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LERNEN IN DER DOPPELSTRUKTUR

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Unsere Erfahrungen mit unseren Eltern sind durch eine Art doppeltes Erleben geprägt. Wir lernen sozusagen die zwei Seiten einer Medaille gleichzeitig kennen: Einerseits sind wir »Opfer« oder, neutraler ausgedrückt, »Empfänger« der Erziehungsbemühungen unserer Eltern. Andererseits lernen wir auch, wie es ist, »Täter« beziehungsweise »Erziehungsausübender« zu sein, weil die Eltern automatisch auch unser Vorbild sind, wenn wir selbst einmal Kinder haben. Wir spüren beispielsweise als Kind, wie schlimm es ist, von den Eltern beschimpft zu werden, wenn sie uns richtig anmeckern. Trotzdem lernen wir in dieser Situation beiläufig, am Vorbild unserer Eltern, »die Kunst« der Beschimpfung. Beides ist in uns abgespeichert. Unbewusst lernen wir also in einer Doppelstruktur. Auf der einen Seite sind wir als Kind Empfänger der Erziehungsbotschaft unserer Eltern und auf der anderen Seite lernen wir von ihnen zugleich, wie die Elternrolle auszufüllen ist. Als Kinder können wir uns gegen diese doppelte Botschaft nicht wehren. Unsere Eltern sind unser Kosmos, unser erster Einfluss und unsere große Liebe. Und sogar, wenn wir ganz bewusst entscheiden: »Ich mache es NIEMALS wie meine Eltern«, klappt das häufig nur für eine gewisse Zeit. Unter Druck oder in besonders stressigen Situationen verfallen wir in die gelernten Muster. Denn auch wenn wir noch so sehr in den Widerstand gehen, ist diese Doppelprägung in uns verankert und blitzt immer wieder durch. Es kann aber auch passieren, dass wir, im festen Vorsatz, es niemals zu machen wie unsere Eltern, in ein extremes Gegenteil verfallen und hierdurch vielleicht »zu viel des Guten« tun. Fühlten wir uns möglicherweise daheim vernachlässigt, neigen wir in diesem Fall zur Überbehütung unserer Kinder.

Genau aus diesem Grund ermöglicht uns erst ein tieferes Durchdringen der eigenen Geschichte, freier zu sein und die Weitergabe unglücklicher Familienmuster nachhaltig zu durchbrechen.

Dabei muss die Kindheit gar nicht schlecht gewesen sein: Die meisten Menschen haben auch viel Schönes mit ihren Eltern erlebt, das sie gern an ihre Kinder weitergeben. Aber jeder hat auch ein kleines oder sogar größeres Päckchen von negativen Prägungen aus der Kindheit zu tragen. Es gibt nämlich keine perfekten Eltern. Und wenn sie perfekt wären, wäre es vielleicht auch nicht so toll. Wer will schon perfekte Eltern haben?

Jeder von uns weist auch Kindheitsprägungen auf, die nicht so günstig sind. Und je bewusster wir uns dieser problematischen Prägungen sind, desto weniger laufen wir Gefahr, diese an unsere Kinder weiterzugeben. Dies sehen wir immer wieder bei unseren Klienten, die so mutig sind, sich mit ihren eigenen Geschichten zu konfrontieren, und so den Weg dafür ebnen, dass ihre Kinder bessere Erfahrungen machen dürfen als sie selbst. Zudem ist dein Kind anders, als du es warst. Es braucht vielleicht etwas ganz anderes, als für dich selbst in deiner Kindheit wichtig war. Vielleicht mehr Zuwendung, vielleicht mehr Freiheit, vielleicht mehr Grenzen. Die Fähigkeit, dies zu sehen, dein Kind in seiner Persönlichkeit zu akzeptieren und darauf einzugehen, erlangst du nur, wenn du den Autopiloten und die Prägungen deiner Herkunftsfamilie erkennst und durchbrichst.

Nestwärme, die Flügel verleiht

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