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DER ERSTE VERSUCH

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Ich weiß es noch ganz genau. Es war der letzte Schultag vor den Sommerferien. Ich hätte also die Praxis innerhalb eines Schulhalbjahres geschafft. Die Tage davor waren eine einzige Qual. Meine Gedanken kreisten immer wieder um dieses eine Thema. Ich war machtlos dagegen. Alle Ablenkungsversuche schlugen fehl.

Dabei ging es für mich über den Führerschein hinaus auch noch um das Bestehen des Schuljahres. Ich quälte mich schon zum zweiten Mal durch die elfte Klasse. Ich musste also die Versetzung schaffen, um am Leibniz überhaupt das Abitur machen zu dürfen. Oft habe ich gedacht, ich bekomme das nicht geregelt. Ich fühlte mich schwach und antriebslos. Und in so einer Situation sollte ich nun einem wildfremden Menschen beweisen, dass ich einen handelsüblichen Wagen sicher durch die Straßen Berlins führen im Stande bin?

Ich hatte mich für diesen Tag beurlauben lassen müssen. Das war schon eine ziemlich auffällige Angelegenheit, weil ich äußerst selten in der Schule gefehlt hatte. Schon allein das hat wahrscheinlich Aufmerksamkeit ausgelöst. Gerade bei der Zeugnisvergabe ist es sehr selten, dass einer fehlt. Da musste ich nun wohl oder übel wohl durch.

Ich kam morgens so gegen 8.30 Uhr in der Fahrschule an- um 9.30 Uhr sollte es losgehen. Bei meiner Fahrschule war es so üblich, dass der Prüfer selbst in die Fahrschule kommt und dort gleich mehrere Kandidaten hintereinander prüft, den ganzen lieben langen Tag lang. Daher konnte ich den Termin auch schlecht verschieben oder gar selbst bestimmen. Auf diese Weise verbringt der Prüfer dann einen ganzen Arbeitstag in der gleichen Fahrschule. Ich war der dritte oder vierte Kandidat von meinem Fahrlehrer. Es war ganz schön was los. Es ging zu wie im Taubenschlag. Ständig kamen Leute entweder um sich zur Prüfung zu melden oder der Freundin viel Glück zu wünschen oder die letzte Zigarette gemeinsam vor dem großen Augenblick zu rauchen. Einige versuchten sogar mit dem Prüfer zu flirten. Erfolglos. Nicht unbedingt förderlich für mein Wohlbefinden. Aber was blieb mir anderes übrig als es wortlos hinzunehmen und auf meinen großen Moment zu warten.

Einige, die es bereits geschafft hatten, feierten schon. Andere, die das noch vor sich hatten, rauchten und versuchten sich anderweitig zu beruhigen. Ständig wurden irgendwelche Unterschriften von uns verlangt, dessen Gründe ich nicht verstand, weil es mir unmöglich war, in so einer Situation mich auf irgendeinen Text zu konzentrieren. Ich vertraute voll auf meinen Fahrtrainer. Zugegeben- jeder noch so unfähige Betrüger hätte da leichtes Spiel mit mir gehabt. Immer wieder ging ich vor meinem geistigen Auge alle möglichen und unmöglichen Situationen durch, die mir unter Umständen in der Prüfung begegnen könnten.

Nach jeder Prüfung überfiel den Prüfer scheinbar einen riesigen Kaffee- Durst. So verschwanden die jeweiligen Verkehrs- Pauker, die Sekretärin und die „königliche Prüfungs- Eminenz“ in dem Kabuff, in dem ich meine theoretische Vorprüfung gemacht hatte. Diese Audienz konnte bis zu einer geschlagenen Viertelstunde gehen. Das hatte man wohl bei der Planung dieses Tages übersehen. Folglich bildete sich schon fast eine Art Schlange von prüfungswilligen Fahranfängern. Die zusätzliche Wartezeit betrug bei mir über eine Stunde. Dabei bin ich noch gut bei weggekommen- wie man mich später wissen ließ. Demnach entsteht immer an Prüfungstagen so ein Chaos. Sehr interessant. Kurz und gut: Es kamen auf mich die grausamsten zwei Wartestunden zu. Noch nie vorher in meinem Leben wurde meine Geduld so auf die Probe gestellt. Glücklicherweise ist mir mein Geduldsfaden nicht gerissen. Da konnte ich schon mächtig stolz drauf sein.

Endlich nach zwei mal 60 Minuten Verspätung tuckerte auch ich in meine fahrerische Generalprobe hinein. Von unserem verkehrsberuhigten Bereich hinaus in die weite, weite Welt voller Gefahren. Wie immer fuhren wir die gleichen Strecken. Das war mir schon vorher aufgefallen. Sogleich erfuhr ich den möglichen Grund. Der, der mich bis zu diesem Moment im Auto begleitet hatte, verriet mir, dass er selbst wahrscheinlich in der Prüfung die Richtung ansagen wird. Ach so, dachte ich bei mir, vielleicht fahren wir dann jetzt die Prüfungsstrecke, damit ich sie schon mal vorab einprägen kann. Aber das wäre ja dann keine richtige Prüfung. Geradezu langweilig. Ansonsten verlief das Einfahren ohne nennenswerte Zwischenfälle. Ich war erleichtert und zuversichtlich.

Während wir wieder unser „Fahrlerner- Zuhause“ ansteuerten erzählte mir mein lebender Wegweiser, dass einer seiner Schüler heute wegen einer roten Ampel durchgefallen sei. Das kann mir doch nicht passieren, waren meine Gedanken.

In der Führerschein-Vergabe- Stelle des damaligen Tages angekommen, trat mir ein wirklich ekelhafter Typ entgegen und stellte sich mir als meinen Prüfer „So und so“ vor. So ein häßlicher Typ mit widerlichem Gesichtsausdruck, der sich daran „aufgeilt“ oder sein verkorkstes Ego aufpoliert andere in den Dreck zu ziehen oder eben durch die Prüfung fallen zu lassen. „Schreck, lass bitte schnellsten nach“, so meine Gedanken. Der saß fast so wie ein K.o.- Schlag. Nun hieß es locker und freundlich zu bleiben. „Bloß nicht die werte Prüfungs-Eminenz verärgern“, wurde spontan zu meinem Prüfungsmantra. Ich gab brav die Hand und stammelte meinen Namen. Meine Stimme war durch den Schreck in Mitleidenschaft gezogen worden. Das schien niemanden zu interessieren, zum Glück,

Wir stiegen ein und der Prüfer ratterte zum dutzenden Mal die wichtigen Sachen herunter, über die unbedingt noch vor Prüfungsbeginn aufgeklärt werden musste, damit ich hinterher das Ergebnis auf gar keinen Fall gerichtlich anfechten kann. Den genauen Wortlaut kann ich leider nicht mehr wiedergeben. Es fühlte sich wie das Plädoyer des Staatsanwaltes vor der Urteilsverkündung an.

Dann drehte ich den Schlüssel um, der Wagen setzte sich durch Treten von Kupplung und Gas in Bewegung und mir stand meine erste echte Prüfung, von der Theorie mal abgesehen, des Lebens bevor, in der es wirklich um etwas ging. Meine Aufregung war unbeschreiblich hoch. „Augen zu und durch.“

Zuerst ging es die mir wohlbekannte Hermannstraße hoch, die ich bereits ausführlichst wegen ihrer unübertrefflichen Unübersichtlichkeit beschrieben habe. Nicht nur, dass diese Straße auch für Autofahrer extrem steil ist, macht sie auch noch einen seichten kaum wahrnehmbaren Schlenker nach links. Das ist die Tücke bei dieser Straße in Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg. Wenn es denn sein muss- dann musste es wohl sein. Lebend oben angekommen, sollte ich zweimal links abbiegen. Nach dem zweiten Abbiegen kam ich auf eine dreiarmige Kreuzung zu. Mitten auf dieser Kreuzung befand sich ein Hindernis. Von einem Rechtsdrall befallen, wollte ich natürlich rechts um das Hindernis herumfahren- zumal ich geradeaus fahren sollte. Das war wohl falsch. Mit heftig gestikulierenden Armen wollte mich mein Beifahrer auf den Fehler aufmerksam machen. Ich verstand ihn nicht. Da auf dem Hindernis kein Pfeil stand, hätte ich unter der Berücksichtigung von „Rechts vor links“ einfach „schnurstacks“ weiter meiner Nase folgen müssen. Da ich nun allerdings rechts um das Hindernis herum gefahren bin, habe ich mich selbst in eine recht ungünstige Lage manövriert. Die Straße, in die ich nun rechts einbiegen musste, war sehr schlecht einzusehen. Zu meinem großem Pech wollte zu diesem Zeitpunkt auch noch von meiner Rechten ein Lkw in meine Straße nach links einbiegen. Diesem habe ich dann total den Weg versperrt. Das war schon der erste fette Minuspunkt. Jetzt kam es darauf an eine einwandfreie Weiterfahrt zu liefern. Ich kämpfte, was das Auto und meine Nerven hergaben. Schließlich wird einem der Führerschein nicht geschenkt. Jedoch dachte ich zu diesem Zeitpunkt in meinem jugendlichen Leichtsinn noch gar nicht ans Durchfallen. Denn in Klausuren waren auch Fehler erlaubt- ohne, dass man gleich eine Fünf verpasst bekommt. Relativ entspannt fuhr ich weiter. Die Herren im Wagen waren schon wieder in Gespräch verwickelt. Einige Zeit später lautete mein Auftrag einparken- in einer 30er- Zone. Das klappte allen meinen Befürchtungen zum Trotz super. Da hatten sich die quälenden Fahrstunden des Einparkens doch ausgezahlt. Auf einer 50er- Straße waren noch Spurenwechsel gefordert. Alles „paletti“ meines Ermessen nach.

Dann geschah etwas, was man eigentlich keinem Fahrschüler zumuten sollte. Zur besten Schulschluß- Zeit sollte ich meinen fahrbaren Untersatz direkt vor meiner Schule ordnungsgemäß abstellen. Gott sein Dank, verließ gerade kein Pennäler das Gebäude. Hätte irgendjemand aus meinem Jahrgang dies getan- ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte. Gott sei Dank bin ich davon verschont geblieben. Ich erfüllte meinen Auftrag auf Anhieb.

Nach vielen erholsamen roten Ampeln und unentschlossenen Fußgängern erreichten wir tuckernder Weise unsere Heimatstation. Schon an den ersten komischen undefinierbaren Lauten, die der Prüfungsmensch von sich gab, spürte ich, dass Einiges im Argen lag. Gespürt- geschehen. Er zählte mir gnadenlos meine Fehler auf, drückte mir den dazugehörigen Zettel in die Hand und rügte mich abschließend ansatzweise, warum ich so früh schon die Prüfung machen wollte. Ich wäre noch längst nicht reif für den gefährlichen Berliner Straßenverkehr. Dabei hatte mich doch der dicke Herr neben mir angemeldet. Er war es doch der es hätte wissen müssen. Wie mir in diesem Moment zumute war, kann sich jeder vorstellen. Ich fühlte mich betrogen. Schließlich kostet so eine Unternehmung nicht nur ein Haufen Nerven sondern auch ziemlich viel Geld. Vielleicht hätte es funktioniert, wenn ich in meinen Schein mehr investiert hätte- für den Prüfer. Aber das wäre mit meiner Moral nicht vereinbar gewesen. Lieber ehrlich durchfallen als unehrlich durchkommen und eine Gefahr für die „fahrende Gesellschaft“ darstellen. Auch, wenn eine Welt zusammenbrach; mein Trieb zur Ehrlichkeit war nach wie vor ungebrochen. Ein kleiner Trost. Ich wollte zwar den Schein erwerben, aber nicht um jeden Preis. Soviel stand fest.

Trotzdem verstand ich die Welt nicht mehr. Warum ließ man mich vor meiner Schule einparken, wenn ich sowieso keine Chance mehr hatte? Wahrscheinlich ging es über die Vorstellungskraft des Prüfers hinaus, dass man nicht unbedingt erpicht darauf ist, vor seiner eigenen Schule den Wagen abzustellen. Erst Monate später fiel mir ein, dass der Prüfer garnicht wissen konnte, wo ich zur Schule gehe.

Eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte. Ich war am Boden zerstört. Ich ließ mir etwas Zeit das Ganze zu verdauen bis ich bei der Sekretärin wieder neue Termine vereinbarte. Der dicke Herr, dem ich einen Teil der Schuld zuschob, schien das total locker zu sehen. Hat er das etwa vorher kommen sehen? Sofort versuchte ich diesen und ähnliche Gedanken zu verdrängen.

Unverrichteter Dinge fuhr ich nach Hause, aß etwas und setzte mich vor den Fernseher. Ich war zu nichts mehr zu gebrauchen, meine Motivation dem Nullpunkt verdächtig nah. Die Talkshows rauschten nur so an mir vorbei. Mein Kopf war so leer. Einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, war unmöglich.

„Wie sollte ich es meinen Eltern beichten? Was sollte ich meinen Freunden sagen, die dummerweise eingeweiht waren? Wie werden sie alle reagieren? Wird sich deswegen ihr Verhalten mir gegenüber ändern? Werden sie mich für unfähig erklären? Mich als einen „Looser“ deklarieren?“, alles Fragen, die meinen Kopf nicht verlassen wollten. Mir war das alles schrecklich peinlich. Einfach nur peinlich. Dabei macht doch jeder Idiot heutzutage den Schein. Warum blieb mir das denn verwehrt? Ist es vielleicht ein Zeichen von Andi, meinem geliebten Bruder? Nein, ihn wollte ich dafür nicht verantwortlich machen. Oder doch? Schließlich hat mich sein Tod ganz schön aus der Bahn geworfen. Unfair- ich weiß.

Um 15.00 Uhr kam mein Papa von der Arbeit nach Hause. Nie werde ich seinen Gesichtsausdruck vergessen, als ich ihm mein Mißgeschick offenbarte. „Oh, das tut mir aber leid!“, war sein erster Satz. Und der war ziemlich ernst gemeint. Er war mit soviel Mitgefühl gesagt worden, dass ich fast meinen eigenen Vater nicht mehr wieder erkannte. Mit einem, „Beim nächsten Mal schaffst Du es bestimmt!“, nahm er mich in seine starken, beschützenden und beruhigenden Arme. An diesem Tag hatte ich zwar den Kampf um den Führerschein verloren, aber neue Erkenntnisse über meinen Papa gewonnen. Das ist auch etwas wert. Zumal ich mich sehr oft mit ihm einfach nicht verstehe. Es gab mir Trost, dass er trotzdem noch hinter mir und der „Aktion Führerschein“ stand.

Meine Mutter nahm es fast noch lockerer auf. Schließlich hatte es bei ihr erst beim dritten Mal hingehauen. Ich hatte folglich noch zwei Versuche.

Es dauerte noch ein Weilchen bis ich die Leere in meinem Kopf wieder los wurde.

Ich musste jetzt sehr stark sein, um den Spott, der sich unweigerlich über mich ergoss, ertragen zu können. Besonders einer aus meinem Semester, den ich zu allem Unglück auch noch liebte, konnte sich gar nicht bremsen. Dabei hat er selbst keinen Führerschein, weil er zu faul ist, für die Theorie zu büffeln. Auch sonst ist er nicht unbedingt eine Leuchte in der Schule. „So ein Arschloch!“, rauschte es durch meinen Kopf. Einmal äußerte er dennoch den Wunsch, mit mir eine Spritztour machen zu wollen. Schnell löste er das Missverständnis auf: „ Na ja, Ich will unbedingt dabei sein, wenn sie dich anhalten, weil sie dich erst für 16 halten. „Ha, ha“, war meine nicht gerade sehr geschickte Antwort. Das war der „Brüller“ der nächsten Wochen. Die Mädchen wiederum erkundigten sich ernsthaft interessiert, wie ich das alles finanziere. Die Stimmung in meinem Freundeskreis war gemischt. Einige lachten mich aus, weil sie der Ansicht waren, ich hätte so allmählich genug Übungsgelegenheiten gehabt. Andere litten mit mir, vielleicht sogar mehr als ich es selbst tat. Besonders eine war richtig bestürzt. Ich musste ihr sogar versprechen, mir nichts anzutun. Nie werde ich es vergessen.

Nun hieß es das Erlebte durch Träume schnellstmöglich zu verarbeiten und dort weiter zu machen, wo ich auf gehört hatte. Es war absolut sinnlos irgendjemand oder irgendetwas die Schuld in die Schuhe zu schieben. Entweder waren sie zu klein oder zu schön- die Schuhe.

Noch in der Fahrschule hatte man mir den Hinweis gegeben, dass ich im Bereich des Normalen läge. Viele benötigten zwei Versuche.

Trotzdem staute sich in mir die Angst. Ich wusste nicht warum. Ich wusste nur, dass, wenn meine Eltern finanziell schlechter dagestanden hätten, ich an dieser Stelle aufgegeben hätte.

Also, auf ein Neues.

Je länger ich über die ganze Sache nachdachte, desto bewusster wurde mir die Gefahr des Autofahrens; desto mehr stieg bei mir die Besonderheit dieser Prüfung. Es war eine Prüfung, bei der man ohne Weiteres sich und die restlichen Insassen im Handumdrehen in Lebensgefahr bringen konnte. Einen Moment nicht aufgepasst und schon ist der Unfall passiert. Ich war stolz, dass mir wenigstens das nicht passiert war. Vielleicht war es vor diesem Hintergrund doch nicht so falsch gewesen mich einmal durchfallen zu lassen. Denn was hätte ich davon, wenn ich zwar das Stück Papier aber nicht die dazugehörige Qualifikation hatte?

Als ob ich es geahnt hatte, blieb ich für die ersten vier Ferienwochen in Berlin. So konnte ich in Ruhe und Frieden weiter üben. In dieser Zeit hatte ich mir geschworen Berlin nicht länger als für 72 Stunden zu verlassen, ehe ich meinen Führerschein habe. Noch hatte ich vier Wochen Zeit, diesem Vorsatz treu zu bleiben. Ich nutzte sie intensiv.

Schein der Scheine

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