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DIE SONDERFAHRTEN
ОглавлениеBevor man in Berlin den Schein der Scheine bekommt, muss man beweisen, dass man nicht nur innerhalb des Berliner Rings (Stadtautobahn, die um Berlin herum verläuft.) alles unter Kontrolle, sondern auch im Umland, auf der Autobahn und bei Dunkelheit die Nerven nicht verliert.
Praktischerweise macht man diese Pflichtstunden alle gleich am Stück. Fast vier Stunden sind jeweils zu meistern. Das ist besonders für Autofahranfänger eine ganz schöne Herausforderung. Trotzdem nahm ich mir voller Euphorie einen Tag schulfrei, der mir allerdings nur mit einem Grummeln seitens meines Lehrers entschuldigt wurde. Es sei eine einmalige Ausnahme. Der andere Tag, der dran glauben musste war sogar von vorn herein frei. Das nennt mal wohl: „Glück des Tüchtigen“.
Egal wie ich mich nun anstellen wurde: für mich war es schon toll, überhaupt so weit gekommen zu sein. Die Prüfungsfahrt findet so oder so nur innerhalb der Stadt statt. Ich weiß noch ganz genau, wie ich an einem Mittwoch voller Freude nach Hause fuhr, um die frohe Botschaft mitzuteilen. „Jetzt ist es nicht mehr weit!“- dieser Satz verfolgte mich. Im Allgemeinen werden diese Fahrten erst kurz vor der Überprüfung der praktischen Fahrfähigkeiten in Angriff genommen. Alles andere hätte auch keinen Sinn gemacht. Ich befand mich quasi bereits auf der Zielgeraden. Außerdem schien Autofahren für mich zur Sucht geworden zu sein. Dennoch zeichnete sich damals schon eine lange Fahrschulkarriere ab. In den nächsten Wochen sollte ich zuerst auf die Landstraße, dann auf die Autobahn und zum krönenden Abschluß die Nacht gewissermaßen zum Tag machen. Gleich auf die Autobahn zu gehen empfand mein Fahrlerer im Auto doch etwas zu heikel. Mir war es eigentlich „schnuppe“- Hauptsache es krachte mal wieder in den Übungsfahrten. Ich strotzte nur so vor Selbstvertrauen. Ich war zu allem bereit
Leider sah die Welt nur 48 Stunden später komplett anders aus. Und das kam so schrecklich unverhofft.
Meine Eltern kamen viel zu früh aus ihrem Kurzurlaub über Himmelfahrt wieder und teilten mir mit, dass mein Bruder am Abend davor das Zeitliche gesegnet hätte. Er sei bei einem Ausflug mit (angeblichen) Freunden von einem Regionalzug erfasst worden. Ich verstand die Welt nicht mehr. Völlig apathische nahm ich diese Information auf. Mir fällt es heute noch verdammt schwer diese Momente in Worte zu fassen. An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass mein Bruder der mit Abstand wichtigste Menschen in meinem Leben war bzw. ist. Ich habe ihm unheimlich viel zu verdanken. Ohne ihn wäre ich nie und nimmer so weit gekommen. Er hatte sich schon Sorgen um meinen Schein gemacht, weil ich unzählige Stunden bereits hinter mir hatte. Er hat mir immer Mut zugesprochen. Er war bzw. ist einmalig. Er gab auch mir das Gefühl, einmalig zu sein. Durch ihn habe sehr viel an Selbstvertrauen gewonnen, weil ich mir seiner Hilfe und Unterstützung zu jeder Zeit sicher sein konnte. Und nun war er tot. Einfach so. Unglaublich. Ohne Worte. Unvorhersehbar.
Mit dem Verlust meines Bruders schwand auch ein großer Teil meines Selbstbewusstsein. Aus Euphorie wurde Angst.
Die Fahrstunden danach waren der reinste Horror. Ich hatte meinen „Lebensanker“ verloren. Die Angst haftete an mir und ich zweifelte an meinen Fähigkeiten. Es war so als ob mir jemand den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich musste mich ganz schön zusammenreißen. Das Vertrauen zu meinem ersten Fahrlehrer reichte nicht aus, ihm von meinem Schicksal zu erzählen. Auch später habe ich ihm von diesem Schicksalsschlag nie erzählt.
Heute bin ich der Meinung, auf den Sonderfahrten war ein ganz spezieller Schutzengel dabei. Oft stellte ich mir vor, wie er mit hochgekrempelten Armen auf seiner Wolke saß und mir mit aller Kraft half, gut durch die Fahrstunde zu kommen.
Irgendwie, ich weiß wirklich nicht mehr wie, überwand ich mich, um drei Wochen später in dem Golf 4 das Umland unsicher zu machen. Eigentlich war es eine tolle Fahrt. Von strahlendem Sonnenschein begleitet verließen wir erstmalig mit mir am Steuer Berlin. Es stellten sich mir Aufgaben, die ich im Prinzip kannte. Schließlich war ich lange genug Beifahrer gewesen, um die Schilder richtig zu deuten. Aber an der einen oder anderen Stelle war es doch etwas anderes selbst das Auto zu führen. Es sieht teilweise schrecklich ungewohnt aus. Plötzlich muss man sich frühzeitig selbständig erst orientieren, dann einsortieren. Und darüber hinaus den Verkehr im Auge behalten. Es war ein komplett anderes Gefühl. Aber ich war ja nicht allein unterwegs. Da war ich mir ziemlich sicher.
Bekanntlich darf man auf deutschen Landstraßen, sofern nichts anderes vorgeschrieben ist, 100km\h schnell sein. Ich hingegen begnügte mich auf diversen Alleen mit 60 km\ h. Zu groß war die Angst dem schönsten Baum auf meine Art „Guten Tag“ zu sagen. Vorher war ich noch nie schneller als „50 Sachen“ gefahren. Der Wagen ließ sich bei 65km\h erheblich schwerer kontrollieren. Die Schlaglöcher taten dabei ihr Übriges. Meine Verkrampfungen konnte ich auch nach zwei Stunden nicht abstreifen. Manchmal kam mir sogar der Gedanke, einfach so einen Unfall zu bauen. Einfach nur so, um zu wissen wie das so ist. Schließlich hatte ich nach meinem Schicksalsschlag nichts zu verlieren Ohne meinen großen Bruder ist mein Leben sinnlos. Soviel zu meiner Gefühlslage.
So tuckerten wir gemächlichen Tempos über die Dörfer. Zwischendurch waren noch kurz vierspurigen Landstraßen zu meistern. Irgendwann fuhr ich dann mit Einsatz meines Ganzen Mutes mal 70 km\h. Wobei ich allerdings den dritten Gang drinnen ließ. Das war für mich Herausforderung genug. Als wir schon fast wieder die Stadtgrenze tangierten, beschloß mein Begleiter unserem Fahrzeug ein wenig Sprit zu gönnen. Auch tanken will gelernt sein. Wir praktizierten Arbeitsteilung: Ich tankte und er bezahlte. Damit noch nicht genug. Weil das Brandenburger Land so dreckig war, sollte das Auto noch eine kurze Dusche verpasst bekommen. Als Erfrischung sozusagen. Wir näherten uns der Waschanlage, bezahlten und wurden automatisch durch das Wasserparadies für motorisierte Fortbewegungsmittel gezogen. Ein ganz komisches Gefühl, wenn neben einem plötzlich Schrubber und Bürsten vorbeiputzen und ma dabei selbst nicht einen Tropfen Feuchtigkeit abbekommt. Wir verließen knochentrocken mit blankgeputzten Gefährt das schöne Berliner Umland. Ich war leer.
Wieder in der Stadt angekommen merkte ich, wie sich mein Puls verlangsamte und ich entspannter wurde. Den ganzen Tag waren wir in total fremden Gebiet gewesen. Da tat es richtig gut, bekannte Straßen, bei denen ich mich nicht neu orientieren musste, zu erblicken. Ständig musste ich auf der Hut sein, weil ich logischer Weise überhaupt nicht wusste, was mich hinter der nächsten Ecke erwartete. Das war natürlich in meinem Kreuzberger Gebiet, wo ich schon jedes Haus und Briefkasten kannte, ganz anders.
Trotzdem sind diese Sonderfahrten eine gute Erfindung. Sie bereiten einen intensiver auf die Zeit nach der Fahrschule vor. Sie kann mehr als es jede normale Übungsfahrt „leisten“. Welcher Fahrschüler träumt nicht von der ersten Spritztour mit lieben Leuten; den Schein bereits in der Tasche. Nicht immer gab es diese ganz besonderen Ausflüge. Als meine Mutter beispielsweise ihren Führerschein ergatterte, ging es noch nicht aufs „freie Feld“ hinaus. Das wäre dann wahrscheinlich aufgrund der Insellage Berlins kein leichtes Unterfangen gewesen. Gott sei Dank sind diese eigenartigen Zeiten eines geteilten Berlins endgültig vorbei.
Streckenweise überfiel mich auf dieser Tour ein Gefühl von Freiheit. Bald kann ich nun überall hinfahren. Mir sind keine Grenzen gesetzt. Und, wenn, dann nur geringfügige. Das war richtig toll. Die Angst fuhr jedoch immer mit. Ständig musste ich an meinen verstorbenen Bruder denken. Mit einem Mal war mir klar, wie schnell ein ganzes Leben ausgelöscht werden kann. Dabei war mein Bruder keinesfalls ein Schwächling. Er war bisweilen hart im Nehmen. Ohne Unterlass wurde mir vor Augen geführt, in welcher Gefahr ich mich beim Führen eines handelsüblichen Golfes befand. Andererseits war wegen einer anderen Sache untröstlich. Nun konnte ich meinen Bruder nicht mehr ins Grüne entführen. Das war für ich schon beschlossene Sache gewesen. Endlich einmal mit ihm ganz allein unter Geschwistern. Dazu hätte ich totale Lust gehabt. Nun war ich also einfach nicht schnell genug gewesen. Ich machte mir deswegen riesige Vorwürfe. „Hätte ich mich noch mehr ins Zeug legen können? Oder war er schlicht zu dumm gewesen, sich von einer Regionalbahn erfassen zu lassen?“, ich fand keine passende Antwort. Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Mit gemischten Gefühlen stieg ich aus. Für heute war ich genug motorisiert unterwegs gewesen. Da war ich mir allerdings sicher. Meine Glieder waren steif, weil ich die ganze Zeit sehr angespannt war. Sämtliche, gebrauchte Akkus leuchteten im übertragenen Sinn dunkelrot auf. Es wäre unverantwortlich gewesen, wenn ich im Anschluss daran, das Steuer nicht mit meinem Drahtesel eingetauscht hätte. Ich wollte nur noch nach Hause. Weiter nichts. Ich wünschte mir etwas zu essen und ein kleines Nickerchen. Vieles musste ich an diesem Tag verarbeiten. Ich erlag einer völligen Reizüberflutung.
Jedoch diese Symptome hielten mich keineswegs nicht davon ab, zwei Tage abermals eine neue Herausforderung anzunehmen. Denn der zweite Streich folgte sogleich. Die Autobahn hieß es zu bewältigen.
Im Prinzip wusste ich, wie man diese eigenartige Straße befuhr. Oft genug habe ich meiner Mutter bei diesem Manöver „auf die Finger“ gesehen. Von der Theorie her war alles geklärt. Außerdem widmeten die Fragebögen dieser Thematik ausreichend Platz. Nur, wenn man es jetzt allein machen muss, ist das eine völlig andere Sache. Hätte ich vorher nie geglaubt. Schon als wir uns der Autobahnauffahrt verdächtig näher kamen, überfiel mich bei allen schönen Gedanken zum Trotz abermals die Angst. Beinahe hätte ich die Kontrolle über das Geschehen verloren. Jetzt hieß es Zähne zusammenbeißen und die Sache durchziehen. Bloß nicht aus Reflex die Augen zu machen oder dergleichen. Das wäre fatal gewesen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Vorher war mir nicht bekannt, dass ich beizeiten höhenängstlich bin. Nur der Anblick der Auffahrt, die eigentlich eine „Runterfahrt“ war ,bereitete mir erhebliche Sorgen. Für alle „Nicht-Berliner“: Die Autobahnauffahrt Berlin-Tempelhof geht vom Tempelhofer Damm steil, also wirklich steil hoch zur Autobahn. Man weiß unten auf der Straße nicht wirklich, was sich oben auf der Autobahn so tut. Erst im ziemlich letzten Augenblick kann man sich bei der nun hohen Geschwindigkeit einen Überblick über das Geschehen machen. Daher, nichts für schwache Nerven. „Also, Jetzt Gas geben, nach links in den Spiegel schauen, ob alles frei ist, kurz nach hinten schauen und dann rauf“, schallte es vom exklusiven Platz rechts neben mir in meine Gehörgänge. Ich tat, wie mir befohlen. Dennoch ist es mir bis heute ein Rätsel, wie ich die Autobahn erreicht habe. Plötzlich war ich jedenfalls drauf. Mit rasendem Tempo durchquerte ich die mir vertraute Stadt auf der Berliner Stadtautobahn. Müßig zu sagen, dass ich mich erst an diese besonders Perspektive gewöhnen musste. Kaum hatte ich mich an die ungewohnten Verhältnisse gewöhnt, sollte ich die Schnellstraße auch schon wieder verlassen. Das gefiel mir gar nicht. So erlebte ich innerhalb von Minuten ein totales Kontrastprogramm. Dabei verschonte man mich mit einer 30-Zone. Ich glaube, dann wäre ich zum Kamikaze-Fahrer mutiert. Ich verlor, wie viele andere Autofahrer auch, jegliches Zeit- und Geschwindigkeitsgefühl. Ich glaube, das war auch Sinn und Zweck der Übung, die mir mein Fahrtrainer auferlegt hatte. Lange Zeit ließ man mich nicht in diesem Schneckentempo durchatmen. Dieses zweite Auffahren auf die Autobahn erlebte ich schon sehr viel bewusster als beim ersten Versuch. Dennoch gab ich sehr zaghaft Gas und sortierte mich regelrecht ein.
Die Lenkung bereitet mir große Sorgen. Bei diesen hohen Geschwindigkeiten, reicht ein kleines, kaum merkliches Betätigen des Lenkrades für intensive Richtungswechsel. Das wollte mir irgendwie nicht so schnell in den Kopf. Beinahe hätte ich uns in Lebensgefahr gebracht ,weil ich die Leitblanke begrüßen wollte. Dank meines ganz privaten Schutzengel in Gestalt meines Bruders, überlebte ich auch diesen Abschnitt der Fahrt. Wenige Minuten später nahmen wir wieder die Ausfahrt. Die Information eines Hinweißschildes nach Hamburg interessierte mich nicht. Zu konzentriert war ich. Wir waren also auf dem Weg nach Hamburg. Da wollte ich schon immer mal hin. Schon allein aus familiären Gründen. Meine Mutter kommt daher und meine Oma, sowie meine Tante mit Familienanhang sind dort immer noch zu Hause. „So, nun schalte mal in den fünften Gang!“, wies man mich an. „Wo, bitte ist dieser brisante Gang?“, war mein erster Gedanke. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Ganz systematisch ging ich die Informationen aus den Theoriestunden durch bis ich mich an diese Dinge, die ich sofort dringend brauchte, erinnerte. Folglich gab ich mächtig Gas, kickte den Gang raus, drückte den Knüppel ganz nach außen Richtung Beifahrer und abschließend nach oben. Mein Begleiter war von meiner Dynamik wohl überrascht und schafft es erst im letzten Moment seine Greifer aus der Region des Schalthebels zu entfernen. Ich hatte es bewerkstelligt. „So!“, meldete sich wieder von rechts, „Und nun tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch!“. Wie fast jeder Fahrschüler in meiner Lage, ging ich hierbei ganz vorsichtig vor. Ich arbeitet mich Millimeter für Millimeter vor. „Ich habe gesagt, richtig durchtreten!“, tönte die Stimme von rechts wieder. Ich sammelte allen meinen Mut zusammen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Am liebsten hätte ich die Augen tatsächlich zugemacht. Das mache ich nämlich auf dem Rummel immer so, wenn es mir im Karussell zu schnell wird. Aber das war hier wohl keine Option. So fuhr ich tapfer weiter Richtung Hamburg. Besonders wohl war mir verständlicherweise bei der ganzen Aktion nicht Mein Begleiter schien das nicht zu interessieren. Er hatte wohl eine ganz andere Mission zu erfüllen.
Wie es auf jeder Autobahn vorkommen kann, tuckerte irgendwann vor uns ein Lastkraftwagen mit 80 km\ h her. Mich störte es kaum. Mein Mitreisender war leider anderer Meinung“: Wie lange willst Du dem Stinker vor uns noch hinterher fahren?“. „Wieso, 80km\h sind doch O.K.?!“, erwiderte ich.“ Ach, das ist doch Quatsch! Dafür machen wir doch keine Sonderfahrten. Los überhole ihn. Das hast Du ja in der Stadt mehr als genug geübt!“. Angstschweiß nässte meinen Körper. Ich schaute hintereinander in den Rückspiegel und in den linken Seitenspiegel, mehrfach. Wir waren, mal abgesehen von dem Lkw vor uns, weit und breit die Einzigen auf der Schnellstraße. Eigentlich konnte nichts schief gehen. Unweigerlich gingen mir sämtliche Nachrichten über Autobahnunfällen durch den Kopf. Wieder hätte ich am liebsten die Augen zu gemacht oder das Lenkrad einfach an meinem Nachbarn übergeben.
Ich blinkte. Langsam mit viel Gefühl wechselte ich den Fahrstreifen. Das war erst einmal erledigt. Auf der Überholspur angekommen, fand ich das gar nicht so übel. Dummerweise musste ich einige Meter vor dem überholten Fahrzeug wieder einscheren. Diese Prozedur wiederholten wir zweimal. Die weitere Fahrt verlief ruhig, bis mein Fahrtrainer auf die Uhr schaute. Vor lauter Aufregung hatte er die Zeit vergessen. Nun lag es an mir das wieder auszubügeln, indem ich im wahrsten Sinne des Wortes auf die „Tube“ drücken sollte. „So, Steffi, nun tritt doch bitte einmal das Gaspedal ganz durch!“; wies er mich an. Vorsichtig, wie ich manchmal war, machte ich mich sehr zaghaft an die Ausführung. Zu zaghaft, wie es dem Stöhnen neben mir zu entnehmen war. „Steffi, was habe ich dir eben gesagt? Ich habe nicht gesagt, du sollst das Gaspedal antippen oder gar streicheln! Nein, ich habe von Durchtreten geredet“, brummte er neben mir. Ich nahm also mein Herz aus der Hosentasche in die Hand und drückte mein Bein so gut es ging durch. Bei meinr Körperlänge kein leichtes Unterfangen. Ein einziger Kraftakt für mich. Aber es gelang mir dennoch. Der Zeiger vom Tachometer, den ich bei dieser Geschwindigkeit nur ungern aus den Augen lassen wollte steuerte auf die 100 zu, legte bei 130 eine kleine Pause ein. Ich hatte genug. Aber ich sollte nicht innehalten. Ich streckte das Bein immer mehr. Beinahe hätte ich das Gefühl gehabt, ich liege waagerecht im Wagen. Soweit hinten bzw. vorne befand sich das Pedal. Immer schneller zog die Landschaft vorbei. Immer unbehaglicher wurde mir. Bei 160 km/h war mein Begleiter endlich zufrieden. „Na, was meinst du, wie schnell sind wir jetzt unterwegs?“, schallte es in mein Ohr, das sich einbildete den Fahrtwind von draußen wahr zu nehmen. „Ich kann sehr schlecht schätzen aber ich weiß es!“, gab ich ihm mit zittriger Stimme zurück. Mein Begleiter hatte nur ein zufriedenes Grinsen für diese Situation übrig.
„Wie jetzt nur von dieser Geschwindigkeit hinunter kommen?“, lautete meine einzige Frage. Es könnte ja sonst etwas passieren! Mit viel Feingefühl gelang es mir. Folglich konnten wir gefahrlos die nächste Ausfahrt nehmen und in gemäßigtem Tempo nach Hause „düsen“. Die Rückfahrt verlief dementsprechend wesentlich entspannter. Nichts konnte mich mehr überraschen. Trotzdem ist die Autobahn nicht unbedingt zu meinem Lieblingsgebiet geworden. Hätte ich damals schon den Führerschein gehabt, hätte ich um die Autobahn einen großen Bogen gemacht. Mit dieser Meinung hätte ich noch nicht einmal allein dagestanden. Eine gute Freundin meiner Mutter hat die Vorzüge einer Straße dieser Art erst ein Jahrzehnte nach ihrer Führerscheinprüfung zu schätzen gewusst, weil sich die Entfernung zwischen ihr und meiner Mutter aufgrund eines Umzugs erheblich vergrößert hatte.
Abermals brauchte ich etliche Tage, um die Reizüberflutung dieses Tages zu verarbeiten.
Vor allem ist mir eines klar geworden: Was bedeutet es, ein Leben auf der Überholspur zu führen? Ich konnte es nahezu hautnah miterleben. Meine Interpretation dieser Floskel sieht wie folgt aus: Man ist gezwungen ein spontanes, flexibles Leben zu führen, weil das scharfe Bremsen auf der Autobahn bekanntlich zu schweren Unfällen führen kann oder gar tödlich enden kann. So nimmt man alles mit, was einem so rechts und links geboten wird; wobei keine Zeit zum Verweilen oder Genießen bleibt. Man muss immer auf dem neuesten Stand sein, damit einem keine Information entgeht. Ich vergleiche das hier z.B. mit einem Hinweis auf eine Fahrspurverengung durch eine Baustelle. Wenn man so etwas übersieht, kann es unter Umständen kritisch werden.
Für mich gehört zu so einem Lebensstil auch eine gewisse Sensibilität, damit andere, die es ein wenig langsamer angehen lassen, nicht in ihrem Lebensrhythmus gestört werden.
Vieles bekommt man zwar mit, aber irgendwie doch nicht. Für die von mir benötigte Verarbeitung von Eindrücken bleibt schlicht und ergreifend keine Zeit. Das ist kein Leben für jemanden, der schwache Nerven hat. Und für mich wäre es auch kein Lebensmodell.
Folglich ist es ein sehr oberflächliches Leben, denn Zeiträume, um Probleme aus der Welt zu schaffen, existieren einfach nicht, weil von hinten schon der nächste Drängler drängelt. Immer muss man weiter. Man kann nicht dort bleiben, wo es einem gefällt. Es sei denn, man nimmt die nächste Ausfahrt und fährt ein paar Kilometer zurück. Aber dann kann sich schon wieder alles zum Schlechten hin verändert haben.
Es hat, wie vieles, seine Vor- und seine Nachteile. Auf der einen Seite erlebt man viel und kommt vielleicht ganz schön in der Welt herum, von dem man dann, wenn man sein Ziel erreicht hat, und die Zeit es erlaubt, erzählen kann. Aber auf der anderen Seite bleibt für die Gefühle, derer man sich erst viel später bewusst wird, weil sie erst wachsen müssen, keine Zeit.
Das ist eigentlich sehr schade, oder?
Auf den zweiten Streich folgte sogleich der Dritte.
Nun fehlten nur noch die Nachtfahrten. In meiner Fahrschule war es so Tradition, dass man die Nachtfahrten zu dritt macht. Man leistet also noch einem zweiten Fahrschüler Gesellschaft, oder dieser einem, gerade so aus welcher Perspektive man es betrachten mag. Das hat den Vorteil, dass man sich so schon an die Situation gewöhnt, wenn man Freunde oder die eigenen Eltern im Auto mitnimmt. Tags darauf sollte es soweit sein. Eigentlich könnte man dieses Unternehmen auch als „Blind Date“ vergleichen, weil ich meinen Leidensgenossen noch nie vorher gesehen hatte. Ich ließ mich dennoch auf das Abenteuer ein. Es sollte wieder in den „Wilden Osten“ gehen. Es stand mir an diesem Abend ein nicht unbedingt schlanker junger Mann gegenüber. Er schien sich seiner Sache total sicher zu sein. Er fing an, weil ich wegen meines Drahtesels so oder so zurück zur Fahrschule musste. Sonst wäre es natürlich selbstverständlich gewesen mich nach Hause zu bringen. Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich zu Fuß zur Fahrschule gekommen. Nun gut, er machte also den Anfang. Wir fuhren in die Dunkelheit. Ich nahm erstmals in dem Golf auf der Rückbank Platz. Es war schon ein komisches Gefühl, in dem Fahrschulwagen hinten zu sitzen. Selbst, wenn ich mit meinen Eltern unterwegs war, hatte ich mir längst meinen Stammplatz auf dem Beifahrersitz erfolgreich ergattert. Meine Mutter begnügte sich dann mit der Rückbank. Außer, wenn wir verreisten. Dann überließ ich ihr lieber das Kartenlesen rechts neben meinem Vater, der dann meist das Steuer in der Hand hat.
Kaum war mein Partner „eingefahren“, sollte ich für die Unterhaltung sorgen. Auch das sei Tradition, klärt man mich auf. Trotzdem vergewisserte ich mich, ob es den Fahrer nicht stört. „Nein!“, war die Antwort. Ich erzählte einen Witz. Ich glaube es war so ein blöder Ostfriesenwitz. Aber beschwören kann ich es nicht. Nachdem mir die Witze ausgingen, weil ich mir Witze sehr schlecht merken kann, übernahm mein Fahrtrainer, die Unterhaltung. Es kam eine recht ausgelassene Stimmung auf. 30min später durfte ich dann auch mal ans Steuer. Dieser Wechsel wurde nicht ohne ein hämisches Grinsen des anderen Fahrschülers vollzogen. Das war so ein kleiner Macho- Typ. Ich glaube, der hatte wirklich ein Problem damit, dass eine junge Frau mit 1,50m Körperlänge nun ihn durch die Stadt fahren sollte. Und das auch noch abends bei Dunkelheit. Die Straßen waren leer und breit. Es gab daher für mich kaum Gründe zur Besorgnis. Ich legte eine sichere wie sauber Fahrt hin das konnte man von meinem Vorgänger nicht behaupten. Mehrfach schlug unser Fahrlehrer die Hände über dem Kopf zusammen. Oftmals wurden Stoppschilder nicht beachtet, weil ja eh keiner kam, war die mehr als arrogante Begründung meines Weggefährten. „Der traut sich was“, dachte ich so bei mir. Mehrfach hätte ihm das an diesem Tag seine Prüfung gekostet. Trotzdem fühlte ich mich mit ihm am Knüppel relativ sicher. So weit das bei so einem Fahrschüler halt möglich ist. Ich weiß nicht, ob es an seiner Ausstrahlung lag. Er war ein netter junger Mann mit Macho- Ansetzen. Ungefähr 25 Jahre alt. Alles in allem ein Kumpel zum Liebhaben Mein Typ war er dennoch nicht. Muss er ja auch nicht!
Obwohl ich mir während meiner ganzen Fahrschulzeit keine Straßennamen merken konnte, geht mir eine Straße nicht aus dem Kopf: Die ALLEE DER KOSMONAUTEN. Für alles Nicht-Berliner: Diese Straße befindet sich im östlichen Teil der Stadt und schlängelt sich durch den berliner Stadtbezirk Mahrzahn. Das Kuriose dabei ist, man hat das Gefühl, sie verläuft schnurgeradeaus. Schaut man dann auf einen Stadtplan, stellt man fest, dass sie einen Zickzack-Kurs beschreibt. Mindestens drei Spuren auf jeder Seite, wenn nicht vier oder fünf. Also, ein Highway mitten in der Stadt, sozusagen. Und wie sollte es auch anders sein, gut befahren. Völlig überwältigend. Diese Straße gab mir ein Gefühl von Freiheit. Wie das halt auf einer amerikanischen Autobahn so üblich ist. So stellte ich es mir zumindest vor. Plötzlich war ich irgendwie unabhängig. Sie schien eine Verbindung zwischen zwei Welten zu sein. Irgendwann vergaß ich, dass ich mich in fremden Gefilde befand und fuhr, ganz den Umständen entsprechend, befreit. Was für mich in dieser Situation wahrlich nicht selbstverständlich war. Das übertrug sich positiv auf meinen Fahrstil. Locker und vorsichtig. So, wie es optimaler Weise sein muss.
Das einzig Stressige an diesem Ausflug waren die ewigen Raucherpausen. Sowohl mein Kollege als auch der dicke Herr neben mir, auch Fahrlehrer genannt, frönten dieser Droge exakt im Stundentakt. Da im Wagen absolutes Rauchverbot herrschte, kann man sich vorstellen, was jetzt folgte. Genau, wir brachten den fahrbaren Untersatz an einer dafür extra vorgesehenen Stelle zum Halten, stiegen aus und die beiden Süchtigen steckten sich einen Glimmstengel in die Visage. Normalerweise habe ich eigentlich nichts gegen solche Aktionen, aber heute empfand ich sie für meine Konzentration einfach nur störend. Leider wäre ein Protest sinnlos gewesen. Schließlich war ich überstimmt.
Nun gut, ich versuchte so gut es ging meine Gehirnwindungen fit zu halten und möglichst hochkonzentriert bei der Sache zu bleiben, auf meine Weise und ohne Nutzung einer Droge. Wenn ich mir jetzt einen Kaffee gegönnt hätte, hätte meine „Mädchen- Blase“ arge Probleme gemacht. Daher verzichtete ich darauf, mir eine Thermoskanne mitzunehmen. Unter diesen Umständen meine Sinne beeinander zu behalten war ein nicht gerade einfaches Unterfangen: Bei Nacht sieht alles ein wenig verändert aus und man sieht die Verkehrsschilder im Prinzip erst, wenn man bereits vorbei gefahren ist. Dann hilft es nur noch reflexartig das Richtige zu tun. Kurz und gut, eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit.
Noch während der Fahrt beschloss ich, nach der Prüfung, auch wenn ich nüchtern bleibe, abends mit der BVG Partys zu verlassen, per pedes nach Hause zu kommen oder mich sicher von jemand anderen nach Hause bringen zu lassen. Nachts reicht wahrscheinlich meine Konzentration als Fahranfänger nicht aus. Schließlich will doch jeder gesund zu Hause ankommen. Außerdem will ich ein Leben lang den „Lappen“ behalten, am besten ohne den „Idiotentest“ absolvieren zu müssen.
Um 23.45 Uhr endlich die erlösende Stunde. Wir bzw. ich luden meinen Leidensgenossen stilecht zu Hause ab. Glücklicherweise hat er sein Domizil nur wenige Autometer weg von der Fahrschule, wo mein Drahtesel auf mich wartete. Nach einer kurzen Bewertung seitens des Nutzgenießers, den wir vier Stunden durch die Gegend chauffiert hatten, kam auch für mich die Erlösung. Kurz vor 24 Uhr schwang ich mich todmüde auf meinen zweirädrigen Untersatz und fuhr dem Traum nah von dannen, dem Ruf meines Bettes folgend. Gut, dass ich den Weg fast im Schlaf kannte. Gott sei Dank war Freitag und ich konnte am Samstag ausschlafen. Was mich jedoch nicht davon abhielt wieder von den aufregenden Erlebnissen zu träumen. Jetzt stand die Prüfung unmittelbar bevor.