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KINDER TUN ALLES, UM GELIEBT ZU WERDEN

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Man kann sich leicht vorstellen, dass in der langen Zeit des Aufwachsens einiges in der Interaktion zwischen Eltern und Kind schiefgehen kann. Manche Eltern sind überfordert und können dem Kind nicht die Zuneigung und Fürsorge gewähren, die es benötigt. Sie können also den Bindungswunsch ihres Kindes nicht wirklich befriedigen. In diesem Fall wird sich das Kind bemühen, seinen Eltern zu gefallen, damit die Eltern es annehmen oder es wenigstens nicht bestrafen. Kinder sind abhängig von ihren Eltern und tun alles dafür, um von ihnen geliebt zu werden.

Sind Eltern – aus welchen Gründen auch immer – damit überfordert, ihrem Kind ein sicheres Bindungsgefühl zu vermitteln, dann übernimmt dieses die Verantwortung für eine gelingende Beziehung zu seinen Eltern.

Dieser Prozess kann schon sehr früh in der Entwicklung eines Kindes einsetzen. So konnte man im Rahmen einer bewegenden Studie schon bei eineinhalb Monate alten Säuglingen feststellen, dass sie bemüht waren, es ihren Müttern recht zu machen. Für diese Untersuchung filmte man das Zusammensein bindungsgestörter Mütter mit ihren Säuglingen. In der Videoauswertung konnte man beobachten, dass Säuglinge ihre Mütter anlächelten, wenn sie zu ihnen schauten. Blickten die Mütter hingegen in eine andere Richtung, dann bekamen die Säuglinge einen verlorenen, eingefroren wirkenden Gesichtsausdruck. Das heißt, sie wussten auf einer tiefen, intuitiven Ebene: »Ich muss die Mama bei Laune halten, sonst geht das hier schief.« Sie spürten offensichtlich, dass es für sie um Leben und Tod ging. Ein sechs Wochen alter Säugling hatte also bereits die Verantwortung dafür übernommen, dass seine Beziehung zur Mutter gelingt.

Manchen Eltern gelingt es dagegen sehr gut, die Bindungsbedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen, aber es fällt ihnen schwer, das Kind loszulassen. Sie fühlen sich am wohlsten, wenn das Kind in ihrer Nähe ist. Einige tun dies auch aus der Sorge heraus, dass ihm etwas zustoßen könnte. Sie überbehüten es und binden es zu eng an sich.

Es kann auch vorkommen, dass die Eltern Probleme haben, sodass sie keine Bindung aufbauen können. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Mutter oder Vater an einem großen Kummer leiden, vielleicht sogar an einer Depression. Das Kind spürt dies sehr genau und kein Kind möchte seine Mama traurig erleben. Deswegen übernehmen Kinder auch in solchen Fällen die Verantwortung für die Mutter oder den Vater und bleiben beispielsweise öfter daheim, um das Elternteil glücklich zu machen, anstatt mit anderen Kindern zu spielen. Das Kind opfert also einen Teil seiner Autonomie, um den Kummer der Mutter oder des Vaters zu lindern.

Nehmen wir einmal an, eine Mutter – wir nennen sie Sabine – hat einen gravierenden Mangel an Zuneigung in ihrer Kindheit erlitten. Sie hat sich also einen leichten »Bindungsschaden« zugezogen. Dann benötigt Sabine möglicherweise ihren kleinen Sohn Leon, um diesen Mangel zu kompensieren. Es ist ihr vermutlich nicht bewusst, aber ihre große Zuneigung und ihr Wunsch nach Nähe zu ihrem Kind hat letztlich damit zu tun, dass Leon für sie die Funktion hat, ihre Sehnsucht nach Liebe und Nähe zu stillen. Am liebsten würde Sabine ihren süßen Sohn ständig im Arm halten und knuddeln. Leon will aber nicht ständig beschmust werden. Da er nun aber sehr klein ist, kann er sich gar nicht gegen die Schmuseattacken seiner Mutter wehren, sondern muss sie über sich ergehen lassen. Für Leon bedeutet dies, dass er seine Autonomie, also seinen Wunsch nach etwas Luft und Freiraum, opfern muss, um die Nähebedürfnisse seiner Mutter auszuhalten. Vor allem, wenn Sabine ihr Verhalten beibehält und sie immer mehr Nähe haben will als ihr Sohn, dann wird Leon dies als tiefe Prägung mit in sein Erwachsenenalter übernehmen. Sein Gehirn wird Liebe und Bindung immer mit Näheüberflutung und Gefangensein assoziieren. Als Erwachsener wird er Schwierigkeiten haben, sich auf eine nahe Liebesbeziehung einlassen zu können, weil er bei seiner Mutter nicht gelernt hat, dass er sich in gesunder Weise abgrenzen kann. Hat Sabine also in der Beziehung zu ihrer Mutter einen »Bindungsschaden« durch ein Zuwenig an Zuwendung erlitten, so erleidet Leon einen durch ein Zuviel an Zuwendung.

Hier sieht man, wie Kinder und Eltern sich in ihren Bedürfnissen miteinander verweben – und wie die Bedürfnisse der Eltern sich mit denen der Kinder vermischen können.

Übrigens könnte Sabine den »Bindungsschaden« für ihren Sohn vermeiden, wenn sie einfühlsamer auf dessen Signale achten würde. So hat Leon bereits als Baby beispielsweise öfter sein Köpfchen weggedreht, wenn Sabine nach ihm greifen wollte. Hierdurch hat er im Rahmen seiner bescheidenen Fähigkeiten signalisiert, dass er seine Ruhe haben möchte. Leider hat Sabine jedoch seine Signale damals zu oft übersehen. Sie müsste in einem ersten Schritt erkennen, dass sie selbst es ist, die die Nähe braucht – und nicht Leon. Dann könnte sie üben, die Distanzsignale ihres Kindes zu bemerken und ihren eigenen Nähewunsch für diesen Moment zurückzustellen. Man sieht schon: Es braucht eine gewisse Selbstreflexion, um sich selbst auf die Schliche zu kommen. Doch die Mühe lohnt: Zahlreiche Studien haben ergeben, dass das elterliche Einfühlungsvermögen das Königskriterium für Erziehungskompetenz ist. Hierauf werden wir in späteren Abschnitten noch ausführlich eingehen.

Nestwärme, die Flügel verleiht

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