Читать книгу Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch - Страница 8

1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie 1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung

Оглавление

Das 17. Jahrhundert gilt als das goldene Zeitalter des Theaters und des Balletts in Frankreich. Diese Blütezeit erklärt sich mit der gesellschaftlichen und politischen Funktion, die diesen Unterhaltungsmedien zuteilwird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass mit dem Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV. im Jahre 1661 nicht nur ein politischer, sondern auch ein gattungstypologischer Umbruch zu verzeichnen ist. Molière läutet am 17. August desselben Jahres im Park des Château de Vaux-le-Vicomte mit Les Fâcheux die Geburtsstunde einer neuen Theaterära ein. Paul Pellissons Prolog zu besagter Ballettkomödie apostrophiert in panegyrischem Gestus die Exklusivität dieser Komposition „[pour] le plus grand Roi du Monde“ (LF, 151):

Faut-il en sa faveur, que la Terre ou que l’Eau

Produisent à vos yeux un spectacle nouveau?

Qu’il parle, ou qu’il souhaite: Il n’est rien d’impossible:

Lui-même n’est-il pas un miracle visible?

[…]

Je vous montre l’exemple, il s’agit de lui plaire,

Quittez pour quelque temps votre forme ordinaire,

Et paraissons ensemble aux yeux des spectateurs,

Pour ce nouveau Théâtre, autant de vrais Acteurs.1

(LF, 151f.)

Diese programmatische Ouvertüre seiner neuen Kulturschöpfung inszeniert Molière archetypisch sowohl mit der Figur des Satyrn, der literaturgeschichtlich als Kulturbringer und Erfinder der Musik gilt, als auch mit der Figur der Najade, die nicht nur als Fruchtbarkeitsgöttin, sondern vor allem aufgrund ihrer prophetischen Kräfte geschätzt wird. Molière sollte diese prophetische Gabe im Sinne seiner artistischen Ausrichtung ebenfalls vergönnt sein. Er wird mit der prunkvollen Inszenierung seiner Ballettkomödie dem Zeitgeist des plaire wie auch dem königlichen Anspruch eines exklusiven Grand Divertissement gerecht, denn bis zu seinem Tode im Jahr 1673 sollte dieser spectacle nouveau zu den beliebtesten Kulturereignissen am französischen Hof werden und maßgeblich die absolutistische Kulturpolitik prägen.2

Doch worin besteht die poetologische und gattungstypologische Neuheit dieser inszenierten Kunstform? Einen zunächst pragmatischen Hinweis scheint der Avertissement zu Les Fâcheux zu geben, in welchem Molière erläutert, wie aus einer Not heraus, die Idee einer Kombination von Komödie und Ballett entstand:

Le dessein était de donner un Ballet aussi; et comme il n’y avait qu’un petit nombre choisi de Danseurs excellents, on fut contraint de séparer les Entrées de ce Ballet, et l’avis fut de les jeter dans les Entractes de la Comédie, afin que ces intervalles donnassent temps aux mêmes Baladins de revenir sous d’autres habits. (LF, 150)

Das schlichte Dazwischenreihen des Balletts stellt den Künstler nicht zufrieden; er erkennt schon frühzeitig, dass die Zusammenfügung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen nur gelingen kann, wenn der Verlauf der Komödie nicht gestört wird und Ballett und Komödie miteinander verschmelzen: „De sorte que pour ne point rompre aussi le fil de la Pièce, par ces manières d’intermèdes, on s’avisa de les coudre au sujet du mieux que l’on put, et de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie.“ (LF, 150)

Die Herausforderung dieses Arrangements besteht darin, sowohl die Dramen- als auch die Sujetstruktur so anzulegen, dass die zwischen den Akten sich ereignenden Intermezzi oder ornements – wie sie Molière zunächst nennt –3 möglichst eng mit der Komödie verbunden werden können, womit ihnen selbst ein Aktionsmoment zugesprochen wird. Obschon die Intermedien für die dramatischen Vorgänge nicht immer zwingend von Belang sind, sind sie dramaturgisch dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Komödienhandlung wirkungsvoll vertiefen und akzentuieren.

Eine weitere ästhetische Anforderung resultiert aus dem inhärenten Anspruch, die drei Künste sowie deren Sprachen im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu harmonisieren. Es handelt sich hierbei nicht nur um die Synchronisierung der Dialogsprache der gespielten Komödie mit der Sprache des Tanzes, sondern auch um die Integration musikalischer Ausdrucksweisen, die häufig Teile der Komödie samt Intermezzi instrumentell unterlegen. Die hohe Einbettung künstlerischer Darstellungen in Form von Gedichtrezitativen, von Gesang- und Tanzepisoden sowie lazzi in die Mikrodramenstruktur4 der Komödie hebt die Ballettkomödie zusätzlich von herkömmlichen Komödien ab. Dieser Sachverhalt lässt erkennen, dass die Mikrostruktur die Makrostruktur des Genres widerspiegelt. Es ist von einer mise-en-abyme-Struktur der Ballettkomödie zu sprechen: Die comédie-ballet definiert sich durch sich selbst.

Die Heterogenität dieser Kunstwerke zeigt sich ebenso in der Problematik ihrer Bezeichnung, in ihrer Klassifikation, die schon zu Molières Zeiten Schwierigkeiten bereitete. So sind zunächst folgende Werkbetitelungen gewählt worden: comédie, comédie mêlée de danses et de musique, comédie mêlée avec une espèce de comédie en musique et ballet, comédie mêlée de musique et d’entrées de ballet, comédie galante mêlée de musique et d’entrées de ballet, ballet et comédie. Unter dem Terminus comédie-ballet lässt Molière nur das Lustspiel Le Bourgeois gentilhomme erscheinen, das in den Literaturkritiken als die Vollendung dieses Komödientypus Beifall findet und dessen Namenskompositum die Einheit der beiden Kunstformen zu erkennen gibt. Der Begriff sollte jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert in der von Marc-Antoine Jolly zusammengestellten Werkedition adaptiert und definitiv für diesen Komödientypus festgelegt werden.5 Es dauert ein weiteres Jahrhundert bis der Begriff in den Dictionnaire de l’Académie française Eingang findet. Die Ballettkomödie wird 1832–1835 in der sechsten Edition des Nachschlagewerkes als Untereintrag zur Komödie angeführt und äußerst rudimentär, ohne Nennung eines repräsentativen Beispiels und Genrevertreters, definiert: „[C]omédie-ballet, se disait autrefois de Certaines comédies dont chaque acte se terminait par un divertissement de danse.“6 Anhand der Vielfältigkeit der ursprünglichen Komödienuntertitel, die unbestritten einen ersichtlicheren Hinweis auf die Spezifität des Genres geben als der Eintrag des Akademiediktionärs, lässt sich die von Molière intendierte Wesensart dieser Kunstwerke herauslesen: Sind es doch Musik, Tanz und Komödie, die das Genre bestimmen und es zugleich als solches definieren – drei Kunstarten verschmolzen zu einer. Hierbei gibt sich das absolutistische Prinzip der discordia concors der Zeit zu erkennen, welches sowohl auf das politische als auch das künstlerische Feld einwirkt.

Strukturell gesehen besteht die Ballettkomödie aus einer binären Anordnung von Komödie und Intermezzo. Alle Einlagen werden in die Komödienhandlung miteinbezogen, worin sich die Ballettkomödie vom einfachen Zwischenspiel unterscheidet.7 Während die Komödie das Ballett integriert, kann die Ballettkomödie als Ganzes selbst im Rahmen der absolutistischen Divertissements überdies in den ballet de cour integriert sein, wie zum Beispiel der Ballet des Muses belegt. Die Intermezzi reichen in der Ballettkomödie von kleinen Sketch-Einlagen, einfachen Tänzen, Pantomimen, Chören, Musikstücken und Rezitationen über Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge sowie Pastoralen bis hin zu den großen karnevalesken Zeremonien der letzten beiden Werke dieses Genres, Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire. Die Tänzer der Hofballette sind in diesen Zwischenspielen allegorische und mythische Figuren, Schäfer in den Pastoralen, Menschen aus dem täglichen Leben und Leute aus den Provinzen oder gar aus exotischem Raum. Das Herausstreichen dieser Episoden – aufgrund aufführungstechnischer Engpässe des Theaters in Paris –8 führte zu einer Deformierung der gesamten Ästhetik und entsprach keineswegs der Absicht des Erfinders: „Ce que je vous dirai, c’est qu’il serait à souhaiter que ces sortes d’ouvrages pussent toujours se montrer à vous [les spectateurs, Anm. S.W.] avec les ornements qui les accompagnent chez le Roi“ (AM, 603), wie Molière im Vorwort zu L’Amour médecin für seine Reprisen ausdrücklich wünscht. Die verkürzten Versionen der comédies-ballets wurden von den Theatergängern nicht immer so euphorisch rezipiert wie die Uraufführungen, da die für den spektakulären Charakter der Ballettkomödien sorgenden Intermezzi fehlten. Zudem widersprechen die modifizierten Komödien ob ihrer defizitären Gestaltung dem Zeitgeist der Klassik, der Unterordnung der Teile unter ein harmonisches Ganzes.9 Anhand der negativen Publikumsreaktionen zu den prunklosen Ersatzvarianten lässt sich der kulturell datierte goût mondain10 rekonstruieren. Jenen trifft Molière nicht nur durch das harmonische Arrangement von Dramen- und Sujetstruktur beider Teile, sondern auch durch die Reichhaltigkeit der szenischen Gesamtrepräsentation, die sich am aufwendigen Bühnenbild, an der opulenten Kostümierung und der hohen Anzahl an Schauspielern, Tänzern und Musikern ablesen lässt. Zudem liegt das Novum des spectacle gerade in der selektiven Rollenbesetzung. Den im Eingangszitat erwähnten „vrais Acteurs“ ist eine doppelte Bedeutung zuzusprechen: Mit der Attribuierung „vrais“ wird nicht nur auf die Professionalität der Berufsschauspieler des Illustre Théâtre angespielt, sondern auch auf den Auftritt einer Gesellschaftselite, die sich in den Ballettkomödien lebensecht als Tänzer und Sänger in Szene setzt. Die großzügige Ausstattung für einen einzigen Festtag steigert neben der Tatsache, dass der König sowie ranghohe Adelige bei der Aufführung als Tänzer mitwirken, den Exklusivitätswert der Uraufführungen ins Unermessliche.11

Diese voropernhafte Inszenierung bedarf zur professionellen Umsetzung eines Expertenteams, das sich aus Jean-Baptiste Lully für die Musik, Pierre Beauchamp für das Ballett, Carlo Vigarani für die Bühnentechnik und Molière als Dramaturg, Regisseur, Schauspieler und Hauptkoordinator zusammensetzt.12 Dieses Künstlerquartett arbeitet in den 1660er Jahren Hand in Hand.13 Molières Dramentexte bilden die Grundlage der Spektakel und bestimmen die thematische Realisierung wie auch den Charakter der Veranstaltungen. Die Beiträge der anderen Künstler komplettieren, bereichern und nuancieren die Theaterstücke mit ihrem jeweiligen Kunsthandwerk. Lullys und Beauchamps künstlerische Individualität und Kreativität beeinflussen die musikalischen und choreografischen Stilmittel – den Einsatz von Ton- und Bewegungssemantik – und prägen in signifikanter Weise die Ästhetik der Zwischenspiele. Ihre Beiträge werden indes in die allgemeine Ökonomie des Schauspiels eingeschrieben und tragen zur Konstruktion der Gesamtbedeutung bei, deren Direktive das Privileg des Bühnenautors ist: Molière erdenkt sich die Totalität des Spektakels und die Integration der Ornamentik entsprechend der dramatischen Progression. Er war bei alldem nicht nur Initiator und Urheber der Ballettkomödie, sein Ableben besiegelt zudem das fast gänzliche Ende der Gattung.14 In diesem Sinne gehört die comédie-ballet zuerst und von Grund auf Molière.15

Bereits vor der Zusammenarbeit mit den genannten Künstlern sammelt Molière in seinem wenig bekanntem Ballett Les Incompatibles16 (1655) erste Erfahrungen in der Koordination von diversen Theatersprachen. Dieses Ballett verfasst und leitet er für den Prince de Conti in Montpellier – noch vor den Aufführungen seiner ersten Komödien in Paris. Das Werk ist in zwei Akte gegliedert, die inhaltlich jeweils mit einer Serie von gegeneinander agierenden Oppositionsfiguren versehen sind; zum Beispiel Un vieillard et deux jeunes hommes im vierten Entree des ersten Aktes oder L’Éloquence et une Harengère im dritten Entree des zweiten Aktes. Die Einheit des Balletts besteht im Sinne der im Titel erwähnten Programmatik im Zusammenbringen von Gegensätzen, um deren Kontrastwirkung theatralisch eindrucksvoll entfalten zu können. Es manifestiert sich schon in diesem simplen Ballett das für Molières Dramaturgie fundamentale Prinzip der komischen Agonik, das er in seinen Ballettkomödien weiter verfeinern und ausbauen wird. Zudem verweist das poetologische Konzept auf die komische Gesinnung seines Tanztheaters: „There are moments of comedy which point to the formidable talent to be displayed in later plays of Molière’s career.“17 Les Incompatibles ist ein experimentierfreudiges Frühwerk des Künstlers, das auf seine weitere Schaffensphase und auf seine späteren Ballettkomödien einen wichtigen Einfluss haben wird.

Aufgrund der von Molière nicht eindeutig mit comédie-ballet etikettierten Theaterstücke ist man sich über die Gesamtzahl der Ballettkomödien bis heute uneinig. In der Regel ergeben sich Probleme bei der Zuordnung der beiden Theaterstücke Mélicerte und Psyché: Es existieren keine genauen Daten hinsichtlich der Uraufführung von Mélicerte, ja es gilt nicht einmal als gesichert, ob dieses Theaterstück überhaupt aufgeführt wurde. Weitere Zweifel ergeben sich dadurch, dass es ein unvollendetes Werk ist, das aus zwei Akten besteht.18 Psyché ist als tragédie-ballet bezeichnet und sollte auch eher als eine Untergattung der Tragödie verstanden werden, weil sich die Balletttragödie sowohl thematisch als auch in ihrer tragischen Ausrichtung strukturell von den anderen Ballettkomödien unterscheidet. Des Weiteren ist anzuführen, dass es sich bei diesem tragédie-ballet um ein dramaturgisches Gemeinschaftswerk von Pierre Corneille, Philippe de Quinault und Molière handelt.19 Demzufolge kann derzeit unter Ausschluss der beiden angeführten Stücke von zwölf molièreschen Ballettkomödien im engeren Sinn ausgegangen werden.

Den zwölf Ballettkomödien entsprechen zwölf Aufführungstage für die jeweiligen Premieren, an denen sie so exklusiv erscheinen, dass ihre Reprisen fast immer Abstriche hinnehmen müssen. Zur Differenzierung werden die Erstaufführungen der zwölf comédies-ballets moliéresques am Hof in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff ‚Dodekameron‘ zusammengefasst. Es handelt sich hierbei um eine Kongruenz von Aufführungstagen und der Anzahl literarischer Werke. Für die anstehende Analyse der Theaterstücke ist es dienlich, sich dem idealen Aufführungsgeschehen weitestgehend anzunähern und dieses erscheint mir in den Aufführungsbedingungen des Dodekamerons am besten verwirklicht zu sein. Schließlich die Ballettkomödien in chronologischer Reihenfolge: Les Fâcheux (1661), Le Mariage forcé (1664), La Princesse d’Élide (1664), L’Amour médecin (1665), La Pastorale Comique (1667), Le Sicilien, ou l’Amour peintre (1667), George Dandin ou le Mari confondu (1668), Monsieur de Pourceaugnac (1669), Les Amants magnifiques (1670), Le Bourgeois gentilhomme (1670), La Comtesse d’Escarbagnas (1671) und Le Malade imaginaire (167420).

Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

Подняться наверх