Читать книгу Machtästhetik in Molières Ballettkomödien - Stefan Wasserbäch - Страница 16
1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft
ОглавлениеDie aus einer Gattungsfusion entstehende neue Gattung charakterisiert sich aufgrund ihrer diversen Einflüsse durch ihr hybrides Substrat. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wo die Ballettkomödie innerhalb der Gattungslandschaft zu situieren ist. Die neue Künstepluralität bringt die Theaterinszenierungen der damaligen Zeit an ihre Gattungsgrenzen, was sich im dargestellten Denominationschaos teilweise noch heute reflektiert; sie durchbricht habitualisierte Wahrnehmungsformen und Gattungsschemata. Aufgrund dieser Grenzsituation ist der Übergang zur Oper sicherlich fließend und die Ballettkomödie wird unter diachronem Gattungsaspekt als Vorform der französischen Oper bezeichnet.1 Obschon sich die Oper durch eine Multimedialität definiert, erscheint es sinnvoll, die comédie-ballet der Dramatik und damit dem Sprechtheater zuzuordnen. Diese Klassifikation begründet sich nicht nur ob ihrer historischen Tradition, sondern auch ob der Einteilung der unterschiedlichen Theatergattungen nach der Repräsentationsart des zentralen Trägers, dem überwiegend sprechenden, singenden oder tanzenden Darsteller. Demzufolge gehört die Ballettkomödie zum Sprechtheater und die Oper zum Musiktheater. Das Kriterium der Hauptrepräsentationsart zeigt zudem, dass die Verortung der Ballettkomödie innerhalb des Tanztheaters auszuschließen ist, wobei die Balletteinlagen allein betrachtet ausschließlich diesem Theatertypus zuzuordnen wären. Molières Bezeichnung seiner Intermedien als ornements verrät in gleichem Maße, dass das Wesentliche der Ballettkomödie die Komödie bleibt, der dramatische Dialog. Die zeitgenössische Aufführungspraxis zeigt darüber hinaus, dass die musikalischen und tänzerischen Intermedien häufig gestrichen wurden. Der zentrale Angelpunkt des Multimediaspektakels ist sonach die Komödie, die im Gegensatz zu den Intermedien immer inszeniert wurde. Der Hybridität der comédie-ballet geschuldet handelt es sich nicht um die reinste Form des Sprechtheaters, da die Künstepluralität die Klassifizierung der Ballettkomödie als einfaches Sprechtheater ebendieses an seine Einteilungsgemarkung stoßen lässt und es in die Nähe von Musik- oder auch Tanztheater bringt. Die mediale Trias ermöglicht eine individuelle Mischung, die die einzelnen Ballettkomödien zu autonomen Unikaten künstlerischen Ausdrucks macht; die Ballettkomödie definiert sich als Gattung durch die Mischung ihrer Repräsentationsarten.
An dieser Stelle ist noch explizit auf die hierarchische Verortung der Ballettkomödie innerhalb der Gattung der Dramatik einzugehen. Diese literarische Hauptgattung verzweigt sich in der französischen Klassik grundlegend in Tragödie und Komödie,2 eine Differenzierung, die ihrerseits variable Gestaltungsmöglichkeiten in sich birgt. Die herausgearbeiteten Elemente zur Gattungspoetik lassen erkennen, dass sich die Ballettkomödie als Subgattung der Komödie verstehen lässt. Die paradigmatische, serielle Struktur der Komödie erleichtert die Einbindung der Intermedien.
Weitere Probleme bei der Klassifizierung des Genres ergeben sich aus seiner Thematik, da die Untergattungen zumeist am Komödiensujet und nicht an ihrer medialen Struktur gemessen werden. Streng genommen müsste man deshalb die meisten Ballettkomödien ebenso als Charakterkomödien bezeichnen, um ihre Sujetstruktur entsprechend zu respektieren, wenn eine comédie de caractère folgendermaßen zu definieren ist: „Pièce, genre, où l’auteur met en lumière en les exagérant certains travers de ses personnages et, à partir d’eux, de la société.“3 Die komischen Helden der Komödien sind sozial besetzt und daher keine Typen, da sie dank einer Fülle von Details in ihrer Zeit verwurzelt sind.
Vor dem Hintergrund des Gesagten scheint es angebracht, beim Dodekameron vorrangig von Ballettkomödien zu sprechen und erst an zweiter Stelle von Charakterkomödien, da es sich bei beiden Subgattungen der Komödie um unterschiedliche Komikästhetiken und mediale Strukturen handelt, die selbst dann nicht pauschalisiert werden sollten, wenn sie inhaltlich ähnlich strukturiert sind. Ferner ist die Entwicklung von der Komödie zur Ballettkomödie im Rahmen von Molières Gesamtwerk als eine Reflexion über die Grenzen der klassischen Komödie im normativen und unangreifbaren Regeldiskurs des zeitgenössischen Gattungsspektrums zu verstehen. Die heutzutage als große Leistungen des 17. Jahrhunderts erscheinenden Sprachkunstwerke, zu denen Molières Ballettkomödien unzweifelhaft hinzuzuzählen sind, entstanden gerade durch eine Transgression der engen Gattungsgrenzen, wie Reinhard Krüger feststellt.4
Die französische Bezeichnung comédie-ballet spiegelt die Zugehörigkeit und Spezifität der Untergattung stärker wider als das deutsche Kompositum. Diese Zuordnung wertet den Dramentext in seiner Gesamtheit auf und somit auch die schriftstellerischen Qualitäten Molières, die teils in den Schatten der Gesamtdarstellung rücken, weil man bei den Ballettkomödien den Eventmanager gern vor dem Poeten sieht:
Toute la richesse de ce genre de spectacle tient dans sa représentation. [L]a comédie de Molière est d’une autre essence. Le poète y domine, il n’est jamais à ce point assujetti au peintre, au machiniste, au danseur ou au musicien. Et si sur la fin de sa carrière il songe davantage à satisfaire la vue et l’ouïe de son public, cette promotion du spectaculaire, accomplie dans un esprit de recherche et dans l’espoir de parvenir à un art total et multidimensionnel, ne nuit en rien à la suprématie de son texte.5
Zusammenfassend kann am Ende dieses Kapitels eine Gattungsdefinition der comédie-ballet von Molière gegeben werden. Die Ballettkomödie ist zunächst und vor allem ein fester Bestandteil absolutistischer Kulturpolitik und reflektiert in ihrer Eigentümlichkeit den goût mondain. Die Originalität der Subgattung der Komödie zeigt sich überdies darin, dass in den Verlauf der Geschichte musikalische und tänzerische Intermedien eingearbeitet sind. Sie sind kunstvoll mit der Komödie sowohl über die Dramen- als auch die Sujetstruktur verzahnt und treten in der Regel um die Akte herum auf, sodass sie als dramatisierte und theatralisierte ornements satellites essentiels der Komödie zu begreifen sind. Hierzu zählen kleine Sketch-Einlagen, einfache Tänze, Pantomimen, Chöre, Musikstücke, Rezitationen/Allegorien, Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge, bukolische Pastoralen und große karnevaleske Zeremonien. Das szenische Bühnenbild der comédie-ballet ist äußerst dynamisch und alterniert zwischen Komödie und Ballett. Das Totaltheater zeichnet sich durch einen nouveau langage théâtral aus, der eine gattungsspezifische Organisationsform von Kommunikationsprozessen generiert. Dieses neue Intermedialitätskonzept umfasst die drei Ausdrucksformen Sprache, Musik und Tanz und evoziert eine innovative Komikästhetik im klassischen Theater. Aufgrund ihrer Familienähnlichkeit sind Molières zwölf Ballettkomödien unter dem Begriff des Dodekamerons zusammenzufassen.