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Kapitel 5 Unmodische Aufmachungen
ОглавлениеDer sich verfassungsrechtlich selbsternannte Föderalstaat fand in seiner ehemals kaiserlichen Kapitale das politische, kulturelle und normative Zentrum sowie sein weltumspannendes Sprachrohr. Demgegenüber stand das provinzielle und spartanisch ausgestatte Land, dessen jahrhundertelange Prädestination es war, im peripheren Sog der hegemonialen Metropole am Strom, all sein menschliches Bildungstalent und Fiskalzuwendungen abzutreten. So, wie die staatlich unterschiedlich gewichteten Gebietskörperschaften mit sich umgingen, so behandelte Kommissar Sebastian Ulman nun auch den einzigen Zeugen der Morde in Distrikt neunzehn, Aaron Röttgers.
„Kommen Sie, aussteigen. Mit Ihren schmutzigen Lumpen versauen Sie mir auch noch meine Ledersitze“, war der alternde Ermittler außer sich, als er die verschmierte Kotze, auf der Seite seines himmelblauen Citroen AX, schockiert wahrnahm. Peinlichkeit konnte man Aaron in dieser deplatzierten Sachlage nicht nachsagen. Vielmehr war er bekannt als positivistischer Nehmer und pessimistischer Geber von Zuneigung und Gefühlen. Der Zustand des geliebten französischen Gefährtes war ihm genauso egal, wie die pathetische Befindlichkeit des aufgebrachten Besitzers. Lediglich seine zwischenmenschliche Ausgangslage sah er in einem diffuseren Licht erscheinen.
„Bitte entschuldigen Sie die Verunreinigung. Mir ist das alles einfach zu viel. Ich möchte nur nach Hause“, quälte er sich aus seinem Tunnel der Übelkeit und Ohnmacht in die graue Tristesse des großstädtischen Nachmittags zurück.
„Das hätten Sie wohl gerne. Zuerst kommen Sie mit, eine Aussage machen und dann schauen wir weiter“, wies ihm der tobende Mittsechziger zurecht und zerrte den einknickenden Beifahrer aus dem beschmutzten Oldtimer. Grob, schob Ulman seinen einzigen menschlichen Anhaltspunkt in diesem Fall, zur Seite, trat seine Kotze-verschmierte Autotür mit seinen schnürsenkellosen Lederslippern zu und versperrte das Schloss per Hand, während er den taumelnden und zusammensackenden Kronzeugen mit der anderen, festhielt und austarierte.
Ohne Widerrede folgte Aaron dem bedienten Kommissar in das Hauptgebäude der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost, welches die gegenüberliegende, blattlose Birkenallee genauso in seiner Glasfassade spiegelte, wie das defätistische, winterliche Farbloskonzept der sich rings um auftürmenden, winterlichen Hauptstadt. Die prächtigen Weihnachtsbeleuchtungen waren abgebaut und was blieb, war die nackte Realität des kahlen Februars.
Schon im Eingangsbereich musste der rampenlichtscheue Aaron feststellen, dass alle Blicke und das Getuschel der umherschweifenden Polizisten, Beamten und Passanten auf ihn einprasselten. Nicht nur äußerlich gab er ein miserables, verschmutztes und genötigtes Bild ab, auch innerlich.
„Wen hat Ulman da mitgebracht?“ - „Ist das der Mörder?“ - „Schau in sein Gesicht, der weiß was ihm jetzt blüht!“ – „Schaut wie ein Penner aus!“
Egal durch welche Glastüre man den großzügigen Sechzigerjahrbau betrat, alle führten sie zu einem Eingangs-Check-Point. Sowie ein Beamter auf Aaron zukam, um ihm seinen Rucksack abzunehmen, an den er sich wie ein Kleinkind an ein Stofftier klammerte, winkte der genervte Kommissar seinen Kollegen zur Seite.
„Der Herr hier wird oben gründlich durchsucht, da greift ihr nur Beweismittel an“, klärte Ulman den zurückweichenden Beamten, der für gewöhnlich die Aufgabe hatte alle unbekannten Eintretenden, wie an einem Flughafen-Check-In, zu durchsuchen. Körperscan und Gepäckröntgen inklusive.
„Alles klar, Herr Kommissar, dann gehen Sie nur durch und durchleuchten Sie den Gauner im Morddezernat. Aber den Metallscan kann ich ihm nicht ersparen.“
Gauner? Mörder? Wie eine nachgezogene und präsentierte Trophäe kam sich Aaron vor, der durch die Unangenehme der Lage wieder aus seinem Schockzustand geschliffen wurde, in welche ihn die gleiche Unangenehme befördert hatte. Wie ein Verfemter auf dem Weg zur Hinrichtung, dem alle nochmals mitgeben wollten, welch schlechter Mensch er sei. Solche Umstände kannte er in seinem Leben nur zu gut. Aber in dieser speziellen Situation fuhren ihm Erinnerungen aus seiner Schulzeit durch den Kopf. Wieder einmal war er von einem Mitschüler verpetzt worden, wieder einmal war er bei einem Streich ertappt worden, wieder einmal hatte er vermehrt den Unterricht mit unangebrachten Kommentaren gestört oder wieder einmal hatte er sich mit einem Kommilitonen am Schulhof geprügelt. Wieder einmal musste er darauf den Weg in die Direktion antreten. Wie ein Gang nach Canossa brannten sich das Getuschel der Schüler und die vorverurteilenden Blicke der Lehrer, die seinen Weg säumten, in sein Gedächtnis ein. Aber heute würden wohl nicht seine Eltern in die Schule zitiert werden, die ihm, ob seines vermehrt schlechten Benehmens, zuhause die Hölle heiß machten. Nein, heute musste er die Suppe selbst auslöffeln. „Aber eigentlich welche Suppe denn?“, dachte sich der geistesabwesende Tagträumer. Er hatte ja nichts verbrochen, außer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein.
Die bestimmende Stimme des Beamten riss ihn aus seinen Gedanken: „Bitte Rucksack auf das Förderband legen. Alle metallischen Gegenstände wie Mobiltelefon, Feuerzeuge, Geldbörse, Ringe und Gürtel in diese Box.“
Mit einem tiefen Schnaufen und wankendem Körperschwerpunkt leistete der Zeuge wortlos Folge und ging dann durch den Körperscan. Alle drei Beteiligten warteten auf einen Signalton, der beim Durchschreiten des Scans ausblieb und so wurde Aaron durchgewinkt. Hastig steckte er seine metallischen Habseligkeiten wieder in die Taschen und band sich seinen Gürtel, mit der gleichen fehlenden Körperspannung um, wie er ihn mühsam ausgezogen hatte.
Gelangweilt von der Prozedur machte sich der hetzende Ulman bereits auf den Weg zu einem von sechs Fahrstühlen, die sich nach dem Eingangs-Check-Point beidseitig an einem langen, mit Marmor ausstaffierten Gang, auffädelten.
Aaron konnte es nicht erwarten die großzügige Eingangshalle mit ihren gaffenden und tuschelnden Zusehern zu verlassen und marschierte ihm, noch an seinem Gürtel hantierend, schnell hinterher.
„Halt!“, pfiff der Beamte, den friedlosen Wegeilenden, hinterher, „Sie haben Ihren Rucksack und Ihre Jacke vergessen.“ Mühsam taumelte Aaron wieder einige Schritte retour, zog sich seine Daunenjacke über, brachte es im Stillstand der Aktion endlich fertig seinen Gürtel zu schließen und presste den blau-weiß karierten Rucksack wieder vor seine Brust. Ähnlich einer Schutzweste gegen seine Umgebung, hielt er das Gepäckstück vor seinen Oberkörper.
Als sie endlich einen der geräumigen Fahrstühle betraten, verkroch sich der eingeschüchterte Zeuge in die hinterste Ecke der Kabine und umklammerte seinen Rucksack so stark, als wollte er sich dahinter verstecken.
„Geht es ihnen schon besser?“, erkundigte sich der, erstmals höflich und besorgt agierende Kommissar und drückte auf den Knopf mit Nummer drei, zur Auffahrt in das vierte Stockwerk.
Mit so viel Mitgefühl von diesem Mann rechnete niemand in der Fahrstuhlkabine und wohl am wenigsten Ulman selbst. Aber der, psychisch und physisch Bankrott wirkende Kronzeuge war nun mal sein erster und vielleicht einziger Anhaltspunkt zur Aufarbeitung dieses tragischen Vorkommnisses im Distrikt neunzehn.
„Ja. Was ist denn nun genau passiert? Mir ist einfach alles zu viel. Wann kann ich nach Hause gehen?“, fragte Aaron, mit weinerlicher und jammernder Stimmlage, welche sich immer mehr zu einem Ausdruck seines gefühlskalten Schauspieltalents transformierte. Denn obwohl, weder sein Unwohlsein, noch der vermehrt hochfrequente Blutfluss in seinem Körper abflachten, kam er geistig immer mehr zu seiner pragmatischen Kontemplation zurück. Doch eines war ihm klar. Nun den abgebrühten Hartgesottenen zu spielen brachte ihn, egal was er nun in einer Befragung zum Besten gab, nicht auf schnellstem Wege in sein wohliges Schlafgemach. Folgend versuchte er die pulsierende Leere in seinem Brustkorb zu konservieren und aus ihr jene bemitleidenswerte Gestalt zu mimen, die ihn an sein Ziel brachte.
Kommissar Ulman grinste, ob des wimmernden Fragereigens des im Aufzugeck Kauernden, um dann, abrupt seine Mundwinkel fallen und seine Augenbrauen, bedingt durch seine tieffaltige, runzelnde Stirn, über seine rehbraunen Augen gleiten zu lassen: „Wenn es nach mir geht, gehen Sie nie wieder nach Hause!“
Diese Aussage warf Aarons Besinnungsrückkehr wieder um einige Stunden und Adrenalinschübe zurück. Der zuvor einsetzende warme, motivierende Schauer verkrampfte sich wieder zu einem kalten vom Gesäß bis zum Hals führenden. Er riss sich die Haube vom Kopf, um seine schwitzende Stirn zu kühlen und packte sie in die Tasche seiner dicken Daunenjacke, die er nun ebenfalls öffnete, um Frischluft an seinen Brustkorb zu fächern. Bevor er sich noch selbst fragen konnte, ob er nun doch in die Offensive gehen, um seine Redegewandtheit und schauspielerischen Fähigkeiten zur Verteidigung einzusetzen. oder weiterhin alles mit sich machen lassen sollte, was ihm dieser Rüpel von Beamter anschaffte und unterstellte, stoppte der Fahrstuhl und Ulman forderte ihn, mit einem diktierenden Fingerzeig auf, herauszutreten und ihm weiterhin zu folgen. Der selbsternannte Menschenleser, welcher das gesellschaftliche Verhalten genauso wenig verstand, wie die Beweggründe manchen überspitzten Handelns, hatte zwar schon einige Beobachtungen zu Charakter, Vorlieben und Schwächen des cholerischen Mittsechzigers gemacht, aber jetzt auf einmal den gesprächigen und kooperativ-zuvorkommenden Lakai zu spielen, wäre wohl des taktischen Kurswechsels zu viel gewesen. Es blieb ihm nichts anderes übrig als seinen schwitzenden und pulsierenden Körper hinter dem alternden Ermittler herzuschleppen.
Ulman ging rechter Hand des Fahrstuhls einen braungefliesten Gang entlang, welcher nach gut zehn Metern an einer großen Milchglastür endete. Aaron stützte sich an der marmorvertäfelten Wand ab und beobachtete seinen hageren Wegweiser mit kurzem Pferdeschwanz, wie er mit schneller Fingerkombination einen fünfstelligen Code in eine Tastatur, rechts neben der Türe eintippte, bis diese einen Summerton von sich gab und öffnete. Ulman drückte die Türe auf und drehte sich zu seinem widerwilligen Verfolger um: „Eintreten und setzen.“
Ohne Widerwort folgte ihm dieser und nahm auf einer langen Holzbank, gleich links neben dem Eingang, Platz.
„Sie warten hier. Haben Sie einen Ausweis dabei? Wenn ja, geben sie ihn mir“, erläuterte der zur Bürokratie kommende Beamte das weitere Vorgehen mit kurzer und bestimmender Reibbrettstimme. Zwar war Aarons Verstand in die Klarheit zurückgekehrt, aber sein Körper konnte mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Seine Atmung wurde immer schwerfälliger. Mit letzter Kraft kippte er sein Gesäß zur Seite und holte aus seiner rechten, hinteren Hosentasche sein Portmonee heraus. Darin stocherte er, inmitten seiner Sozialversicherungs- und Kreditkarte, seinen Personalausweis hervor, reichte es dem einfordernden Kommissar und begleitete die Übergabe mit einem tiefen Blick in dessen beschattete, rehbraune Augen. Als wollte er ihm noch eine telepathische Epistel mitgeben, dass hinter dem schwitzenden Gesicht und der weinerlichen Stimme, noch ein bestimmender und zielstrebiger Charakter verborgen lag, den man lieber nicht in die Enge trieb. Nicht mehr als drei Sekunden dauerte der Blickkontakt der beiden braunäugigen Einzelgänger an. Doch zumindest bei Ulman schien das kurze seelendeklarierende Intermezzo grübelnde Nachwirkungen hinterlassen zu haben. Denn als er sich, mit des Zeugen Personalausweises in der Hand, auf den Weg zum Empfang machte, blieb er kurz stehen, drehte sich um und musterte nochmals den auf der Holzbank Kauernden, welcher seinen Rucksack umarmte und starr, wie in Trance versetzt, die anthrazitfarbenen Fliesenboden neben seinen Winterschuhen fixierte. Für kurz schoss dem altgedienten Mittsechziger ein marternder Stich durch den Kopf, als hätte er durch die kalten und müden Augen dieses Mannes in seine eigene Seele geblickt. Nur, dass jene des Kronzeugen kohlschwarz und seine graumeliert war. Für einen Mann, der schon so viel Gräuel und Übel durch alle gesellschaftlichen Couleurs hindurchgesehen hatte, wäre dieser Eindruck keine Seltenheit gewesen, aber die Verstörtheit, Kaltblütigkeit und Verachtung der Welt, welche der hartgesottene Ermittler nur in dieser kurzen Blicksequenz empfing, schockierte ihn zutiefst. Dann setzte er seinen Weg fort und übrig blieb Aaron, der seine Fassung an den Boden verlor. Eine anthrazitfarbene Fliese fügte sich an die nächste, nur durch weiße Fugen unterbrochen, welche sich über die Jahrzehnte in beige färbten. Welche Mörder, Verbrecher und traumatisierte Zeugen mögen wohl schon darüber gewandert und auf dieser Holzbank gesessen haben? Zu Aarons Linken war ein längliches Vorzimmer, welches an einem Empfang mündete und zu seiner Rechten eine Milchglastüre, in dessen Mitte er, seitenverkehrt, in klarem durchsichtigem Glas, das Wort ´Morddezernat´ entzifferte. ´Morddezernat´, weit war der aufmüpfige Problemschüler vergangener Tage gekommen. Schon wieder.
Früher wartete er mit den gleichen Schweißausbrüchen, dem gleichen schweren Atem, dem gleichen mulmigen Gefühl im Magen und dem gleichen Tinnitus, hervorgerufen durch das Blut, welches rasant in seinen Kopf schoss, vor der Direktion seines Oberstufengymnasiums. Im gleichen Bewusstsein, für die unangenehmen Folgen seiner schäbigen Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber heute? Die gleiche Konstitutionskette, aber verbrochen hatte er nichts. Anders als vor der Schuldirektion, wo sich die Ausdünstungen, oft wohltuend, oft ekelerregend, von achthundert Schülern und neunundfünfzig Lehrern, mit jenen der Schulbuffetfritteuse und der stapelweisen Naschereien-Anhäufungen der Direktionssekretärinnen vermischten und seine Nase, mit der allumfänglichen Mixtur peinigten, die wohl alle Gerüche der Welt in sich beherbergte und ihn allumfänglich mit schlechtem Karma belegte, roch es hier neutral. Sein Riechorgan war komplett taub. Nicht einmal seine verdreckte Kleidung sonderte etwas Verwertbares für diesen Sinn ab. Weder Putzmittel, noch Speisen, noch nach Menschen. Nur die über ihm brummende Klimaanalage, die unaufhaltsam frische Luft in das alte, renovierte Gebäude blies, beförderte hie und da die Essenz von Hausstaubgeruch in den Wartebereich.
„Ein frigider Ort mit sterilen und gefühlskalten Menschen“, dachte sich Aaron konstatiert und versuchte wieder Herr über seine Hormonausstöße, Transpiration und Atmung zu werden. Was für ein Tag. Noch vor acht Stunden kroch er wie jeden Tag unmotiviert aus seinem Bett und begrüßte die Welt außerhalb seiner Wohnung mit der gleichen Abfälligkeit, mit dem sie ihn zu begegnen gewohnt war. Sein Bett, sein Fernseher, seine Spielekonsole, ja, er dachte sogar kurz an seine Ex-Freundin, mit der er mehr Streitigkeiten auskämpfte, als zärtliche Momente verbrachte. Nach all dem sehnte er sich wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und überhaupt, egal was da an seiner Arbeitsstätte heute Morgen vorfiel, nichts würde mehr so sein wie zuvor. Das, was er bezeugen konnte, verhieß nichts Gutes. Zugegeben, er mochte seine Arbeit nicht besonders, doch schätzte man ihn dort ob seiner Redegewandtheit und seines Verhandlungsgeschicks. Seine Kollegen nahmen ihn so wie er war. Aber welche Arbeit, außer reicher Lebemensch, passte schon zu Aaron? Aus einer Sicht hatte er nur ein Leben und jede Sekunde, die er als Arbeitnehmer verbrachte, war eine verlorene. Seine positivistischen Erdungspunkte in der grausamen Welt schienen nun vollkommen zerbrochen. Kein Job, keine Lebensgefährtin, keine Anonymität.
„Wäre ich doch nicht so feige“, kanzelte er sich ab, „und wäre ich doch nicht so gespannt darauf, wer der nächste Fußballmeister werden würde!“ Der ständige Ärger über seine Umwelt und die Verzweiflung über seine Hilflosigkeit. Wäre er nicht so feige und neugierig auf die nächsten Sportergebnisse, sein jämmerliches Dasein hätte er schon längst selbst beendet. Allmählich fasste er sich und zog seine dicke Daunenjacke aus. Seine Atmung normalisierte sich und den weggewischten Schweißperlen auf seiner Stirn folgten keine weiteren mehr. Mit Fortdauer des Wartens schob er jegliche Suizidgedanken beiseite und fasste, wie so oft, darin neuen Mut irgendwo anders ein neues Leben anfangen zu können.
Norwegen? Keine heißen Sommer. Schottland? Ewige Weiten und keine Menschenmassen. Kanada? Egal wie schlimm die Klimaerwärmung werden würde, dort bekäme er sicher wenig davon mit. Und als er seinen flüchtenden Zukunftsgedanken freien Lauf ließ, um sich moralisch wieder selbst aufzubauen, unterbrach eine piepsende Frauenstimme seine innere Eintracht.
„Herr Röttgers? Bitte kommen Sie mit mir.“
Eine Frau mittleren Alters mit flachen Damenschuhen, einem hellgelben Hemd, welches in eine dunkelblaue Stoffhose gesteckt und von einem weißen Medizinerkittel bedeckt war, lächelte ihn an.
„Mein Name ist Krings. Wir müssen einige Tests machen. Darf ich Sie bitten mir vorab Ihren Rucksack und Ihre Jacke auszuhändigen?“
Durch ihre freundliche Art konnte sie Aarons archivierten und niedergeschmetterten Gesichtsausdruck eines seiner wenigen Lächeln am heutigen Tag abringen und so gab sich dieser sehr höflich und kooperativ: „Gerne“.
Er folgte ihr in einen Raum, der gleich nach dem langgezogenen Empfangsbereich lag und die Spurensicherung beherbergte, was anhand eines Türschildes mit dieser Aufschrift, zu erkennen war. Die Frau schloss den Zugang und stellte sich vor: „Mein Name ist Isabella Krings, ich arbeite für die Spurensicherung im Morddezernat der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost. Haben Sie Fragen an mich?“
„Ja“, entgegnete Aaron aufgekratzt, einen anderen Menschen in dieser unangenehmen Angelegenheit als Kommissar Ulman sprechen zu können, „was ist genau passiert und was wirft man mir vor? Kann ich danach nach Hause gehen?“ Ihm war klar, dass zumindest die letzte Frage sehr optimistisch ausfiel, er aber unbedingt in Erfahrung bringen musste, was sich heute Morgen genau ereignet hatte.
Mit stoischer Ruhe fixierte die Spurensicherin ihre blonden Haare zu einem Dutt, setzte sich eine gelbumrandete Brille auf und zog sich schwarze Einwegplastikhandschuhe über ihre feingliedrigen Hände, so als wolle sie für die nun folgende Antwort Zeit zum Überlegen gewinnen. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Kommissar Sebastian Ulman hat mich gebeten Ihre Kleidungsstücke und Utensilien, sprich deren Inhalt zu sichern. Daher haben wir für Sie vorübergehend Ersatzkleidung parat. Ist das in Ordnung?“
Ungläubig, aber im gezwungenen Willen, in allem was von ihm verlangt wurde Kooperation zu zeigen, blickte er in ihre grün-grauen Augen, um dann resignierend seinen Rucksack und seine Daunenjacke auszuhändigen.
Krings packte des Zeugen Gegenstände separiert in Plastiksäcke und notierte dies penibel auf einer Liste, welche auf einem weißen Schreibbrett befestigt war. Danach deutete sie quer durch den sechsmalfünf Meter großen Raum auf einen dreiteiligen, ineinander-gesteckten Raumtrenner in japanischem Design.
„Dahinter bitte komplett entkleiden. Ihre Sachen sind ja ohnehin dreckig. Ersatzwäsche liegt für Sie bereit.“
Aaron konnte nicht glauben in was er da hineingeraten war. Peinlich berührt von der ganzen Prozedur, aber brav folgeleistend, ging er hinter die papierene Trennwand und schlüpfte ins Adamskostüm. Sowie er seine neue Garderobe: Unterwäsche, Blue-Jeans, ein schlichtes weißes T-Shirt und eine dunkelrote Zip-Weste angelegt hatte, tauchte auch schon die Spurensicherin auf der anderen Seite des Raumteilers auf.
„Sind Sie fertig?“
„Ja, aber ich fürchte die Schuhe sind zu klein und die Hose zwickt im Schritt.“ Für gewöhnlich trug der Passivsportler Beinkleider mit Stretch-Bund, um die mittelständische Wohlstandsleibung seines Bauches nicht allzu sehr einzuschnüren. Der Gürtel war nur Accessoires und trug nichts zur Auskoppelung der Schwerkraft bei. Solch eine modische Hilfestellung würde der passionierte Coach-Lümmel nun aber gut gebrauchen, konnte er doch bei der ihm übergebene Jeans nur den Zip schließen, der Knopf musste offenbleiben. Die Hose drohte ständig seine Beine hinabzugleiten. Es war ihm, unter den gegebenen Umständen ihres Kennenlernens aber einfach zu peinlich nach einem passenden weiteren Gürtel zu fragen und so kaschierte er seine schritteinengende und nicht schließbare Adjustierung indem er das T-Shirt über den offenen Knopf zog und die Hose schlichtweg festhielt. Immerhin bei den Schuhen sollte sie aber Abhilfe schaffen können.
„Ich werde sehen, ob ich andere Schuhe für Sie finde. Bitte treten Sie hervor.“
Sobald Aaron wiederum brav Folge leistete und vom Raumteiler hervorhuschte, machte sich Krings mit einigen durchsichtigen Plastiksäcken mit Verschluss, über seine Kleidung her und verpackte diese sogleich luftdicht.
Mitfühlend mit dem schuhlosen Zeugen deutete sie auf weiße Hausschuhe, die in der Ecke des Raumes, unter einer Untersuchungsliege standen. „Nehmen Sie einstweilen die Schlapfen meines Kollegen.“
Mit frischen Socken und kalten Füßen schlüpfte er in die Hausschuhe und bemerkte sofort, dass diese normalerweise von einer sehr pedanten Person getragen werden mussten, denn beide Schuhe waren auf ihrer Innenseite in feinsäuberlicher Schrift mit ´Weiss´ beschriftet.
„Haben Sie noch wichtige Wertsachen oder persönliche Gegenstände in Ihrem Rucksack? Medikamente zum Beispiel?“
„Nein“, lamentierte Aaron, nun endgültig in seiner Rolle als tief betrübter und traumatisierter Zeuge, angekommen.
„Dann werden wir noch eine Speichelprobe zwecks eines DNA-Bestimmungsprofils sichern, einen Schmauchspurtest an Ihren Händen durchführen und Ihre Fingerabdrücke abnehmen. Danach darf ich Sie zu Kommissar Sebastian Ulman in den Besprechungsraum vier bringen“ skizzierte Isabella Krings den weiteren Ablauf des Vorabends und deutete auf einen Stuhl, der an einem Labortisch stand. Wenigstens ihr süß und blumig duftendes Parfüm, mit einer ausgeprägten Gourmand-Note und cremig-pudrigen Einflüssen, versüßte ihm sein friedloses Dasein, welches ein äußerliches Bild der Bedrücktheit und innerlich strengster, schauspielerischer Selbstdisziplin, wiedergab. Außer Tinnitus hörend, Magensäure schmeckend und alte Fliesen erblickend, war dieser Reiz, nicht nur für seine Nase eine willkommene Abwechslung, sondern auch für sein strapaziertes Gemüt. Am liebsten hätte er alle Beteiligten geschimpft und wäre in seine Wohnung gelaufen und sich dort einem phlegmatischen Nichtstun hingegeben. Was hatte all das mit ihm zu tun? Konnte man ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
Nach außen hin unruhig, jammernd und aufgewühlt, ließ er jegliches Prozedere und sämtliche unmodische Aufmachungen über sich ergehen. Nur die Hoffnung auf baldige Erlösung aus dieser misslichen Lage, gab ihm noch Kraft durchzuhalten.
Wieder einmal war er nur auf sich gestellt. Der egoistische, ständig nörgelnde, jeden anprangernde, penible, ungeduldige, streitfreudige, phlegmatische, impertinente, wenig redselige, unter Alkohol redselige, kaltherzige und passionierte Grantscherben Aaron Röttgers.