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GRUNDLAGEN DES LEBENS: BINDUNG UND AUTONOMIE

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Ob du es willst oder nicht, ob du es so gewählt hast oder nicht, ob du es dir zutraust oder nicht – mit dem Tag der Zeugung deines Kindes, spätestens mit dem Tag der Geburt, bist du eine Beziehung eingegangen. Sobald das Baby auf der Welt ist, hast du die Erziehungsverantwortung für ein kleines Menschenkind. Als Mutter oder Vater müssen wir keinen Erziehungsführerschein machen. Kein Mensch prüft, ob wir für die Aufgabe »Kindergroßziehen« geeignet sind. Man macht es eben, so gut wie man kann und vielfach auch wirklich gut.

Dennoch ist es genau dieses intuitive Tun, welches auch unseren unbewussten Programmen und Verhaltensmustern Tür und Tor öffnet. Man kann gar nicht überschätzen, wie sehr unsere Lebenserfahrungen unsere Sicht auf die Wirklichkeit – und somit auch auf unsere Kinder – beeinflussen. Beispielsweise wirken unsere frühen Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern wie eine Blaupause für alle weiteren Beziehungen in unserem Leben. Mit allen guten und weniger guten Facetten. Meist geschieht dies völlig unbewusst. Wenn wir als Kinder zum Beispiel gelernt haben, immer vorsichtig zu sein, weil uns sonst etwas passieren könnte, werden wir höchstwahrscheinlich diese latente Lebensangst auch an unsere Kinder weitergeben. Je genauer wir erkennen, was uns geprägt hat, desto besser können wir als Erwachsene frei darüber entscheiden, was wir als richtig und falsch empfinden. Wir sind dann sozusagen nicht mehr die Sklaven unserer unbewusst erlernten Verhaltensmuster und Einstellungen, sondern können frei wählen.

Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass wir intuitiv wissen sollten, wie man einen kleinen Menschen großzieht, und sprechen dann gern vom elterlichen Bauchgefühl.

Um selbstbestimmter, gezielter und entspannter erziehen zu können, wollen wir uns die tragenden Säulen der Beziehungsfähigkeit einmal genauer anschauen. Die zwei wichtigsten Grundbedürfnisse in unserem Leben sind:

 das nach Zugehörigkeit-Bindung auf der einen Seite

 und das nach Autonomie-Selbstständigkeit auf der anderen.

Wie gut wir diese Bedürfnisse leben können, hängt zu Beginn unseres Lebens vor allem von unseren nächsten Bezugspersonen ab – meist sind dies unsere Eltern.

Die Art und Weise, wie unsere Eltern mit uns umgehen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Wir Menschen kommen nämlich mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt. In den ersten sechs Jahren unseres Lebens entwickelt es sich ganz gewaltig. Diese Entwicklung verläuft in einem engen Wechselspiel mit unserer Umwelt. Alles, was wir in dieser Zeit lernen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Unsere Nervenzellen verknüpfen sich zu riesigen Datenautobahnen, grundlegende Verhaltens-, Fühl- und Denkmuster werden geprägt. Die ersten Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern programmieren unser Gehirn in Sachen Beziehungen. Aus diesem Grund sind die ersten Lebensjahre so besonders prägend für unser gesamtes Dasein. So erwerben wir auch in den ersten zwei Lebensjahren das sogenannte Urvertrauen. Menschen mit Urvertrauen können in sich selbst vertrauen und zudem ein grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen aufbringen. Sie haben in der Beziehung zu ihren ersten Bezugspersonen gelernt, dass Bindung und Autonomie gut nebeneinanderstehen können. Diese Gewissheit ist in ihrem Gehirn tief verankert und schenkt ihnen ein Gefühl von innerer Sicherheit und Selbstvertrauen.

Wir Menschen brauchen zum Überleben sowohl Bindung als auch Eigenständigkeit. Das gilt für Väter, Mütter und Kinder gleichermaßen.

In unseren ersten zwei Lebensjahren ist die Beziehung zu unseren Eltern sehr körpernah. Hier geht es ums Wickeln, Getragenwerden, Baden, Anziehen, Füttern und Schmusen. Wir erleben also mit und durch unseren ganzen Körper, ob wir angenommen und geliebt werden. Deswegen speichert sich das Urvertrauen nicht nur im Gehirn, sondern auch als eine tiefe körperliche Empfindung ab, als ein Gefühl, das man mit: »Ich bin okay! Ich bin willkommen!« beschreiben könnte.

Am Anfang unserer Entwicklung steht die Bindung absolut im Vordergrund. Im Mutterleib sind wir völlig gebunden und verfügen über null Autonomie. Dann kommen wir auf die Welt und werden entbunden. Finden wir in dieser neuen Welt keine Bindungsperson, die sich unserer erbarmt, dann sterben wir.

Aber wir kommen nicht nur mit einem angeborenen Bindungswunsch auf die Welt, sondern auch mit einem angeborenen Erkundungsdrang. Wir wollen uns zu selbstständigen Menschen entwickeln. Kleine Kinder sind unheimlich stolz, wenn sie etwas ohne die Hilfe von Mama und Papa hinkriegen. Der Ausruf »Selber machen!« gehört bei vielen kleinen Kindern zum frühen Wortschatz.

Das Bedürfnis nach Bindung ist ein existenzielles psychisches Grundbedürfnis, das genetisch tief in uns verankert ist.

Unsere ganze Entwicklung richtet sich also darauf aus, dass wir einerseits immer mehr Fähigkeiten erwerben, um uns binden zu können, und andererseits immer selbstständiger und autonomer werden. So ist der Säugling am Anfang völlig davon abhängig, dass er versorgt wird, und die einzige autonome Handlung, über die er verfügt, ist Schreien. Man kann sich vorstellen, welche tiefe Erfahrung von Ohnmacht und abgrundtiefer Verlassenheit ein Säugling macht, wenn auf sein Schreien selten oder mit Wut reagiert wird.

In seiner weiteren Entwicklung erwirbt das kleine Kind immer mehr Autonomie: Es lernt Krabbeln, Laufen, Sprechen und seine Fähigkeiten bauen sich immer mehr aus, sodass es, wenn alles gut läuft, als junger Erwachsener ohne seine Eltern klarkommt. Entsprechend erweitert sich auch seine Bindungsfähigkeit: Am Anfang haben Säuglinge eine symbiotische Beziehung zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Dann rücken die Geschwister und andere Verwandte ins Blickfeld. Mit dem Kindergarten und der Schule erweitert sich der Bezugsrahmen des Kindes immer mehr und es lernt nach und nach, verschiedene Arten von Beziehungen zu gestalten. In der Pubertät werden dann zumeist die ersten Liebesversuche gestartet.

Durch Vernachlässigung und Aggression können sich im Gehirn des Säuglings bereits in den ersten Wochen traumatische Erlebnisse von Verlassenheit, Angst und Ohnmacht eingraben.

Bindung und Autonomie sind eng ineinander verschränkt und stellen zwei Seiten einer Medaille dar. Wenn ein Kind beispielsweise vernachlässigt wird und deshalb keine sichere Bindung zu seinen Eltern entwickelt, dann wird es auch in seiner autonomen Entwicklung gestört. Es kann sein, dass es übermäßig anhänglich wird, weil es immer Angst um die Bindung hat. Manche Kinder, die keine sichere Bindung erfahren haben, können bei ihren autonomen Bestrebungen Gefahren nicht richtig einschätzen. Sie gefährden sich selbst und verunfallen sogar. Normalerweise schaut ein kleines Kind noch einmal kurz zu seinen Eltern, bevor es sich wegbewegt. Es fragt mit seinem Blick: »Ist alles okay?« Greift die Bezugsperson nicht ein, weiß es: »Dann kann es losgehen.« Vernachlässigten Kindern fehlt diese Rückendeckung, infolgedessen können sie auch im späteren Leben Risiken weniger gut einschätzen. Die Bindung ist das Fundament von allem – und wenn dieses wackelt, dann wackelt auch alles, was auf ihm aufbaut. So wird das vernachlässigte Kind also nicht nur ein Defizit an Bindung haben, sondern kann auch keine gesunde autonome Entwicklung vollziehen. Es kann sich also zu einem Menschen entwickeln, der zu autonom ist, der also möglichst keinem vertraut und großen Wert darauf legt, allein zurechtzukommen. Oder es entwickelt sich zu einem Menschen, der zu wenig autonom ist, also einem Menschen, der immer andere benötigt, die ihm Entscheidungen abnehmen und ihn bildlich gesprochen »an die Hand nehmen und durchs Leben führen«.

Wir möchten in unserem Buch das fragile Gleichgewicht von Bindung und Autonomie, das wir in diesem Kapitel angerissen haben, durchleuchten und zu einem tieferen Verständnis für dieses existenzielle Wechselspiel führen. Außerdem möchten wir dir zeigen, wie du eine gute Balance zwischen Bindung und Autonomie in all deinen Beziehungen leben und gestalten kannst, damit deine Kinder diese ebenfalls erwerben.

Nestwärme, die Flügel verleiht

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