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Kapitel 8 Ab in die Scheiße
ОглавлениеErbost und fassungslos stürmte Oberkommissar Magister Jakob Rasch in das Großraumbüro des Morddezernats der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost, um dem cholerischen Kommissar die Leviten zu lesen.
„Ulman in mein Büro!“
Das Murmeln und Tastaturgeklapper, ja selbst das Telefongeläut, verstummte für einen Moment. Alle Aufmerksamkeit war auf den alternden Kommissar Sebastian Ulman in seiner vermüllten Papierstapelburg und auf den bergländischen Karrieristen, der an sich durch seine Besonnenheit bekannt war, gelenkt.
Laut stapften die braun-melierten Schlangenlederschuhe über die anthrazitfarbenen Fliesen, durch die Schreibtischgasse der großzügigen Amtsräume entlang und verschwanden hinter der Milchglastür seines Büros. Und während das tobende Schauspiel noch immer jegliche Zuwendung der Beamtenschaft auf sich zog, erhob sich der uneinsichtige Mittsechziger aus seinem ausrangierten Ledersessel, der die gleichen Dienstjahre wie er auf dem Buckel zu haben schien und bewegte sich langsam und zögerlich seinem jungen Vorgesetzten zu folgen.
Vor dem großen eichenen Schreibtisch nahm er, in einem der beiden eleganten weißen Ledersessel Platz und betrachtete die Urkunden, Diplome sowie Pokale und Medaillen, welche die Wand vor ihm schmückten und dem Nutzer dieses Arbeitsplatzes, wie in einem fürstlichen Thronsaal erscheinen ließen.
Rasch sank in seinen dick gepolsterten und ergonomisch geformten Drehstuhl und durch seine gut gebaute und durchtrainierte Statur kamen die Beurkundungen seiner akademischen Leistungen und sportlichen Erfolge, an der Trophäenwand hinter ihm, noch mehr zur Geltung. Es war, als würde der kleinlaute Ulman gegen ein Meer von Spiegeln und Lichtreflektoren blicken.
Inmitten dieses einschüchternden Prunkspektakels sammelte die einnehmende Gestalt des frisch rasierten, die Frisur perfekt sitzenden und bestens gekleideten Oberkommissar Mag. Jakob Rasch, dessen muskulöser Oberkörper nun begann sich aufzuplustern, seine Wut.
„Was soll das für ein Auftritt sein? Sie schüchtern Zeugen ein. Nein, Opfer. Dieser Mann ist knapp dem Tod entronnen und steht unter Schock. Derzeit werden wir nicht mehr von ihm erfahren, als er uns gesagt hat! Mehr weiß er auch nicht.“
Dem, mit allen Wassern der Gosse gewaschenen Kommissar, konnte die klar, mit körperlicher Präsenz und lukullischem Ambiente untermauerte Ansage seines Vorgesetzten nicht imponieren. Im Gegenteil er beharrte auf seinen Ansichten.
„Herr Magister. Fakt eins: der Täter ist jemand mit Ortskenntnis. Schlüssel für das Haus und das Bewusstsein, dass er alle Zeit der Welt für seine Tat hatte. Wie unser, nennen wir ihn einmal Zeuge. Fakt zwei: Den Opfern wurden Stücke ihrer Haut entfernt, das lässt darauf schließen, dass der Täter die Opfer persönlich gekannt hatte und ihnen etwas wegnehmen wollte, dass sie öffentlich brandmarkt. Das alles war gründlich, der Täter ist ein Serienmörder und Trophäenjäger. Er wollte die Opfer nicht übermäßig töten, sondern wusste genau was er wollte. Willkürlich aus den Körpern geschnitten. Fein säuberlich. Mit Trophäen kennen Sie sich ja aus.“
„Und warum soll das der Zeuge gewesen sein?“
„Fakt drei: Ich habe es in seinen Augen gesehen. In ihm steckt der Teufel. Darum habe ich gleich seine Akte überprüft. Ich brauchte nur eine halbe Stunde Aktenstudium und habe einen neun Jahre alten Fall gelöst. Sind hier alle so blind?“
„Was haben Sie gelöst Ulman? Sagen Sie es mir.“
„Man fand im Blut der Mutter eine Überdosis Benzodiazepine. Nun benötigt man, ich denke das ist am Land genauso wie hier, ein ärztliches Rezept dafür. Dieses wurde nie ausgestellt. Woher die Schlaftabletten kamen ist bis heute ein Rätsel.
„Und weiter“, gab ihm der unbeeindruckte Oberkommissar die Chance, seine Ausführungen weiter auszuschmücken, während er in seinem ledernen Lehnsessel lehnte und einen Tennisball zwischen seinen Händen pendeln ließ. Für Rasch war jeder Ansatz relevant. Hauptsache dieser Fall war bald geklärt.
„Scheinbar ist unser Mann damals bei unseren ländlichen Ermittlerkollegen, die halbtags Schweine züchten und nebenbei versuchen Mordfälle zu lösen, durchgekommen. Aber nicht hier.“
„Ulman! Sie schaffen das alleine nicht. Achtundvierzig Stunden sind die Grenze für die höchste Aufklärungschance und zwölf haben Sie schon verplempert. Ein Einsatzteam muss her. Alle Opfer durchleuchten. Das schaffen Sie nicht alleine“, schloss er mit doppelter `L´-Rollung über seiner Zunge ab.
„Warten Sie Herr Magister, es geht noch weiter. Unser, nennen wir ihn eben weiterhin noch Zeuge, hatte seit Jahren ein streitbares Verhältnis zu seinen Eltern. Darum ist er drei Jahre vor dem Tod der Mutter zu seinem Großvater gezogen. Wie kommt dann ein Oberarmhaar von ihm in die Badewanne voller Blut? Dort wo, die Leiche seiner Mutter gelegen hat?“
„Sie meinen die Frau schluckte eine Überdosis Schlaftabletten, lässt sich ein Bad ein und schneidet sich die Pulsadern auf. Und weil ein Haar ihres Sohnes darin ist, denken Sie er sei unser Mann? Vor welchem Gericht soll das halten?“
„Der Großvater stirbt ein Jahr vor dem Mord an der Mutter. Unser Zeuge lebt mit seinem Cousin gemeinsam im Haus des Großvaters. Die Mutter erbt es vom Verstorbenen und gibt es dann dem Cousin weiter. Der Sohn schaut durch die Finger.“
„Das soll sein Motiv gewesen sein?“
„Jeder Befragte gab damals an, dass ein Selbstmord lächerlich sei und ihr Sohn den teuflischen Charakter hätte so etwas zu tun. Sogar der Vater sagte das aus und nachdem die Todesursache als Selbstmord deklariert wurde, zog dieser nach Australien. Er flüchtete, sage ich.“
„So diabolisch kam mir der Zeuge heute gar nicht vor“, lachte Rasch, „wie ist die Sachlage bei unserem Fall? Keine Schmauchspuren, damit scheidet er als Schütze aus.“
„Kennen Sie diese schwarzen Latexdinger? Handschuhe nennen die sich“, fragte der, sich nicht ernst genommene Ulman süffisant.
„Herr Kommissar, dann wären auf der Kleidung Spuren. Außerdem besitzt der Zeuge weder einen Waffenschein, noch eine Waffe. Ich schätze ihn auch nicht so ein, dass er sich eine am Schwarzmarkt besorgen könnte.“
„Das sagen Sie. Meine These: Er flippt aus, egal warum. Fährt in die Arbeit, mit der Gewissheit, dass alle Wohnungen in dem Zinshaus unter der Woche leer sind. Alles geplant. Niemand stört ihn, er hat Zeit. Er knallt seine Kollegen ab, weiß genau, wo er wen vor Ort und Stelle vorfindet und entnimmt seine Trophäen aus der Haut der Opfer …“
„Bitte, Herr Kommissar“, forderte der belustigte Bergländer einen Sinn zur Realität ein.
„Dann sammelt er die Patronenhülsen ein, Riss die Projektile aus der Wand, wechselte die Kleidung, kackt ins Klo und entsorgt alles Unliebsame im Restmüllcontainer vor dem Haus. Im Wissen, dass diese jede Minute abgeholt und entsorgt werden. Dann rief er, mit englischem Akzent, mit so einem, wie sagt man? ´Pri-Handi´, dass er dann später auch entsorgte, die Polizei an und kauerte sich unter die Stiegen, bis die Beamten eintrafen.“
„Wo sind die Trophäen?“
„Ich weiß es nicht. Aber Waffe, Projektile, Hülsen, Mobiltelefon und dekontaminierte Kleidung in der Müllverbrennungsanlage.“
„Wenn Ihre wahnwitzige Theorie stimmt, sind diese Beweismittel damit ohnehin verloren. Es ist neunzehn Uhr dreiundvierzig und alles verbannt.“
„Nein, der heutige Müll rund um den Tatort ist gesichert und wird von einem Heer an Spurensichern gerade durchforstet. Da fällt Ihnen der Suppenschlitz auseinander, oder?“, griente der vorlaute Mittsechziger, in Erwartung eines bestätigendes Lobes.
Wahrlich konnte Oberkommissar Rasch vor Erstaunen seine Lippen nicht mehr geschlossen halten und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von amüsiert in ungläubig-erstaunt. Kurz musste er sich fassen, um sein Gegenüber nicht mit dem Tennisball zu bombardieren und seine nächsten Worte gewillt und höflich zu formulieren. Da klopfte es an der Milchglastüre und Dr. Peter Weiss trat, ohne Hereinbitten des Büroinhabers, ein. Seine vormittägliche Tatort-Adjustierung, Einweg-Overall, Überziehschuhe und schwarze Plastikhandschuhe wichen einem weißen langen Labormantel und einer lila-rosa gestreiften Krawatte, ganz seinem Rang, als oberster Forensiker der Hauptstadt, angemessen.
„Bitte entschuldigen Sie Herr Magister Oberkommissar, dass ich hier einfach so hereinplatze, aber ich muss mit Ihnen sprechen. Sie sind ja nun der Chefermittler in dem Fall der drei getöteten Personen in Distrikt neunzehn heute Vormittag?“, bat er um Nachsicht für sein Eindringen.
„Herr Doktor Weiss. Bitte kommen Sie herein und setzen sich“, antwortete Rasch, erfreut über den zusätzlichen Know-How-Input zu dem, in eine Sackgasse führende Gespräch, mit Ulman.
„Ich komme vom Flughafen.“
„Flughafen?“
„Ja, Kommissar Ulman hatte angeordnet, dass die Müllcontainer aus den umliegenden Häuserblocks beschlagnahmt und dort in einen Hangar gebracht werden. Derzeit suchen zwölf Polizisten und vier Spurensucher, unter der Anweisung von zwei meiner Leute, nach Beweismittel.“
Das stolze Sozialbaukind fühlte sich in seiner schnellen Reaktion bestätigt und setzte ein selbstzufriedenes Grinsen auf.
„Und, was haben Sie gefunden?“, legte er selbstsicher nach.
„Herr Kommissar, wir werden dort bis Ende der Woche nicht fertig. Der Müllberg ist zu groß. Alles dreht sich um Effektivität.“
Bevor dieser noch in seiner direkten und wüsten Art antworten konnte fiel ihm Rasch ins Wort: „Was für ein Blödsinn. Ulman, ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll? Ihre wahnwitzige Theorie, dass dieser, unter Schock stehende Zeuge, der Täter ist, ist verrückt. Diesen Fall lösen wir nur mit harter Investigativ-Arbeit und nicht im Dreck. Nun haben wir einen Hangar voll Müll am Flughafen. Was soll ich dem Dezernatsleiter erzählen?“
„Herr Magister, Herr Doktor und Herr Bürgermeister. Alle feinen Leute. Wenn es Ihnen nicht passt, dann klettere ich allein in den Dreck. Ich bin im Sozialbau und auf den Straßen aufgewachsen. Ich verstecke mich nicht hinter einer Krawatte und die Krawatte nicht hinter einem Schreibtisch.“
Rasch und Weiss blickten einander, in vertraut verdutzter Weise an. Die allseits gewohnten despektierlichen Rundumschläge des Großstadteingeborenen waren wieder an der Tagesordnung. Oft kam mit dem Mundgeruch der passende Inhalt über Ulmans Lippen.
„Folgendes. Herr Kommissar. Es klingt verrückt, aber wir müssen jeder Spur nachgehen. Aber diese ist sichtlich kalt. Der Druck der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik ist immens. Alle Einsatzkräfte vom Flughafen abziehen. Wir brauchen nun eine Task-Force. Eine Talente-Aufteilung. Effektivität mit der Uhr und den Ressourcen.“
Es brodelte wieder unter des Mittsechzigers hohem Stirnansatz und seinen, mit Fett nach hinten gekämmten, zu einen Zopf gebundenen Haaren. Seine Augenbrauen, bedingt durch seine runzelnde Stirn, glitten fast über seine tiefsitzenden rehbraunen Augen und seine Hände ballten sich zu Fäusten, als Weiss kurzerhand einwarf: „Wir haben schon mit der Müllabfuhr gesprochen. Es ist erst ab Samstag möglich den Hangar zu leeren.“
„Hören Sie das Ulman? Wenn das die Presse mitbekommt. Wir füllen den Flughafen mit Müll an. Um Gottes Willen. Bis Ende der Woche will ich Ergebnisse sehen, ansonsten ziehe ich Sie von dieser Angelegenheit ab. Ich bin der erste Ansprechpartner in diesem Fall.“
„Aber es war dieser Röttgers!“, fuhr der großstädtische Kommissar aus seinem hageren, dünnen Körper.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, warf der besonnen gebliebene Weiss ein, „ich bin kein Ermittler und ich mische mich auch nicht ein, aber nichts deutet auf einen ´Overkill´ hin. Ist das nicht oft so, bei persönlichen Verbrechen aus Hass?“
„`Owakill´ - ´DaskFors´? Sprechen Sie mit mir, wie einen normalen Menschen!“, platzte der hohlwangige Mittsechziger noch mehr durch das prächtig ausstaffierte Büro.
„Aus!“, beendete der oberkommissarische Karrierist das beidseitige Fantasieren und knallte den Tennisball auf seinen eichenen Schreibtisch, „Weiss, geben Sie mit Ihrem Endbericht der Spurensuche Gas und Sie Ulman, räumen Ihren Arbeitsbereich auf. Danach suchen wir in der ´Task Force´ einen Platz für Sie. Auf geht’s meine Herren!“
Ohne Wiederwort erhob sich der zum Putzkommando abgestempelte Kommissar aus dem weißen Lederstuhl, schnappte seinen Schnellhefter und schritt, ohne ein Anzeichen einer Verabschiedungsgeste, zur Milchglastüre hinaus.
Weiss hatte in seiner langen Karriere schon mit vielen schwierigen Charakteren, aus den verschiedensten Dezernaten der Hauptstadt, zu tun gehabt. Vielleicht sogar war es Voraussetzung diesen Beruf ausüben zu können, wenn man schwierig und kantig war. Und genau aus diesem Grund wollte er die Situation noch mit einer freundlichen Begebenheit abschließen, hatten sie doch über die Jahre viele schreckliche Tatorte gemeinsam besucht und hatte er stets die Gefühlsregungen seines cholerischen Investigativ-Kollegen geduldet. Jahrelang hatte er seine Eskapaden ertragen und er fühlte, dass sich der Mittsechziger, in seinem x-ten Dienstjahr, am Ende seines Wohlfühlbereichs angekommen sah.
„Herr Kommissar! Wie ging es bei Ihrem letzten Fall, dem Blutenden am Tresen in Distrikt zehn, weiter?“
Verblüfft über das plötzliche Interesse an seiner Person und den damit verbundenen Geschichten, blieb der beleidigte Kommissar stehen und drehte sich mit frohlockendem Gesichtsausdruck, inmitten seines Dreitagesbartes, um und berichtete voller Enthusiasmus. Einen Moment war sein Groll auf die beiden Herren wie verflogen.
„Der am Tresen Verbliebene saß dort mehr als zehn Minuten allein. Ein anderer Gast kam bei ihm vorbei und bemerkte, dass er aus der Seite blutete. Der Typ sah, dass sein Hemd auf der linken Seite komplett blutverschmiert war und in dem Moment, wo ihm das klar war, sank er zusammen und stürzte vom Barhocker und verreckte. Der Typ bekam einen Bauchstich und merkte es nicht mal. Keiner wusste wer es war und niemand wollte es gewesen sein. Beim Vorbeigehen schnell hin gestochen.“
„Das ist ja tragisch“, zeigte sich der schnauzbärtige Weiss, über den Ausgang des Falles und den belustigten Enthusiasmus des lachenden Erzählers erstaunt.
„Keine Angst. Der Fall ist gelöst. Das was Leute aus den Bergen und feine Herren aus wohlhabendem Haus nicht verstehen ist, dass der Täter dann drei Tage später in einer Seitengasse, nahe der Bar mit einer tiefen Bauchwunde tot aufgefunden wurde“, berichtete Ulman mit gewohnt tiefer, kratziger Stimme. „Was ist dabei Ihre Apperzeption? Haben Sie nicht genug davon?“, fragte der Spurensucher erstaunt nach.
Der alternde Kommissar schüttelte den Kopf.
„Verwenden Sie bitte Worte, die jeder Mensch versteht. In meiner Stadt bekommt jeder seine Rechnung. Teure Rechnungen, die einfache Menschen wie ich ständig zahlen müssen.“
Noch bevor der, sich verteidigen wollende Weiss, ausführen konnte, dass sein Vater Schlosser und seine Mutter Hilfsköchin waren und ihm der akademische Weg nicht geschenkt wurde, verschwand der gedemütigte Choleriker in Richtung seiner vermüllten Schreibtischburg.
Mit der Dunkelheit zog auch wieder ein leichter Nieselregen, der viertelstündlich stärker wurde, über die Metropole am Strom. Aaron saß, voller Genugtuung, am Rücksitz des Polizeiwagens, welcher ihn zum Nordbahnhof brachte. Seine akute Fluchtangst hinter sich gelassen, machte sich in ihm ein Gefühl der Selbstzufriedenheit breit. Nun konnte er genüsslich aus dem Fenster blicken und die vorbeiziehenden Menschenmassen, ausgeleuchtet durch das künstliche LED-Licht der Straßenbeleuchtung, mit Entzücken beobachten. Wie ein Fürst in seiner Kutsche, wie aus einem geschützten Subkontinent heraus, beobachtete er das rege Treiben auf den Straßen der Großstadt, die ihn mit Amüsement unterhielten. Menschen, die versuchten vorm Regen zu fliehen, andere die mit ihren Regenschirmen alle anderen Passanten niederrammten und wieder andere, die sich aus öffentlichen Verkehrsmitteln heraus- oder hineindrängten, nur um keinen Tropfen Wasser abzubekommen. Jogger, die neben dreispurigen, stark-frequentierten Straßen liefen und unweigerlich nass wurden. Muslimische Mütter, die versuchten das Innere ihrer Kinderwägen vor dem himmlischen Nass zu schützen und Jugendliche, die lediglich mit Trainingsanzug und Frühlingsjacke unter Bäumen dem Wetterschauer zu trotzen versuchten. Nur eines konnte Aarons Stimmung noch steigen lassen, endlich wieder nach Hause zu kommen, aufs Land.
Seinen Cousin, den er als Bruder betrachtete, zu besuchen und in das Haus seiner Großeltern zurückzukehren, mit dem er die schönsten Kindheitserinnerungen assoziierte. Endlich wieder eine Vertrauensperson, bei der man sich geborgen und verstanden fühlte. Zuletzt hatte er die Hauptstadt vor gut zwei Monaten verlassen und sich auf die eineinhalbstündige Reise in seine Heimat aufgemacht und nachdem sich der, per Mobiltelefon vorgewarnte Cousin, ebenso über seine noch heutige Ankunft, freute, wie er selbst, konnte dem Tageshappyend nun nichts mehr im Weg stehen. Ja, er wollte es sogar noch verfeinern und am Bahnhof einen seiner geliebten Fast-Food-Ketten einen Besuch abstatten, um seinen knurrenden und strapazierten Magen zu besänftigen, der sich in der stressabklingenden Phase des Tages, nun mit lautem Brummen meldete.
Irgendwie schien es, als hätte er, nach dem heutigen Tag, emotional mit der Großstadt abgeschlossen. Seine Freundin war weg, seine Arbeit nicht mehr existent und ein Mörder vermutlich hinter ihm her. Dieses Betonlabyrinth konnte ihm, außer heißen Sommern und Anonymität nichts mehr geben. Nein, sie nahm ihm sogar mehr, als sie einst geben konnte. Die toleranten Abgründe der selbsternannten freien, westlichen Zivilisation bekam er bei jedem Verlassen seiner Wohnung aufgezeigt und so wollte er sich einfach nicht mehr ärgern lassen, denn aus seinem tiefsten Inneren stieg eine Grundzufriedenheit auf, welche sich anfühlte, als sei er neu geboren. Alle Lasten seines bisherigen Lebens schienen von ihm abzufallen und die selbst aufoktroyierenden schlechten Einflüsse seiner Umwelt prallten von ihm ab, wie die immer intensiver auf die Autoscheiben prasselnden Regentropfen.
Selbst als ihn, die unter Dachvorsprüngen und Vordächer kauernden Passanten anstarrten, während er direkt vor dem Bahnhof aus einem Polizeiauto stieg und im strömenden Winterregen, per Slalomlauf, versuchte seine weißen Schlapfen von Wasserpfützen fernzuhalten und sich dabei bemühte, seinen offenen Hosenbund vom Abrutschen Richtung Knie abzuhalten.
Ja, es war ihm schlichtweg egal, ob er nun sein geliebtes Fast-Food mit geschwärzten Fingern zu sich nehmen musste und er war für ein Mal in seinem Leben sogar stolz auf die Blicke, die ihm seine Montur einbrachte. Selbstzufrieden schritt er, der Gesundheit feindseligen Witterung zum Trotz, am Bahnsteig entlang, um ganz vorne in den Zug in die Heimat einzusteigen. Vorne, wo kaum jemand saß. Vorne, wo sich niemand der zugfahrenden Pendler die Mühe machte den weiten Weg von sieben Waggons den Bahnsteig abzuschreiten, um gerade dort einzusteigen.
Mit gekaufter Fahrkarte in seiner Gesäßtasche steckend, einer Papiertragetasche seiner Fast-Food-Lieblingskette in der linken und einen Getränkebecher in der rechten Hand sowie einer strahlenden U-Form auf seinen Lippen, stieg er in den vordersten Waggon des Zugs ein und machte sich auf einen Viererplatz, mit kleinem Tisch in der Mitte, breit.
Noch hatte er zwanzig Minuten bis zur Abfahrt vor sich. Niemand war weit und breit zu sehen und so packte er ein Feuchttuch aus seinem Rucksack, um sich die Hände zu waschen. Auch dieses vermochte es nicht die schwarzen Farberückstände vollständig von seinen Fingern zu entfernen. Egal. Jetzt war alles egal. Er griff in die große Tragetasche und öffnete das erste Säckchen darin. Dort verbargen sich drei Hamburger, jeweils eingewickelt in Papier. Hastig entkleidete er einen Doppelcheeseburger aus dessen Verpackung und breitete das Papier, als Unterlage, auf dem kleinen Tisch auf. Dann klappte er das zweite Säckchen in der Tragetasche auf und holte eine Schütte Pommes Frites heraus, welche er nun auf der ausgelegten Verpackung ausstreute.
Biss für Biss, oft Burger gemischt mit Pommes, dann wieder nur ein Bissen Burger, zwischendurch auch drei oder vier Pommes Frites auf einmal ohne Burger, gierte er seine Kehle hinunter. Unterbrochen wurde dieses Kauspektakel nur durch ein tiefes Saugen, am Strohhalm seines Nullkommafünf-Liter-Cola-Light-Bechers.
Nach dem ersten Burger, folgte der nächste. Nach dem Zweiten der Dritte. Rind, Huhn und Schwein in Laibchen-Form sowie frittierte Kartoffelstifte. Der fertigschmatzende Aaron war zufrieden mit seiner kulinarischen Beute und sank rülpsend und genüsslich in seinen gut-gepolsterten Zugreiseplatz. Die Augen fielen ihm zu und seine Entspannungsphase wandelte sich in ein Delirium namens Halbschlafes um.
Ungelöster stellte sich der weitere Abendverlauf für den entehrten Sebastian Ulman dar, der in der letzten Ecke seines Stamm-Beisels mit einem großen Bier und sechs Zentiliter Whisky kauerte. Den Spaßbrüdern am Tresen ging er heute aus dem Weg. Keine Schimpftiraden gegen Politiker, keine chauvinistischen Witze und keine sentimentalen Erzählungen von früheren, besseren Zeiten. Still und starr versuchte er den Tag zu verarbeiten und einzuordnen. Ein Bier, ein Gläschen Hochprozentiges und dazu drei bis vier Zigaretten. Für gewöhnlich beschreibt dies jenen Gang, den sich der morbide Mittsechziger mehrfach an so einem Kneipenabend hinter die Binsen kippte.
Weit weg waren die Spiegelfassaden der Wolkenkratzer, am anderen Ufer des Stroms, der die Metropole wie eine Sekante durchzog. Keine blinkenden, roten Warnleuchten an langen Antennen, die auf den letzten Metern, im steten Wettlauf um den Titel ´höchstes Gebäude des Landes´, ihre metallenen Verlängerungen zum regnerischen Winterhimmel zu strecken versuchten, um das dekadente Spiel für sich zu entscheiden. Immer höher und prächtiger, um jeden Neuankömmling das Gefühl, nun am modernen Puls der Zeit zu leben, zu vermitteln. Jeder rote Wimpernschlag an den Spitzen der imposanten Bauwerke, bezeugte einen taktvollen Warnhinweis an das provinzielle Umland, die großstädtische Überlegenheit an Kapital und Kultur nicht infrage zu stellen. Diesen Globalisierungswettlauf hatten die Einwohner seines Arbeiterviertels schon verloren, bevor er überhaupt begann. Das Trachten nach Prunk und Erlöse aus Immobilen waren ihm fremd. Was für den sentimentalen Mittsechziger zählte, war die Ordnung und die Verteidigung seiner altertümlichen Erinnerungen an seine Heimatstadt, als weder Internet, noch Wolkenkratzer und günstige Arbeitskräfte aus dem kontinentalen Osten seine Heimatstadt heimsuchten.
Sogleich er seine Gedanken in dunkler Atmosphäre und dichtem Zigarettenrauch dahinschwelgen ließ, malte er sich aus wie er es dem so verhassten Oberkommissar Jakob Rasch heimzahlen und seine Theorie untermauern konnte. Aaron Röttgers war der Täter und alle seine geistigen Anstrengungen, Alternativen zu finden, verliefen im Sand.
Der routinierte Ulman war sich sicher, Typen wie Aaron zu kennen. Er hatte sie schon oft genug vernommen, durchschaut und schließlich überführt. Keine weiteren Zeugen, keine Möglichkeit Kameraaufnahmen vom Tatgebäude auszuwerten und vor allem keinerlei sichtbare Spuren, die am Tatort hinterlassen wurden, außer Schuhabdrücke. Von der Größe her nicht passende Schuhabrücke. All das konnte ihn nur in diese Ermittlungsrichtung ziehen.
„Der ärmste Zeuge war es meistens“, erinnerte sich der alternde Ermittler an vorangegangene Fälle und schwelgte dann doch wieder in anderen Zeiten.
Unter seinem spärlich ausgeleuchteten Bistrotisch war er sich aber über einen Umstand im Klaren, der Schlüssel für diesen Fall war die Tatwaffe oder zumindest das ominöse Pre-Paid-Handy.
Während Oberkommissar Rasch schon mit seiner Einsatztruppe im Morddezernat die Hintergründe von Opfern, Kunden, Lieferanten und mit jedem, der in den letzten vierundzwanzig Monaten mit dem Unternehmen zu tun hatte, prüfte, raubte sich das einzelgängerische Sozialbaukind lieber selber den Schlaf. Niemals würde er sich von einem Baby-Napoleon, der von hinter seinem Schreibtisch aus, die Befehle gab, herumkommandieren lassen. Als tölpelhaft, blauäugig und infantil sah Ulman seinen Vorgesetzten. Stunden über Stunden Schlaf würde er nun seinen Task-Force-Mitarbeitern rauben. Nur um in alle möglichen Richtungen zu ermitteln und dabei immer nur seine Karriere im Fokus. Dabei war, aus des Kommissars Sicht, alles so einfach. Nachbohren, einengen und überführen. Alle Konzentration auf Aaron Röttgers. Selbst Kleidung mit Blutspritzern oder Schmauchspuren darauf, würden klar auf den Täter zuordenbar sein. Irgendwas würde Weiss noch finden. Lieber wartete der zechende Modellbauer den Endbericht der Forensik hier ab, als wie ein aufgescheuchtes Huhn seine Zeit zu verplempern und falschen Hinweisen nachzugehen.
Man hatte ja alle Informationen vom Kronzeugen. Er musste nun nur noch den Elfmeter versenken. Wo hätte der Täter denn sonst diese Dinge verschwinden lassen sollen, wenn nicht im abzuholenden Müll? Oder war es vielleicht doch ein Profi? Jemand, der seine Sache schnell abhandelte, mit einem Schalldämpfer die Bürobelegschaft lautlos niederstreckte und unauffällig wieder verschwand? Jedem Angestellten einige Stücke Gewebe, als Zeichen der Bestrafung für ihre dubiosen Geschäfte mit Lebensmittelspekulationen, entnommen? Aber wo wäre das Bekenntnis dazu? Kein Verrückter plante so etwas und wollte dann keinerlei Nachricht für die Welt hinterlassen. Der erfahrene Ulman war hin- und hergerissen und beim vierten Gang angekommen, war es ihm zu bunt. Mit einem Schluck würgte er den restlichen Whisky und goss sich das halbvolle Bier ohne Absetzen die Kehle hinunter. Die neunzehnte Zigarette an diesem Abend im Mundwinkel hängend, erhob er sich von seinem Stammplatz in der hintersten und dunkelsten Ecke des Beisels, warf sich seine, für diese Jahreszeit viel zu dünne Frühlingsjacke über und schritt zum Tresen.
„Na, Basti für heute schon genug? Gehst du nun endlich schlafen?“, amüsierte sich der Wirt, über den neuerlichen, ausgiebigen Besuch seines gesetzhütenden Stammkunden, binnen eines Tages. Der rastlose Kommissar widmete dieser Bemerkung keinerlei Bedeutung, kramte aus seiner Hosentasche die übliche Anzahl an Geldscheinen und warf sie auf den Tresen.
„Ich geh´ jetzt nicht schlafen, ich geh´ in die Scheiße!“, merkte er leise an und verschwand, leicht wankend aus dem Lokal, welches ihm schon so viele schöne Stunden in vertrauter Atmosphäre, bescherte.
Schwermotorisch versuchte er den Fahrzeugschlüssel in das Türschloss seines rostenden Citroen AX zu stecken. So wie der Alkohol Ulmans Probleme nicht gänzlich wegschwemmen konnte, so vermochte es auch nicht der prasselnde Regen, die Kotzspuren des Kronzeugen von der Seite des französischen Vehikels, zu waschen. Versuch um Versuch scheiterte und fügte dem himmelblauen Lack jedes Mal schmerzliche Stichwunden und Kratzer zu, die sich zu den bereits vorhandenen, aus vergangenen Zechtouren, anreihten. Als er es endlich schaffte den Schlüssel in das Schloss zu versenken und umzudrehen, windete er seine hagere Gestalt auf den Fahrersitz seines 1988 erbauten Vehikels, um sich dort genüsslich eine Zigarette anzuzünden und die Zündung zu betätigen.
Nun war wieder einmal der heroische Anlass gekommen, wo Musik seinen Damenspitz untermalen konnte. So gut aufgeräumt das helllederne Innere seines Wagens war, sein Handschuhfach war es nicht. Diesem Umstand und seinem schlechten Gleichgewichtssinn geschuldet, dauerte es einige Zeit oder in Ulmans Zeitraffer, eine ganze Zigarettenlänge, bis er eine Kassette herausziehen konnte. Vorfreudig schob er die Tonspur in das Abspielfach seines altgedienten Autoradios und machte sich auf die Reise.
Zu den Klängen von Celine Dion, staute er sich von einer roten Ampel zur nächsten, bis er auf die Autobahn auffuhr und mit Schneckentempo, auf der rechten Fahrspur, südlich stadtauswärts, Richtung Flughafen tingelte.