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Kapitel 2 Mittagserwachen

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Mit dem wenig fantasievollen Klingelton „Ring-Ring“ riss sein altehrwürdiges Nokia 105 Kommissar Sebastian Ulman aus seinem seichten Schlaf. Schon beim dritten „Ring“ zuckte er am Rücken liegend auf und tastete den Nachttisch nach dem bimmelnden Unruhestörer ab. Während er, geblendet von den wenigen Sonnenstrahlen, die sich zwischen Fensterrahmen und Jalousien, den Weg in sein mäßig verdunkeltes Schlafgemach bahnten, stieg der immer wilder werdende Drang in ihm hoch, dem ruhestörenden Geläut ein Ende zu bereiten. Ein Utensil nach dem anderen warf seine blind-tastende Hand vom Nachtisch, begleitet von einem lauten Geschrei. Der Schlaftrunkene erhob sich mit tobendem Gebrüll aus seinem Bett und malträtierte den Lichtschalter, nebst seiner Schlafstätte mit einem Faustschlag, so dass dieser von nun an das Zimmer hell auf erleuchtete. Bereits Taschentuchspender, Schlaftabletten und eine halbleere Flasche Bier lagen am Boden, bis Ulman endlich sein Mobiltelefon ergreifen und abnehmen konnte.

„Wissen Sie wie spät es ist?“, murmelte er mit seiner tiefen, kratzigen Reibbrettstimme in den Apparat.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung Herr Kommissar. Hier spricht die Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Ich weiß, Sie kommen aus der Nachtschicht und konnten nur wenige Stunden rasten“, entgegnete eine zittrige, eingeschüchterte Stimme am anderen Ende der Leitung.

Kommissar Ulman war von Haus aus kein Mann langer Konversationen und schon gar nicht über das von ihm verhasste Mobiltelefon. Daher versuchte er stets Fragen, welche eine Unterhaltung verlängern würden zu vermeiden und lieber eigenständig zwischen den Zeilen zu lesen oder das Gehörte in interpretative Kombination zu setzen.

„Ich hatte Sie gefragt wie spät es ist? Aber egal. So weiß ich es nun auch. Mahlzeit“, entgegnete er dem Anrufer mit einem leicht versöhnlicherem Ton.

„Herr Kommissar, Sie müssen unbedingt zu einem Tatort kommen. Ich sende Ihnen die Adresse per SMS. Ihre Hilfe wird dringend benötigt!“

Ulman beendete das Telefonat mit einem tiefen Seufzer und der kurz angebunden Antwort „Ja“, betätigte den roten Druckknopf seines Tastentelefons und warf es wieder auf den Nachttisch.

Für gewöhnlich tat er sich mit dem Wachwerden recht einfach, hatte er doch seit geraumer Zeit Probleme einzuschlafen und seine Arbeit war dadurch eine willkommene Abwechslung zu der tristen Einsamkeit in seiner kleinen Garconniere. Vielleicht war es genau diese Tätigkeit, die ihm den Schlaf raubte? Der alternde Ermittler war einer jener Menschen, die lebten um zu arbeiten und nicht arbeiteten um zu leben. Doch die stetigen Kopfschmerzen nach dem Erwachen, ließen ihn die natürliche Lust auf Schlafen vergehen. Seine spärliche Freizeit verbrachte er in Beisln, Kneipen, Spelunken, Bars und im Zusammenbau von Modelschiffen, welche die Regale und Stellagen seines engen Wohnraums zierten. Durch den von Schmutzwäsche, Zigarettenstummeln, Verpackungsrelikten, leeren Bierflaschen und Essensresten übersäten Laminatboden seiner Wohnung kämpfte er sich von seiner Schlafstätte, durch die kleine Küche, in das Badezimmer, welches nur aus einer schmalen Dusche und einem Waschbecken bestand, vor. Die im Stiegenhaus verortete Toilette durfte er sich mit seinen zwei Nachbarn teilen. Am putzigen Waschbecken des Minibadezimmers angekommen, welches sich seit dem letzten, lange zurückliegenden Putzganges, schon von weiß in ein leicht gräuliches Braun verwandelt hatte, wusch er sich sein Gesicht mit warmen Wasser ab und starrte für kurz in den darüber hängenden Spiegel. Kaum noch ein säuberliches Bild seines Benutzers gab dieser wieder, war er doch ebenfalls seit einiger Zeit nicht mehr von verkalktem Spritzwasser- und Haarfettresten befreit worden. Zumindest zurückgebliebene Zahnpaste-Reste konnten die Beobachtung seines Antlitzes optisch nicht einschränken, weil eine Spülung mit Mundwasser seinen Hygieneansprüchen einer Morgentoilette genügte. Zwar brachte ihm diese Herangehensweise bereits die Verluste von drei Backenzähnen und eines Schneidezahnes ein, doch dies kombinierte der Mittsechziger eher mit seinem Frühpensionsalter.

Seine genicklangen, schwarzen Haare hingen in sein faltiges Gesicht und verdeckten seine tiefliegenden, rehbraunen Augen, die bei jedem ersten Kennenlernen seinem Gegenüber einen vertrauten Eindruck hinterließen, aber auch nur, wenn der Lichteinfall für den Betrachter der richtige war und diese nicht durch seine ausgeprägte Augenbrauenpartie beschattet wurden.

Ulman öffnete ein kleines Kästchen nebst des Spiegels und kramte einen schwarzen Kamm hervor, der ihm seit Jahrzenten gute Dienste leistete, legte ihn auf das Waschbecken und presste einen dicken Patzen Haargel darauf. Alle Bewegungen liefen in Zeitlupe ab, um seinen, von Kopfschmerzen geplagten Kopf, so wenig wie möglich zu bewegen. Die genicklangen Haare frisch nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, roch er an seiner Vortagskleidung, die über den Duschtürrahmen hing. Dem Genuss von gut zwanzig Zigaretten während der letzten Nachtschicht, sowie ein frühmorgendlicher Besuch in seiner Stammkneipe, bevor er sich in sein einsames Bett windete, war es zu verdanken, wollte er das gelb-braun-grün gestreifte Hemd und die graue Stoffhose, wie gewöhnlich noch zumindest einmal tragen, dass er das Gewand vom verrauchten Gestank des Vortages befreien musste. Hierzu warf er beide Kleidungsstücke in die Dusche und deckte sie mit einer großen Gaswolke voll Deodorant ein. Obwohl seine, einst weiße Unterwäsche, ebenfalls schon die Farbe des Waschbeckens angenommen hatte, streifte er Hemd und Hose über diese und trappte zur Eingangstüre der Garconniere, wo er Dienstwaffe, Marke und seine billige Armbanduhr, dessen Lederband bereits spröde und ausgeleiert war, anlegte.

„Heute mal Frühstücken?“, überlegte sich der großstädtische Ermittler, „ja, heute nehme ich mir die Zeit.“

Vorbei an seiner mit ungewaschenem Geschirr zugepflasterten Küchenarbeitsfläche, kämpfte sich die hagere und knöchrige Gestalt nochmals über den, am Boden befindlichen Unrat, zu einer Kommode, welche die einzige in dem Wohnraum war, die nicht mit Modellschiffen, übervollen Aschenbechern oder eingegangenen Topfpflanzen bestückt war. Sein rechter Zeigefinger streifte über eine Aneinanderreihung von sorgfältig angeordneten Glasflaschen. Der großstädtische Ermittler war sich unschlüssig: „Rum, Whisky, Wodka oder doch Gin?“ Seine Frühstücksmusterung endete bei einer Flasche ´Don Papas´-Rum, den er sich friedlos in ein schmutziges Glas leerte und hinunterschlang.

War Sebastian Ulman vielleicht nicht der gesprächigste, best-gekleidete oder Körperhygiene hochachtungsvollste Kommissar des Morddezernats, er hielt jedoch viel von hochwertigem Hochprozentigen. Und entgegen seiner Kneipenbesuche, die er mal gesprächig am Tresen, mal leise trinkend in einer dunklen Ecke verbrachte, bis er kein Glas mehr halten konnte, genoss er es, dass zumindest ein etwas anspruchsvolles Zuhause auf ihn wartete. Es konnte auch schon einmal vorkommen, dass ihn seine Spirituosensammlung sogar hie und da dazu verleitete eines von zwei Fenstern seines Wohnraums zu öffnen und mit einem guten Glas in der Hand, das darunter befindliche, städtische Parktreiben zu beobachten.

Sicherlich war es auch sein Alter von Anfang sechzig, das seiner Meinung nach die tiefen Falten auf seiner Stirn und seinen hohlwangigen Wangen mit sich brachte, doch diese Art von Frühstück trug sicher einen großen Teil dazu bei, dass die tiefblauen Augenringe, welche sein Gesicht markant zierten, seinen genetisch, vorbestimmten Zellverfallsprozess deutlich beschleunigte. Sein Spiegel vermochte ihm keinen genauen Anblick seiner selbst zulassen und tief in seinem Inneren wusste er auch wohl, warum der nächste Wohnungs-Putzgang schon seit zwei Monaten auf sich warten ließ, denn wie er es auch hasste von anderen belogen zu werden, so belog er sich selbst täglich am meisten. Keine fünf Sekunden dauerte es, da war des Modellbauers Frühstück auch schon Geschichte. Und weg waren die Kopfschmerzen. Er surfte wieder auf seiner Welle.

Gekonnt platzierte er das gebrauchte Glas auf dem Geschirrberg in der Küche, ohne dass dieser aus dem Gleichgewicht kam. Das verhasste Mobiltelefon eingesteckt und nur mit einer dünnen Frühlingsjacke bekleidet, verließ er seine Festung der deprimierenden Einsamkeit in Richtung Tatort.

In seinem himmelblauen Citroen AX sitzend, die Standheizung voll aufgedreht, machte sich der alternde Ermittler daran, die von der Polizei-Leitstelle per SMS zugsandte Adresse nachzulesen. Wie er zum wiederholten Male die falsche Tastenkombination seines Nokia 105 drückte und noch immer nicht in das gewünschte Sub-Menü vorstoßen konnte, schleuderte er es mit einem lauten Schrei auf die Innenseite der Beifahrertür, so dass es auf dem Beifahrersitz zum Liegen kam. Der Grobmotoriker aus einem anderen Jahrzehnt hatte keine Nerven für diesen technischen Firlefanz und stieg aus seinem Auto aus, um dem Beisel auf der anderen Straßenseite einen kurzen Besuch abzustatten. Während sich sein, in die Jahre gekommenes Fortbewegungsmittel, noch immer unverschlossen auf offener Straße per Standheizung aufwärmte, trat Ulman in die, ihm gut bekannte, Spelunke ein und bat um Benützung des Festnetztelefons.

„Guten Morgen Basti!“, begrüßte ihn der verwunderte Wirt, der gerade mit Gläsern abtrocknen beschäftigt schien, „schon wieder im Dienst nach der harten Nacht?“

Die wenigen Gäste, die aufgeteilt auf dem Tresen und den gut zehn Bistrotischen des dunklen Etablissements saßen, blickten alle auf den wiederkehrend Eintretenden und erwarteten in ihrer nichtstuerischen Neugier eine Antwort.

„Das Verbrechen schläft nie. So wie ich. Was ist nun mit dem Telefonat?“, entgegnete, der in Eile geratene Kommissar.

Der exzentrische Wirt presste seine Lippen zu einem Kussmund zusammen und deutete zum Standort des gewünschten Apparates, um dann die so oft gestellte Frage aller Fragen in Richtung des immer wiederkehrenden Gastes zu stellen: „Und was darf es zum Trinken sein, Rum?“

„Nein. Heute nicht“, lehnte Ulman dankend ab, während er die Telefonnummer der Leitstelle skoptisch eintippte. Nach dem ersten Wählton fuhr er dann doch mit seiner Ausführung fort: „Heute nehme ich einen „Black Label.“

„Leitstelle der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ja, Kommissar Sebastian Ulman hier“, sprach er in den Hörer und beobachtete zugleich das Einschenken seines hochprozentigen Getränkes.

„Der Kommissar Ulman? Es ist mir eine Ehre. Warum rufen Sie auf der Notrufnummer an?“

„Egal. Bitte. Ich wurde zu einem Einsatz gerufen und kann die Adresse von diesem Mobiltelefon nicht ablesen. Es muss kaputt sein.“

„Haben Sie schon versucht in das Menü zu gehen und auf ‚Nachrichten abrufen‘ zu tippen?“

„Los, geben Sie mir einfach nochmals die Adresse durch.“

„Entschuldigen Sie Herr Kommissar, aber ich darf Ihnen die Adresse nicht per Telefon durchsagen. Vorschriften. Ich habe alles über Ihre schwierigsten Fälle in der Polizeischule gelernt. Ich möchte Ihnen sagen wie sehr ich Sie bewun …“

„Geh scheißen!“, schrie der passionierte Choleriker und nippte lieber an seinem frisch servierten Whisky.

Der alternde Ermittler drosch den Hörer auf das Wählgerät und rannte aus dem Beisel, um mit dem Slalomlauf durch die stauenden Autos, auf die andere Straßenseite, zu seinem parkenden französischen Oldtimer, zu gelangen. Wenn ihm eines im Leben wichtiger war, als sich sein derbes Dasein schön zu saufen, dann seine Arbeit. In seinem nun vollständig auf fünfundzwanzig Grad aufgeheizten Fahrzeug angekommen, erinnerte er sich nochmals, was ihm sein junger Kollege im Telefon vorgeschlagen hatte. Der Technikverächter replizierte nochmals seine Worte, während er sein Mobiltelefon genau betrachtete. „Menü drücken. Dann Nachrichten abrufen. Ha!“, jubelte er, „ich habe es geschafft. Niemanden brauche ich, außer meinen Verstand!“

Freudig legte er den ersten Gang seines Citroen AX ein und machte sich auf den Weg zu der gesandten Tatortadresse. Während er sich von Ampel zu Ampel staute, stand ein breites Grinsen inmitten seines Dreitagesbartes. Endlich schien wieder ein spannender Fall, in einem gut betuchten Wohnviertel seinen tristen Arbeitsalltag aufzupeppen.

Karriere über seinen Kommissarsposten hinweg wollte der morbide Mittsechziger sowieso nie machen, da er den übermäßigen Umgang mit dilettantischen Menschen sowieso nur aus dem Weg ging, wo er nur konnte und ihm mögliche Personalverantwortung an den Schreibtisch fesseln würde.

Kommissar Sebastian Ulman war ein Kind der Großstadt. Ein Mann, der knifflige und schwierige Fälle durch seine Kombinations- und Beobachtungsgabe löste und dabei, von seiner Kindheit in einem übervölkerten Sozialbau, profitierte. Musste er schon Menschen um sich herum dulden, dann zumindest solche, welche seine rauborstigen Sprache und Umgangsformen verstanden. Diese empathischen Fähigkeiten gegenüber der einfachen Bevölkerung konnte man auf keiner Polizeiakademie erwerben und mit ausgelerntem Kadetten-Frischfleisch, wie er seine nachrückenden, jungen Kollegen nannte, wollte und konnte er sich nicht herumschlagen. Keiner von denen würde mit einem Schritt den rechten Pfad der Vorschriften verlassen. Ulman schon. Und das war, mitunter, sein Erfolgsrezept.

Die Wartepausen bei unzähligen roten Ampeln nutzte er mit einem routinierten Griff in das Handschuhfach seines 1988 vom Band gelaufenen französischen Vehikels, welches schon so gut wie reif für die Schrottpresse war, allerdings noch immer zweiunddreißig Jahre weniger auf dem Buckel hatte als sein Besitzer und holte eine Tablette Aspirin Akut hervor, welche er prophylaktisch runterschluckte.

Nur im Schritttempo vorankommend kurbelte der nikotinsüchtige Mordermittler das Fahrertürfenster nach unten, um den überheizten Wagen durchzulüften und zündete sich dabei gleichzeitig eine Zigarette an. Der nun hereintönende Straßenlärm machte ihm nichts aus, denn was für einen Landmensch das erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war des Großstädters, der seit jeher bestehende und niemals versiegende Straßenverkehr. Mit einem tiefen Zug von seinem Glimmstängel hoffte er nun, dass für die nächsten paar Minuten ein bisschen Ruhe einkehrte.

Stadtflucht

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