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Kapitel 6 Bergländische Borniertheit

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„Was ist das?“, brüllte Ulman mit kratziger Stimme, als hätte ein Elefant Angina, durch das gesamte Großraumbüro des Morddezernats, wie er einen Blick auf seinen missorganisierten Schreibtisch warf. Die meisten seiner Kollegen zuckten zusammen und fixierten lieber weiterhin ihren Computerbildschirm, als dem cholerischen Kommissar Aufmerksamkeit zu schenken. Eine erbarmte sich dann trotzdem, dem trotzigen Mittsechziger zu antworten.

„Das nennt sich Pizza und bitte, dass wir Ihnen eine mitgenommen haben. Wir haben gehört, dass Sie nach der Nachtschicht heute Mittag wieder hier aufkreuzen werden. Daher.“

Orientierungssuchend blickte Ulman quer durch den gesamten Raum und konnte vier Schreibtische hinter seinem, eine junge Frau ausmachen, die ihm, mit aufgekrempelten türkisen Hemd, zuwinkte.

Musste er sich mit seinen alten Lenzen immer noch, mit gut zwanzig investigativen Kollegen, in ein zwanzigmalzehn Meter großes Büro pressen lassen? Mit Wehmut und Neid sah er auf die Milchglastüren, die sich zwei Schreibtische weiter auffädelten und jene, aus seiner Sicht, glückseligen Unglücklichen beherbergten, die den nächsten Karriereschritt gemacht hatten. Teilweise Männer, die noch aus seiner Zeit stammten und sich nun nicht mehr mit dem Geruch verwesender Leichen und dem Anblick blutbespritzter Tatorte abgeben wollten. Kommissar Sebastian Ulman, aus dem Sozialbau auf die Straße und von dort aufgestiegen zum Beschützer seiner Stadt. So sah er sich gerne. Nun musste er sich aber tagtäglich mit freundlichen und zuvorkommenden Kollegen in einem Großraumbüro und überbürokratischen Vorgesetzten auseinandersetzen, die seine archivierten Ansichten zwar verstanden, aber nicht nachvollziehen konnten. Da war es kein Wunder, dass er lieber in seinem himmelblauen Citroen durch die Straßen tingelte.

Mit Vorbehalt hing er seine dünne Frühlingsjacke über seinen Lehnsessel, ergriff einen der vielen verstreut liegenden Kugelschreiber von seinem Schreibtisch und öffnete langsam den Piz-zakarton. Als er die Verpackung ganz geöffnet hatte, stieß er wiederum einen lauten, krächzenden Schrei aus und dieses Mal wusste er wer der Adressat zu sein hatte.

„Du dahinten! Sowas fresse ich normal nicht. Nur weil ihr Jungen immer bestellt. Ich will heimische Kost!“

Die Kollegin winkte unbeeindruckt zurück und widmete ihre Aufmerksamkeit lieber wieder ihrem Computer-Bildschirm.

Dem unausgeschlafenen Ulman knurrte der Magen. Zumindest der Belag traf voll seinen Geschmack. Margaritha ohne Basilikumblätter, aber dafür mit Speck, Schinken, Salami und Fleischsauce. Der kulinarisch-feinspitzige Kommissar setzte sich an seinen Schreibtisch und machte sich, ausschließlich bedingt durch seinen großen Hunger, über das für ihn mitgebrachte exotische Mahl her. Während er das dritte Stück genüsslich verschlang, wurde er durstig und genau da streifte eine Dose Diät-Cola sein Blickfeld, die inmitten des Gerümpels auf seinem Tisch stand und als Begleitung zur Pizza diente. „Was soll das denn?“, dachte er sich. Aber wie der Hunger zuvor, machte nun der Durst, beim traditionellen Ulman, so gut wie alles möglich. Der Käse glitt über seine knöchrigen, dünnen Finger und immer wieder flogen Fleischteile auf den desorganisierten Arbeitsplatz. Biss um Biss genoss er das, ihm so befremdliche Essen und schlürfte dazu die Diät-Cola seine Kehle hinunter, immer die Milchglastüren, nur zwei Schreibtische vor seinem im Blick. Wenn er so ein Einzelbüro hätte, würde er sich hinter verschlossenen Türen schon zu Tode gesoffen haben, malte er sich oft seinen möglichen Arbeitsalltag dort aus. Seine ganze Spirituosensammlung würde er auf den dortigen eichenen Anrichten aufbahren und genüsslich einen nach dem anderen heben. Heraußen im Großraumbüro galt man als Alkoholiker, wenn man einen spirituösen Denkanstoß zu sich nahm, in einen der Einzelbüros nicht. Da hatte man was zu sagen und galt als Genießer, der seinen Hochprozentigen zelebrierte. Aber lieber trocken durch die Polizeischicht kommen, als aus einer Schreibstube heraus Dirigent für die wahren Helden, nämlich die, welche so wie er noch vor Ort auf der Straße waren, spielen. Jeder Dirigent würde ja auch lieber die erste Geige spielen und nicht in einer einsamen Stube, mit einem Stab bewaffnet, für das Publikum unsichtbar, herumfuchteln.

Nein, es waren alles glückselige Unglückliche hinter diesen Milchglastüren. Und überhaupt wäre es ja in einem Einzelbüro viel zu leise. Könnte man nicht in eines dieser Einzelbüros und seine Tätigkeit weitermachen, quasi ohne Beförderung, die er schon einmal abgelehnt hatte?

Und wie er Stück für Stück schmatzend, den Pizzakarton und schlürfend seine Diät-Cola leerte, ertönte es „Ring-Ring“ aus seiner Jackentasche. Der, rund um seinen Mund, mit Essensresten, besudelte Ulman suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit seine, von Fett und Tomatensauce triefende Hände, abzuputzen.

„Servietten konntet ihr mir keine mitnehmen?“, polterte er mit lautem Gebrüll durch den ganzen Raum und verlor abermals Essensreste aus seinem Mund an seine Umwelt. Ein drittes Mal würde er sein gelb-braun-grün gestreiftes Hemd sowieso nicht anziehen und so wurde es kurzerhand als Serviette zweckentfremdet. Das Geläut seines unmodischen Nokia 105 störte bei dem dauerhaft, umtriebigen Großraumbürotönen niemanden und so ließ er sich nicht hetzen.

„Hallo?“ murrte er in das mahlzeitunterbrechende Mobiltelefon.

„Herr Ober-Kommissar, hier spricht Wachtmeister Körner.“

„Nur Kommissar. Was ist denn, ich esse gerade?“

„Ich bin mit elf Kollegen in der Müllverbrennungsanlage. Wir konnten drei LKWs den benannten Häuserblocks, rund um den Tatort zuordnen und aufhalten, bevor sie ihre Fracht entsorgten. Aber wo sollen die nun ihre stinkende Ware auskippen?“

„Sie Frischfleisch, suchen Sie sich eine Lagerhalle. Keine Ahnung. Am Flughafen. Räumen Sie sie aus und kippen Sie dort den Müll hin. Die LKWs sind bis auf weiteres von der Stadt zu beschlagnahmen. Und um Himmels Willen rufen Sie sofort Doktor Weiss an. Er soll die Spurensicherung koordinieren.“

„Sofort.“

„Und Körner? Ich brauche Ergebnisse, schnell.“

„Ich mache mich sofort ans Werk. Was denken Sie werden wir finden? Nach was sollen wir suchen?“

„Sind Sie vollkommen verblödet? Was würden Sie nach so einem Mord entsorgen, wenn die Müllabfuhr am selben Tag kommt? Haben wir schon alles durchgekaut. Wenn Sie es nicht mehr wissen, dann fragen Sie Weiss. Er kümmert sich darum.“

„Sie haben Recht Herr Kommissar. Bitte entschuldigen Sie.“

„Noch eine Frage Körner. Die Frage konnten wir wegen Ihrer Tölpelhaftigkeit am Tatort nicht klären. Woher wussten wir, dass dort überhaupt jemand gemordet hat?“

„Es ging ein unbekannter Anruf bei der Leitstelle ein. Die Nummer wurde gecheckt. Es war eine Prepaid-Nummer.“

„Was?“

„Jeder kann ein Mobiltelefon in einem Elektrofachgeschäft kaufen. Bei einem Prepaid-Mobiltelefon muss man sich nicht registrieren. Man kauft praktisch anonym das Telefon und verbraucht dann das Guthaben darauf. Ohne Anmeldung bei einem Mobilfunkbetreiber.“

„Also wie eine gute alte Telefonzelle. Anonym, man wirft Geld ein und verbraucht das Guthaben. Keine Spuren.“

„Exakt Herr Kommissar. Eine vermutlich verstellte männliche Stimme. Englischer Akzent. Sie meinte `endlich habe ich es getan` und gab die Adresse durch.“

„Das heißt der Anrufer war jung. Jeder andere Mensch über vierzig hätte aus einer Telefonzelle aus angerufen und es war zu neunundneunzig Prozent der Täter.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Warum sollte jemand Unschuldiger ein Massaker mit einer anonymen Nummer melden. Körner, suchen Sie nach allem was Sie finden können und so schnell als möglich. Aber bitte nur in Begleitung von Doktor Weiss.“

Sobald er seine Ansage beendet hatte legte er, ohne jegliche Verabschiedung, auf.

Sein linker Mittelfinger klopfte auf die Schreibtischkante und vertieft in seinen Gedanken fixierte er die Regentropfen, welche nun wieder vom Himmel prasselten und sich an den großen Spiegelglasfensterscheiben herabschlängelten. „Ich suche nach einem jungen Mann, circa einen Meter fünfundsiebzig bis fünfundachtzig, Rechtshänder, der ortskundig ist und englischen Akzent hat“, grübelte der weiterschlemmende Ermittler.

Mit einem Ruck wischte er den Pizzakarton von seinem Arbeitsplatz und öffnete die unterste Schublade des Schreibtisches. Daraus holte er einen weißen Notizblock, legte ihn vor sich und holte tief Luft, um mit seinem ganzen, geringen Lungenvolumen den Staub von seiner so lange unbenützten PC-Tastatur zu pusten. Blatt für Blatt verriet ihm der Notizblock, welche Schritte zu setzen waren, um in den elektronischen Akt seines mitgebrachten Zeugen einsehen zu können, welcher gerade einige Räume entfernt, sich eine Speichelprobe aus dem Mund wischen ließ.

Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren kämpfte der morbide Mittsechziger den Kampf Mensch gegen Maschine und sah sich durch seine Ignoranz, gegenüber seinem elektronisch-maschinellen Arbeitskollegen, bei gleichbleibend hoher Aufklärungsquote seiner Fälle in seinem Sieg bestätigt. Zwar wuchsen die Papierstöße rund um seinen Schreibtisch, doch ein Aufbau einer physischen, zusätzlich zu der bestehenden mentalen Grenze gegenüber seinen Kollegen, war stets in seinem Interesse. So stapelten sich Aktenordner, prall gefüllte Schnellhefter, Fotokuverts und Papierstöße wie eine Mauer, in dessen Inneren der Burgherr auf seinem zugemüllten Schreibtisch thronte, um dort seine Unterlagen zu studieren. Inmitten von gebrauchten Pappbechern, von Fettfilmen glänzenden Fleischwarenverpackungen, zerknüllten Servietten und Taschentüchern, eine Fülle an angeknabberten Bleistiften und Kugelschreibern sowie weiteren systemlos verstreutem Büromaterialen, lag nun der Notizblock, in welchen er sich vor einer halben Ewigkeit, bei der Einschulung seines elektronisch-maschinellen Arbeitskollegen, Schritt für Schritt notierte, wie er auch in Zeiten eines papierlosen Büros zu seinen Informationen kommen konnte. Und diese Zeiten waren mit Jahresbeginn angebrochen. Kein Aktenarchiv mehr. Keine ausgedruckten Fotos, die in Kuverts gesammelt und einem Tatort zugeordnet wurden. Keine endloslangen Berichte der Forensik, geheftet in Mappen und Ordnern. Nur noch vereinzelt fanden sich Papierblätter auf den Schreibtischen des Morddezernats. So musste es dazu kommen, dass Sebastian Ulman die erste Seite seiner Mitschrift aufschlug, um Schritt eins auszuführen: Auf die Taste, mit einem Kreis, der oben durch einen Strich unterbrochen ist, auf dem Elektrokasten, unterhalb des Tisches, drücken´. Viele weitere und mühsame Schritte folgten, bis er endlich die polizeiliche Historie seines Tatortmitbringsels einsehen konnte, der zur gleichen Zeit, seine geschwärzten Fingerinnenseiten gegen eine weiße Platte drückend, von links nach rechts und von rechts nach links, abrollen musste. Und nachdem es der alternde Ermittler, nach Schritt einundzwanzig, endlich geschafft hatte die gewünschten Informationen auf seinem Bildschirm aufleuchten zu sehen, wurde eben jener Aaron Röttgers, außerhalb seines konzentrierten Blickfelds, vorbei an seinem Schreibtisch, in den ´Besprechungsraum vier´ geführt.

Die ständig vom Runterrutschen bedrohte, unpassende Übergangshose mit seinen, noch immer leicht geschwärzten Fingern, die auch nach mehrmaligem Waschen mit Seife nicht ganz rein wurden, haltend, passierte der desillusionierte Kronzeuge des Kommissars Schreibtisch. Arbeitsplatz um Arbeitsplatz war er in dem Großraumbüro hinter Isabella Krings abgeschritten, was sich ihm aber beim drittletzten Schreibtisch darbot, war für den ordnungsliebenden Aaron aber Schock und Bedauern zugleich. Normalerweise würde er mit sichtlich ungebildeten und groben Menschen wie Ulman kein Wort wechseln und für gewöhnlich das Weite suchen, aber es war nun mal nicht möglich. Und so dachte er, beim Anblick des ungepflegten Burgherren, der in seiner vermüllten Papierfestung thronte und seine Daten studierte, unweigerlich an das Schicksal, welches es nicht lassen konnte ihn fortwährend auf die Probe zu stellen.

„Bitte nehmen Sie hier Platz und warten Sie auf die Kollegen. Darf ich Ihnen etwas zu Trinken oder zu Essen anbieten?“, fragte ihn die zuvorkommende und mitfühlende Spurensucherin.

Essen? Aaron hatte noch immer nicht aufgegeben heute noch in seiner Wohnung zu sitzen und bei einem fetttriefenden Abendessen die Welt hinter sich zu lassen. Trinken? Wenn dann Wasser, aber das hochqualitative kühle Nass, das per Pipelines aus den Bergen in die Millionenmetropole befördert und dort in veralteten Bleileitungen verteilt wurde, brachte er nicht hinunter.

„Haben Sie Wasser aus einer Glasflasche?“, entgegnete der ernährungsbewusste, aber sich kaum daran haltende Zeuge. Krings nickte und ließ den müde wirkenden Informanten in dem fensterlosen, rein künstlich beleuchteten kleinen Zimmer zurück. Als sich die Tür hinter ihm schloss war es, als würde man ihn bereits in eine Zelle sperren und dem geistigen und körperlichen Verfallsprozess einer Haft aussetzen. Vor ihm war ein kleiner Tisch, mit spiegelglatter Oberfläche, auf der ein Fettfilm fremde Finger- und Handabdrücke, in der Spiegelung der darüber hängenden Lampe, welche den Raum mit einem steten, leisen Surren infiltrierte, wiedergaben. Auf zwei Seiten waren alte, abgestoßene Holzstühle aufgereiht.

„Wer hatte hier wohl schon alles Platz genommen?“, grübelte der angeekelte Putzteufel, gequält von seiner Mysophobie. Gequält nahm er auch in öffentlichen Verkehrsmitteln Platz, aber auch nur, weil er sich nirgendwo dort anhalten wollte und für Gewöhnlich war es sowieso das Erste was er, beim Heimkommen in seine Wohnung, tauschte. Jogginghose gegen Alltagshose. Daher setzte er sich wiederwillig auf einen der verdreckten Holzstühle und wartete, bis die Tortur endlich ihren weiteren unvermeidlichen Verlauf nahm. Die abgeschlagenen, angeschmierten und beigen Wände wiesen keinen einseitig-durchsichtigen Spiegel auf. Zumindest konnte er sich sicher sein, nicht von mehr Menschen beäugt zu werden, als jenem Mann, den er vermutete gleich zu Gesicht zu bekommen. Den dürren, ungepflegten, aus dem Maul stinkenden und tiefstimmigen Kommissar Sebastian Ulman.

„Herr Kommissar, die Beweissicherung am Zeugen ist nun abgeschlossen. Ich werde die ersten Ergebnisse gleich vorliegen haben. Er sitzt in `Raum vier´. Nehmen Sie ihm bitte ein Wasser mit? Wenn geht aus einer Glasflasche“, unterrichtete die eifrige Spurensucherin dem passionierten Alleinermittler der, ob seiner konzentrierten, digitalen Aktenstudie, diese freundlich dargebrachte Information mit einem blicklosen Wink abwies.

Noch bevor sich die Forensikerin wieder an die Arbeit machen konnte, hielt sie der digitalfeindliche Mittsechziger auf: „Halt. Wie kann ich das hier ausdrucken?“

„Bitte?“

„Das, was hier steht. Wie kann ich das auf Papier bringen?“, fragte der überforderte Mittsechziger und deutete auf seinen PC-Monitor.

Krings konnte den hilfesuchenden und einladenden rehbraunen Augen, die unter der tiefen Augenbraunpartie im Neonlicht der Bürobeleuchtung glänzten, keine Bitte abschlagen. Einen großen Ausfallschritt über die gestapelten Unterlagen neben Ulmans Schreibtisch und schon betätigten ihre rettenden filigranen Finger gleichzeitig ´Strg´ und ´P´ auf des Kommissars Tastatur.

„Sie sollten sich als Schritt zweiundzwanzig ´Strg und P drücken´ notieren Herr Kommissar“, grinste Sie und deutete auf den brusthohen Großbürodrucker, der sich am anderen Ende des Raumes befand, um dann ihren Weg ins Labor fortzusetzen.

„Warten Sie“, eilte ihr der plötzlich handzahme Ulman schnellen Schrittes nach, „bekomme ich die Tatortfotos und Weiss´ Bericht auch gleich ausgedruckt? Auf gutem altem Papier eben.“

„Ich werde sehen was ich tun kann. Aber ich muss mich jetzt beeilen. Die Residuen untersuchen, die abgenommenen Stempelchen analysieren und das Rasta-Elektronen-Mikroskop bedient sich auch nicht von selbst. Herr Magister Rasch, will heute noch die ersten Ergebnisse“, schmunzelte Krings und deutete auf die silberne Armbanduhr auf ihrem dünnen Handgelenk.

„Rasch?“, riss Ulman sein, mit Tomatensauce und Käsefett verschmiertes Maul, auf.

„Ja. Genau der. Und der Drucker steht übrigens dort.“

Für gewöhnlich bezeichnete der Mittsechziger den Großraumdrucker abfällig als ´Tintenpisser´, doch nun war er sein wichtigster Unterstützer. Blatt für Blatt bestrahlte dieser mit Tinte und legte, die zu Papier gebrachten Informationen, zu einem Konvolut ab. Hastig entnahm der Technikverächter den Papierstoß aus Fach eins und brachte ihn zu seinem Arbeitsplatz zurück, um ihn dort, in guter alter Manier, in einen Schnellhefter einzuordnen. Und wie er seine Arbeit abschließen wollte und das Deckblatt, mit der Aktenzahl und Titulierung des Falles versah, knarrte eine der Milchglastüren zwei Schreibtische vor ihm und öffnete sich. Heraus trat Oberkommissar Magister Jakob Rasch. Der alternde Ermittler nahm zähneknirschend zur Kenntnis, dass sich der großgewachsene und stattlich gebaute junge Oberkommissar schnurstracks auf ihn zubewegte.

Die Miene seines Vorgesetzten war von Ernsthaftigkeit geprägt. Seine kurzen, zur Seite gekämmten, mit reichlich Gel verstärkten schwarzen Haare und sein frischrasiertes Gesicht, in dessen Zentrum sich zwei tief liegende, blaue Augen befanden, fokussierten nur den beschriftenden Ulman, der so tat, als ob er ihn nicht sehen würde und weiter seiner Aktentätigkeit nachging.

„Guten Tag Herr Kommissar“, begrüßte Rasch, dem hinter seinen Papier- und Müllmauern sitzenden Burgherren, mit seiner unnachahmlichen Betonung des Buchstaben ´L´, welcher durch das übertriebene Pressen der Zunge an den Gaumen, jedem Wort eine rollende, lässige Note gab.

„Wie kann ich helfen?“, erwiderte der gestresst spielende Ulman, mit gewohnt kratziger Reibbrettstimme, deren Laute dem großstädtischen arbeitermilieutypischen Jargon unterworfen waren. Trotz seiner sofort hörbaren artikularen Abstammung war die stetige Überbetonung der Vokale, so dass sich fast jedes Wort wie ein Befehl anhörte, sein markantestes linguistisches Markenzeichen.

„Erstens. Ich habe Ihnen schon hundert Mal gesagt, räumen sie diesen gesamten Saustall auf Ihrem Arbeitsplatz auf. Das ist inakzeptabel. Sonst sitzen Sie bald einen Stock tiefer bei den Streifenpolizisten. Und zweitens kommen Sie in mein Büro“, machte der ordnungsfanatische Oberkommissar unmissverständlich klar.

Mit einem tiefen Schnaufer erhob sich der Kommissar wortlos von seinem Lehnstuhl und folgte genau einem jener Männer, die er für den Untergang der großstädtischen Polizei verantwortlich machte. Die Kollegen vor und hinter ihm schmunzelten und tuschelten, als ob der Klassenvorstand einen ungezogenen Schüler an die Tafel holte. Respekt konnte der alteingesessene Mittsechziger gegenüber seinem jungen Vorgesetzten nicht entwickeln. Für ihn war Rasch ein Emporkömmling. Ein Mann Anfang vierzig, nie ohne Anzug und Krawatte, der lieber die Vorschriften und Cold-Case-Fälle in seinem Büro studierte, als sich, wie Ulman, jahrzehntelang auf der Straße und an Tatorten abzuquälen. Oberkommissar Mag. Jakob Rasch war für ihn genau das beste Beispiel, warum es mit der Polizei im Allgemeinen und dem Morddezernat im Speziellen immer weiter abwärtsging. Leute wie Rasch gingen nämlich nicht dorthin wo es wehtat. Sie würden sich niemals mit Informanten, spätabends, in zwielichtigen Kneipen treffen, sie würden in ihren Vorschriften niemals einen Absatz finden, dass man einen Verdächtigen auch einmal verbal und körperlich einschüchtern musste, um an wertvolle Informationen zu kommen und sie würden sich lieber auf Berichte und Gutachten stützen, als auf Ihren Menschenverstand zu hören. Genauso einer war Rasch. Ein Herr Magister, ein studierter Kriminologe, der sich mit dem Aufarbeiten von ungeklärten Fällen, aus der bergländischen Provinz, vorbei an Ulman, hinter eine Milchglastür gedient hatte.

Nun konnte er sich hinter seinem großen Schreibtisch verschanzen und all jene, echten Kommissare, so dachte Ulman, die im lauten Großraumbüro saßen, auf Tatorte entsenden, die er nicht mehr betreten wollte. Keinen Leichengestank, keinen Tumult an Schaulustigen und Journalisten, keine seelenaufwühlenden, schockierenden Eindrücke, die man am Abend bei einem guten Glas Hochprozentigem und einigen Bieren verdaute. Keine verstümmelten Mordopfer, die jeden Gesetzeshüter an die Gerechtigkeit in der Welt zweifeln ließen. Kein Gestank des Todes an seinen adretten Anzügen, die nur Zigarettenrauch übertünchen konnte. Rasch führte Ulman vor den ´Besprechungsraum vier´.

„Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber vielleicht sollten Sie vorher duschen und frische Kleidung anlegen, bevor Sie den Zeugen verhören. Woher haben Sie diesen Selbstzerstörungsdrang?“

„Das ist der Geruch des Tatorts. Der lässt sich nur mit Plantation Rum Barbados XO Single Cask Mackmyra Rök Whisky von der Seele waschen. Außerdem sitzt hinter dieser Tür kein Zeuge, sondern ein Täter. Bitte lassen Sie mich jetzt meine Arbeit machen.“

Die großzügige Deo-Duftwolke, welche der Garconniere-Bewohner einem Duschvorgang vorzog, schien verpufft zu sein und hervortrat sein ureigener Gestank aus Schweiß, Zigaretten und würzigem Speiseplan. Der passionierte Alleinermittler versuchte sich mit seinem neu angelegten Schnellhefter unter dem Arm, am Oberkommissar vorbei in den Verhörraum zu pressen, aber der großgebaute und durchtrainierte Bergländer gab keinen Meter nach.

„Ich weiß sie haben über die letzten Jahrzehnte viele und schwierige Fälle gelöst und genießen hier sehr viel Ansehen. Oder besser gesagt Sie genossen viel Ansehen hier. Egal. Scheinbar kennen Sie sich bei Spirituosen besser aus als mit Computern. Alle neuen Kollegen haben seit Jahresbeginn ihr Tablett in Verwendung und Sie laufen mit einem Schnellhefter in eine Zeugenvernehmung?“

„Es wird wie immer gemacht.“

„Kommissar Ulman, mich hat Herr Dezernatsleiter Lagonikakis zu sich geholt. Ihn haben der Bürgermeister und der Polizeichef angerufen. Drei Tote in so einem noblen Bezirk. Ich kann Ihnen das Feld nicht alleine überlassen. Das ist in der Außenwahrnehmung zu heikel. Alleine lasse ich Sie diesen Fall nicht angehen. Ich wurde beauftragt ein Ermittlerteam zu leiten.“

„Was soll das heißen?“, riss der verdutzte Kommissar seinen, mittlerweile oberflächlich gesäuberten Mund auf.

„Ich werde den Zeugen mit Ihnen gemeinsam vernehmen und alle wichtigen Schritte in diesem Fall sind durch mich freizugeben und ich muss über alle neuen Erkenntnisse sofort verständigt werden.“

Der dickhäutige Ulman konnte seinen schmalzverschmierten Ohren nicht trauen und seinen blauumrandeten Augen nicht glauben. Zum Weinen war ihm zu mute. Der allseits, als Aktenwurm und verhörunfähig verschriene Rasch, soll mit ihm seinen Kronzeugen alias neuen Tatverdächtigen vernehmen? Die letzte Freude in seinem Leben wollte man ihm jetzt auch noch streitig machen. Teamarbeit und Unterwürfigkeit, das war nicht Ulmans Terrain.

Da stand er vor ihm, ein feiner Herr im braunen Schnürsamtanzug, mit einer schwarz-rot gestreiften Seidenkrawatte um seinen Hals dekoriert und einem Tablet-PC unterm aufgepumpten Bizeps. Jetzt war wohl wirklich das Fass zum Überlaufen gebracht. Junge Kollegen, noch grün hinter den Ohren, neue Technik, die ihm nur am Arbeiten hinderte und nun auch noch Befehle von so einem provinziellen Bergländer, der die rauen Sitten der Hauptstadt niemals verstehen wird können. Nicht einmal mit der gängigen Mundart ein Problem hatte. Bis dato hatte er auch ohne fremde Zurufe seine Fälle gelöst und nicht einmal einen Dank dafür verlangt. Aber nun war des Mittsechzigers geistiger Scheideweg erreicht. So nicht mehr. Kurz war es ihm, als wollte er nun endlich seine Frustration herausschreien und dem Emporkömmling, in seinem Schnürsamtanzug den Schnellhefter mit Aarons Datenauszug, vor die braunmelierten Schlangenlederschuhe werfen. Dann geradewegs in die Personalabteilung gehen, um seine Pensionierung zu beantragen und in sein Stammbeisl fahren. Doch dann legte sich das erzürnte Flackern in seinen treuwirkenden rehbraunen Augen und er konnte sich ein sarkastisches Grinsen, ob seiner aberwitzigen Situation abringen. Bei all den wiederholenden Schikanen, nur er konnte seine Heimatstadt gegen die verbrecherischen Milieus verteidigen, die Leute wie Rasch nicht mehr kannten.

„Natürlich, wie Sie wünschen Herr Magister Oberkommissar.“

Egal wer ihm Stöcke in seine alten, rostenden Speichen warf, er würde den Fall, wie auch alle zuvor, auf seine Weise lösen und am Ende könnte ihm niemand auf der Welt und schon gar nicht ein Dezernatsleiter, Bürgermeister, Polizeichef oder Oberkommissar einen Vorwurf machen, er habe sich nicht an die zuvor ausgegebenen Spielregeln gehalten. Für ihn war die Sachlage klar. Mit den Erkenntnissen, die er vom heutigen Tatort mitgenommen und gepaart mit jenen Informationen, die er aus des Kronzeugen polizeilichem Akt herausgelesen hatte, schloss er: Der Täter saß hinter jener Türe, die von Jakob Rasch blockiert wurde.

„Gut, dann sind wir uns über die allgemeine Herangehensweise einig. Stellen Sie alle Fragen, die Sie wollen Ulman, aber mäßigen Sie Ihre gewohnte Aggressivität bei diesem Verhör. Ich werde mich zurückhalten.“

Noch ein süffisantes Grinsen zierte des Kommissars Dreitagesbart. Was sich das Sozialbaukind auf der Straße der wüsten Großstadt an Menschenverständnis erarbeiten musste, wollte sich der Akademikersprössling aus gutem Hause aus Büchern saugen. Die dilettantische Borniertheit, mit der Rasch seine bisherigen Befragungen und Verhöre führte, waren über die Morddezernatsgrenzen hinaus bekannt. Seiner Karriere tat dies trotzdem keinen Abbruch. Arbeit, Fleiß, Überstunden und Unnachgiebigkeit pflasterten bis dato seinen Weg der großen Ambitionen, aber den abgezockten Ulman als Rammbock in der anstehenden Zeugenaussage zu missbrauchen, fand der routinierte Kommissar offenkundig despektierlich und infantil.

Seinem Rang voranschreitend, öffnete Oberkommissar Rasch die Türe zum kleinen Verhörraum Nummer vier. In diesem saß Aaron Röttgers mit stoischen Blick gegen die Wand gerichtet und auf die weiteren, unausweichlichen Prozedere wartend. Die beiden Ermittler nahmen am anderen Ende des kleinen, verschmierten Tisches Platz. Der eine platzierte seinen Tablet-PC vor sich, der andere seinen Schnellhefter.

„Guten Tag, mein Name ist Oberkommissar Magister Jakob Rasch und meinen Kollegen Kommissar Sebastian Ulman kennen Sie ja bereits. Wurde Ihnen schon etwas zu trinken und zu essen angeboten?“, fragte er den Zeugen mit freundlichem und fürsorglichem Ton und schaltete das Tonmittschnittgerät ein.

Nun war die Zeit für Aarons Schauspieltalent gekommen. Schon seit jenem Moment, als er auf dem verbrauchten Stuhl Platz nahm, war ihm klar: wenn er so schnell als möglich nach Hause und jedem weiteren Besuch in diesen Räumlichkeiten ausweichen wollte, musste er die archivierte Trübsinnigkeit nun voll ausspielen. Ohnehin hätte er seine Unterarme niemals auf die abscheuerregende Tischplatte vor sich gelegt, doch diesen Umstand machte er sich zu nutzen, um den eingesackten, traumatisierten und niedergeschlagenen Zeugen zu mimen, der seine Arme, schützend auf seine Oberschenkel platzierte. Wollte er den heutigen Tag so schnell als möglich abschließen und einfach nur nach Hause in seine eigenen vier Wände gehen, musste er sich betrübt und schockiert zeigen. Er war sich der Lage vollends bewusst, dass es um etwas ganz Schlimmes ging, ja vermutlich um Mord, sonst würde er nicht im ´Besprechungsraum vier´ des Morddezernats sitzen und man hatte ihn, für was auch immer im Verdacht, sonst würde er nicht die unpassende Wechselwäsche tragen und es wären keine forensischen Tests an ihm durchgeführt worden. Aber Schauspielerei war ein sichereres Terrain als seine Natur. Denn eigentlich war es ihm egal wie schlimm das Geschehene an seiner Arbeitsstelle war, es tangierte das egozentrische Einzelkind eigentlich nicht wirklich. Hauptsache er war wohl auf. Dabei wollte er nichts mehr als das, was er immer wollte, Ruhe. Ruhe von der grausamen und unbarmherzigen Welt. Würde er preisgeben, dass wieder ein kalter Schauer seinen Körper fest im Griff hatte und ihm das Blut in den Kopf schoss, um dann ein verstörendes Schwindelgefühl bei ihm auszulösen, er würde sich verdächtig machen, Schuldgefühle, Angst überführt zu werden. Würde er nun zu besonnen und abgebrüht die Fragen beantworten, es wäre ein weiteres unnatürliches Verhalten in solch einer Situation. Ja, Aaron tat sich einfach schwer Emotionen situativ angemessen zu zeigen. Er nahm sich vor, seine körperliche Beschaffenheit dazu zu verwenden, den gedrückten und schockierten Nichtwissenden zu spielen. Nichtwissend traf vielleicht zu. Nichtsahnend nicht. Nur mit einem „Ja, alles angeboten. Danke“, konnte sich der Leidvolle eine knappe Antwort entlocken lassen.

Während der Oberkommissar seine Personaldaten durchging und ihn über seine Rechte aufklärte, musste Aaron mit schwerer Atmung kämpfen. Seine Lunge blies sich nur mit größter Anstrengung auf. Dabei presste er seinen Daumenfingernagel tief in die Haut seiner anderen Hand, um noch armesseliger und schmerzerfüllter wirken zu können. Immer wieder konnte er sich auf die Belehrungen und Fragen, ob er seine Rechte und die Situation verstand und akzeptiere, nur ein Nicken und kurzes, gequältes Lächeln abringen. Es war, als ob er wieder in seine Teenager-Gefühlswelt abtauchte und in der Direktion seines alten Gymnasiums saß um gegenüber dem Schulleiter Rechenschaft über seine Verfehlungen abzulegen.

Ihm rechts gegenüber saß der wiederum genervt-wirkende Ulman, der sich nun darauf versteifte in die Beobachterrolle zu schlüpfen und den Fragenden Rasch, mit dessen qualitativ-investigativer Achillesferse alleine lassend, genauso zu foltern wie den Befragten emotional mit hypnotischem Blick. Während der Kronzeuge alle Rechtsbelehrungen brav abnickte und immer wieder zu ihm blinzelte, beschatteten seine Augenbrauen seine tiefsitzenden Augen und sein faltiges Gesicht versteifte sich.

„Nur keine Zeit verlieren, bald ist dieser Albtraum vorbei“, predigte sich Aaron immer wieder innerlich vor.

„Erzählen Sie uns, was Sie heute erlebt haben“, bat ihn der holprig auftretende Oberkommissar, den Sachverhalt aus seiner Sicht zu erläutern.

Mit dieser Frage kippte ein Schalter in Aarons Kopf. Die emotionale Leere in seinem Innersten war wie weggeblasen und ein Selbstschutzmechanismus klappte wie eine Maske vor sein Gesicht. Seine Gedanken waren klar, seine Atmung entspannte, der kalte Schauer verwandelte sich in einen warmen, seine Emotionen wurden kontrollierbarer.

Nach Außen bleib das Wimmern, das Klagen und das Jammern. In seiner Seele kämpfte seine zu bersten drohende Membran, die seinen eingeschlossenen Hass und Abneigung gegen jeden, der seine Wohlfühlzone einengte und bedrohte, gegen seine Nächstenliebe und Empathie, abschirmte. Würde diese brechen, der durchdiffundierende Negativismus würde die guten Seiten in ihn sofort auffressen.

Um nicht gleich in das Gespräch mit einer Deklaration als Menschenhasser einzusteigen, begann Aaron seine Aussage mit dem Betreten seiner Arbeitsstätte und nicht mit dem Verlassen seiner Wohnung. Kein Wort über arbeitslose Nachbarn und nervige Mitreisende in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Stadtflucht

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