der aggressive Charakter dieses Agons nivelliert, indem die beiden Entitäten zusammenschmelzen und die Verrücktheit des Spiels amoralisch transzendiert wird. Die folie entsteht in diesem Kontext also, wenn das Imaginäre Fiktives auf die Realität projiziert, diese vom Haupthandlungsträger durch die Brille seiner Fiktion als die tatsächliche Realität angesehen wird und diese scheinbar modifiziert werden kann;2 sie stellt einen Endpunkt dar, ein „déréglement entier de l’imagination“3, eine vollständige Verzerrung der Repräsentation: „[P]rendre sérieusement le jeu pour la réalité est le signale de la déraison. […] Elle s’appelle […] folie lorsqu’elle est totalement incontrôlée […].“4

Das kulturhistorische Substrat dieser Opposition liefert Foucault, wenn er den Wahnsinn als eines der konstanten Themen des klassischen Zeitalters in Frankreich bezeichnet und ihn aufgrund seiner onirischen Eigenschaft als Delirium spezifiziert.5 Unter dem Begriff der folie werden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster festgelegt, die nicht mit der akzeptierten moralischen und sozialen Norm koinzidieren und somit unvernünftig sind. Die Wurzel dieses Zustandes liegt in der idée fixe des komischen Helden, denn seine Individualideologie weist ihm den Weg zum Wahnsinn. Das Scheitern an der Wirklichkeit treibt ihn in die folie, sodass man bei dieser Exteriorisierungswirkung rückkoppelnd auch von einer idée folle sprechen kann, einem Wahnverständnis, das sich als Kontrapunkt zur Eintrachtsideologie des vergesellschafteten Menschen in seiner Außenseiterrolle manifestiert. Die Koinzidenz von Realität und Fiktion geht im Fall einer Intrigenweiterführung mit einem Zusammenfall von Komödie und Intermezzo in puncto Dramen- und Sujetstruktur einher, sodass der anfängliche Sujetrealitätsbruch nicht mehr wahrgenommen wird und sich die metadramatische Perspektive in Auflösung befindet und auf eine theatralische Finalaktwahrnehmung zusteuert: Die folie-Sujetschicht ruft eine dominant metadramatische Perspektive beim Zuschauer hervor, geht aber nach der schelmischen Homogenisierung der unterschiedlichen Weltauffassungen und der Zunahme außersprachlicher Mediatisierung des Geschehens in eine theatralische Perspektive über.

Bisweilen können auch Nebenfiguren in den Zwischenspielen der folie anheimfallen, wenn sie in den Intermezzi mit Fabelwesen oder anthropomorphisierten Gegenständen kommunizieren. Sie werden nicht zu sozialen Außenseitern, da alle Figuren der Szenen im Einklang mit dem Empirisch-Anormalen stehen. Diese Zwischenspiele sind immer von einem übernatürlichen Aspekt geprägt, worin sie sich von den sozial unrealistischen Transformationsszenen der komischen Helden unterscheiden und dergestalt auch nicht mehr den Kriterien der vraisemblance entsprechen. Dennoch sorgen sie für einen hohen Unterhaltungswert, denn:

Si l’on court à tous les ouvrages Comiques, ce pour ce que l’on y trouve tousiours quelque chose qui fait rire, & que ce qui en est meschant, & mesme hors de la vrayesemblance, est quelquefois ce qui divertit le plus […].6

Den involvierten Nebenfiguren ist in Anbetracht des Intermezzo-Agons das Attribut réalité zu verleihen, weil sie im Gegensatz zu ihren Gesprächspartnern – denen die fiction zuteilwird – in der Realität der Handlungswelt der Komödie existieren und sich dort realitätskonform betragen. Sie handeln in den Begegnungsszenen ähnlich wie der komische Held, indem sie mit einer Natürlichkeit wider den Duktus der Komödienwirklichkeit agieren; gleichwohl wird ihnen keine Intrige gespielt, da sie nur kleinere Nebenhandlungen hervorbringen, die ein temporäres Aussetzen der Sujetrealität der Komödie im Sinne einer episodischen Interruption ohne dauerhaften Modifikationsanspruch induzieren. Der Intermezzo-Agon erfährt in diesen Szenen im Gegensatz zu den auf soziale Unwirklichkeit angelegten Zwischenspielen eine unmittelbare Austragung, die an den farcesken Agon erinnert, jedoch im Modus des Übernatürlichen realisiert wird. Die Zuschauer empfinden diesen Ausbruch aus der Handlungswelt als irritierend, nicht aber als störend, weil es sich dabei um Harlekin-Figuren handelt, die in der Handlungswelt den Narren vertreten und außerdem keine Autoritätspersonen darstellen.7 Dennoch heben sich solche Zwischenspiele über ihre Fiktion bewusst von der auf Empirie angelegten Handlungswelt ab, obschon eine enge Anbindung beispielsweise über das gleiche Figurenpersonal oder die Sujetsimilarität erfolgt. Hierbei dominiert die metadramatische Kommunikationsebene, welche die Zuschauer in eine Traumwelt hineinmanövriert.

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

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