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Kapitel 3 Tagwerk Tatort

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Die Anzahl an Tatorten die Kommissar Sebastian Ulman in den letzten neununddreißig Dienstjahren beim Morddezernat zu sehen bekam, hatten in ihm eine Abgestumpftheit gegenüber dem Anblick von verstümmelten Leichen, dem Empfinden von Mitgefühl für die Hinterbliebenen und der Nachsicht mit vermeintlichen Verdächtigen aufgebaut. Obwohl er zu Beginn seiner Karriere das traumatisierende Gesehene, oftmals abends nur mit einem Sechserpack Bier oder einem Besuch an seiner hauseigenen Spirituosenbar verdauen konnte, wich über die Jahre die Betroffenheit einem stetig wiederholenden Ritual nach Schichtende. Auch wenn seine größten und spektakulärsten Fälle schon einige Jahre zurücklagen, hatte er nie den Elan für seine Arbeit verloren. Was Ulman am meisten reizte war der Blick hinter die Fassade eines Tathergangs und des Täters. Dabei vermisste er die gute alte Zeit, in der Kommissare noch zuschlagen durften, bevor Fragen gestellt wurden. Doch diese Zeit war vorbei, der Mittsechziger in ihr aber moralisch und methodisch verblieben. Es ging ihm mehr um das Reinhalten seiner Stadt, um den Revierkampf gegen die Verbrecher, die ohne seine Erlaubnis sein Territorium aus dem Gleichgewicht brachten.

Geistig und kulturell waren die Distrikte der vornehmen Viertel an der Westseite nie sein Gebiet, doch brachte es ihm heitere Freude, dass auch diese elitäre Gesellschaft nun die Hilfe von Kommissar Sebastian Ulman benötigte. Dem dünnen, hageren und schmalbrüstigen Kind aus dem Sozialbau, der sich im Leben alles hart erarbeiten musste und der am Liebsten in einer Zeitschleife festhängen würde, wo die Verbrechen noch selten, aber spektakulär waren und kein Kommissar ständig via Mobiltelefon erreichbar war. Zu seinem Leidwesen hatten sich die Zeiten geändert und so musste der großstädtische Kommissar verdutzt feststellen, dass der ihm zugewiesene, großräumig abgesperrte Tatort, nur so von Schaulustigen, Fernsehkameras und Einsatzfahrzeugen aller städtischen Blaulichtorganisationen wimmelte.

Noch vor fünf Stunden humpelte diese Häuserblocklänge Aaron Röttgers mit zugekniffenen Pobacken entlang und nun war sie für die Öffentlichkeit abgeriegelt. Keine Autos konnten sich mehr auf der dreispurigen Prachtstraße entlang gen Westen stauen, keine Straßenbahn, welche überfüllte Mittelwaggons durch die Großstadt beförderte und keine konsumsüchtige Menge an einkaufswütigen Kunden in den Boutiquen, welche die Erdgeschosslokale der imposanten Gründerzeitbauten beherbergten, war zu sehen. Nur eine Traube von sensationssüchtigen Leuten, die sich mit kameraschulternden und berichterstattenden Journalisten, trotz wiedereinsetzendem Nieselregen, hinter Absperrgittern, um die besten Plätze rangen. Was für ein Anblick für den wortkargen Kommissar, der deshalb in einer schwach frequentierten Seitenstraße, quer über zwei Behindertenparkplätze, seinen rauchenden 1988er-Dieselspucker abstellte und vor dem Aussteigen noch seine Mordkommissionsparkplakette, die ihm zum Parken an jedem Ort der Hauptstadt bemächtigte, auf das Armaturenbrett legte, um sich unbemerkt in die abgesperrte Tatzone zu schleichen.

„Kommissar Ulman?“, fragte ihn eine jugendliche Stimme aus seinem Rücken tretend, als er das Gebäude durch die altehrwürdige Massivholz-Eingangstüre, unter rufenden Fragestellungen der Journalisten, betreten wollte.

„Ja?“, antwortete der alternde Ermittler und wandte sich dabei, mit seiner stetigen Überbetonung der Vokale, so dass sich jedes Wort wie ein Befehl anhörte, dem Fragesteller zu.

Seine tiefliegenden rehbraunen Augen erblickten einen blondgelockten Polizisten, ein junger Wachtmeister Anfang zwanzig, mit freudigem Gesichtsausdruck, in perlnachtblauer Uniform. Als hätte Ulman den Hauseingang nicht schon selbst gefunden, wies ihm der junge Gesetzeshüter den Weg und begleitete ihn ins Vestibül. „Herr Hauptkommissar, ich möchte sagen, wie sehr ich Sie und Ihre Fallstudien bewundere“, umgarnte er den, fassungslos vor dem versiegelten Fahrstuhl stehenden Großstadtneurotiker.

„Warum kann ich den Aufzug nicht benutzen?“, warf er dem Wachtmeister mit grobem Ton, in seiner gewohnt-einfachen, mundartigen Artikulation an den Kopf, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen.

„Von der Spurensicherung noch nicht freigegeben“, klärte ihm sein blondgelockter Verehrer auf.

Nun mussten die teergetauchten Lungen des Mittsechzigers auch noch zu Fuß in den dritten Stock wandern. Seine Stirn wurde immer runzeliger und zog seine Augenbrauen über seine rehbraunen Augen. Erregt ob der kommenden körperlichen Anstrengung, schubste er seinen jungen Kollegen zur Seite und verabschiedete sich mit den Worten: „Wischen Sie sich das ekelhafte Grinsen aus dem Gesicht. Ich finde alleine hoch. Und übrigens, nur Kommissar! Keine Beförderung der Welt kann so reizend sein, um Frischfleischdilettanten wie Sie von einem Schreibtisch aus zu delegieren!“ Perplex blieb der junge Wachtmeister im Vestibül des Neo-Renaissance-Stil-Baus stehen und verfolgte voller Desillusion den schleppenden Aufstieg seines detektivischen Idols.

Schnaufend und stöhnend zog sich Ulman, an den reichlich mit Verschnörkelungen verzierten, gusseisernen Stiegen-Geländer aufstützend, von Stockwerk zu Stockwerk, vorbei an prächtig verzierten und dekorierten Sicherheitstüren. Keuchende Laute begleiteten seinen Weg bis in den dritten Stock, wo es bereits von Mitarbeitern der Spurensicherung wimmelte. Mit Einweg-Overalls, Überziehschuhen und Plastikhandschuhen adjustiert, pinselten sie die elfenbeinfarbig-gestrichenen Wände und die weiß-schwarz-karierten Marmorfliesenmuster am Boden des Treppenhauses, in der Hoffnung einen tatrelevanten Finger- oder Schuhabdruck zu finden, mit Rußpulver ab. Als der teerlungengeschädigte Kommissar endlich wieder einer normalen Atmung nachgehen konnte, deutete er auf die Dienstmarke auf seinem Gürtel und signalisierte einem seiner pinselnden Kollegen, ihm bitte die gleiche beweismittelschonende Montur zu reichen. Während er sich hüftsteif in den weißen Overall quälte und nur mit Mühe und Not, in Ermangelung eines trainierten Gleichgewichtssinns, seine schnürsenkellosen Lederslipper, die das gleiche Baujahr wie sein Auto zu haben schienen, mit dem Schuhschoner überstreifte, steckte er sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Profihaft genoss er, ohne Einsatz seiner Finger, die derweil mit dem Überstreifen von schwarzen Plastikhandschuhen beschäftigt waren, die ersten Züge seines Glimmstängels. Mit aufgeladenen Nikotintanks machte er sich nun auf den Weg Richtung Eingangstüre des Tatorts, welche, entgegen dem Eintreffen Aarons vor gut fünf Stunden, nicht mehr leicht, sondern sperrangelweit offenstand.

So, wie bei der massiven Haupteingangstüre ins Vestibül des Zinshauses, waren auch bei dieser keine Spuren eines gewalttätigen Fremdeindringens zu erkennen. Beide Schlösser und Beschläge waren von zylinderschlitzsuchenden Schlüsseln zerkratzt, aber nicht beschädigt. Gleich einen Meter nach der Türschwelle offenbarte sich dem, von solchen Anblicken bereits abgestumpften großstädtischen Kommissar, ein grässliches Bild.

Kleine leuchtgelbe Hinweistafeln mit schwarzer Nummerierung von eins bis sechs waren im gut fünf Meter langen und drei Meter breiten Flur verteilt. Inmitten der akribischen Beschilderung lag ein fünfundvierzig- bis fünfzigjähriger, molliger Mann, in einer riesigen Blutlache. Weder seine Augen noch seine Gesichtszüge oder die Farbe seines schütteren Haares waren zu erkennen, war doch eine Pistolenkugel, vermutlich aus kurzer Distanz, in seinen Nasenansatz ein- und am Hinterkopf wieder ausgetreten, was zu einer grauenhaften Entstellung seines Minenspiels führte und den alten Holzboden und die weißen Wände neben ihm mit kleinen Teilen seines Gehirns sowie seiner Haut bespritzte. An den Hautteilen waren noch teilweise die Haare zu sehen. Eingebettet in das schauerliche Bild von Blutspritzern und umherliegenden Gewebefetzen, waren schlecht erkennbare Sohlenabdrücke am Holzboden. Seine Brille lag genau am Steg zerteilt links und rechts neben ihm. Sein weitgeöffnetes, hellbeiges Hemd war in ein dunkles Rot gefärbt, als hätte man seinen Oberkörper in ein Fass voll Blut getunkt.

Der erfahrene Kommissar beugte sich über die Leiche, ließ seinen Blick auf die früher weißen Flurwände streifen und musterte genau die Verteilung und Intensität der darauf verteilten roten Sprenkel. Es roch wie in einer Schlachthalle, welche gerade desinfiziert und ausgeräuchert wurde. Der abgestandenen Kupferausdünstungen des Todes. Als würde man eine Fleischerei betreten und kein Büro. Intuitiv gewann seine vollste Aufmerksamkeit aber schnell die Suche nach dem Einschussloch, des am Hinterkopf des Opfers ausgetreten Projektils.

„Wer hat hier von euch das Sagen?“, rief der aufgekratzte Ulman den Ruß pinselnden Spurensuchern in das Stiegenhaus entgegen. Bevor die nicht zu reagieren scheinenden, vertieft in ihrer Arbeit steckenden Kollegen, ihm antworten konnten, hallte eine Stimme vom anderen Ende des langen, über zwei Meter siebzig hohen Altbauganges der zu Büroräumen umfunktionierten Luxus-Wohnung: „Hier, ich Herr Kommissar!“

Es war der weitbekannte Chef der hauptstädtischen Spurensicherung Dr. Peter Weiß, der es sich nicht nehmen ließ diesen Tatort, in seinem Wohndistrikt, selbst zu sichern. Zu Ulmans Glück ein Mann der seine Sprache und seine Art der Ermittlung respektierte und dem auch seine privaten Lebensgewohnheiten keine Sorge bereiteten, konnte die Reputation des langjährigen Mordermittlers doch von seinen investigativen Erfolgen der Vergangenheit, bis zu seiner baldigen Pensionierung leicht zehren. Daher war es dem am Boden knienden Mittsechziger auch eine willkommene Abwechslung einen alten Großstadtfuchs, wie er es war, freundlich entgegenzutreten. Der oberste Spurensicherer der Kapitale war es gewohnt, mit vielen unterschiedlichen Charakteren bei den jeweiligen ermittelnden Abteilungen zusammenzuarbeiten und in Ulmans Fall war die Sachlage einer fruchtbaren Zusammenarbeit klar, wenig fragen und dem Hauptermittler vertrauensvoll mit forensischen Fakten zuarbeiten.

„Herr Doktor Weiss. König aller Klassen. Ich knie vor Ihnen und bitte um die Antwort wo das ausgetretene Projektil eingeschlagen ist?“

„Auch Ihnen einen Guten Tag Kommissar Ulman. Dem Einschlag in der hinteren Wand des Raumes nach zu urteilen, da wo ich gerade stehe. Die Patronenhülse ist nicht auffindbar und das Projektil wurde aus der Wand entfernt.“

„Also nach dem Austritt muss das Projektil noch gut sechs bis sieben Meter geflogen sein um dort einzuschlagen. Ich tippe auf eine 9mm Pistole. Wie groß ist das Opfer?“

Dr. Weiss ging dem grübelnden Kommissar entgegen um ihm genau mitteilen zu können: „Ein Meter und dreiundachtzig Zentimeter.“

„Und das Projektil ist glatt ausgetreten. Das heißt der Schütze war circa einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter achtzig groß. Die Einschusskerbe ist leicht links von hieraus gesehen, das heißt er ist Rechtshänder.“

„Sehr gut gesehen, deshalb sind Sie der beste, Ulman. Und er hatte, den blutigen Sohlenabdrücken nach zu urteilen, Schuhgröße sechsundvierzig oder achtundvierzig.“

„Die Schnittverletzungen wurden nach seinem Tod verübt?“

„Ja, ´post mortem´.“

„Bitte Weiss, sprechen Sie in einer Sprache, die ich verstehe! Also der Täter läutet hier an, schießt dem Mann in den Kopf, schneidet seine Kleidung auseinander und wendet ihn. Nur, um Gewebeteile aus ihm herauszuschneiden?“

„Sieht so aus.“

„Weiss, alles deutet auf einen Trophäenjäger hin, der das Opfer gekannt hat und die Gegebenheiten vor Ort ebenfalls.“

„Kommen Sie mit, Herr Kommissar, ich zeige Ihnen die anderen Opfer.“

„Andere?“, war der alternde Ermittler erstaunt aber nicht betrübt.

„Ja, es gibt noch zwei weitere Leichen.“

„Scheiße. Aber die Schuhgröße kann nicht ganz zu der Körpergröße des Schützen passen“, stellte der spitzfindige Mittsechziger fest, während er über gelbe Hütchen und rote Sohlenabdrücke, immer mit Bedacht keine Spuren zu verwischen, stieg, „sind nur Ihre Leute hier oder auch schon jemand vom Morddezernat?“

„Bis jetzt nur Sie und auch reichlich spät, wenn ich das so sagen darf. Wir sind schon seit drei Stunden hier und mit allem schon fertig. Die Leichen werden nach unserem Rundgang gleich abgeholt.“

„Nein, dürfen Sie nicht so sagen. Der Verkehr ist eben schlimm. So ist unsere Großstadt nun mal. Sein Sie froh, dass Sie hier und nicht in einem Kuhkaff leben, wo die Leichen schon von Wölfen angeknabbert wären.“

„Mein Fehler“, entgegnete Weiss beschwichtigend und, zumindest nach außen hin, einsichtig.

„Du“, pöbelte Ulman einen in der Nähe, der Eingangstüre befindlichen Spurensucher an, „geh so schnell als möglich hinunter und hole jemanden vom Morddezernat. Ich werde ja nicht der Einzige hier sein.“ Der über den harschen Ton Verwunderte sah Weiss verstört und fragend an und wartete auf eine Reaktion seines Vorgesetzten. Als dieser wohlwollend nickte, machte er sich unverzüglich die Stiegen abwärts auf, durch das noch die Verabschiedung des cholerischen Kommissars hallte: „Gib Stoff Pinguin, sonst kommst du zurück in den Zoo!“

Nachdem er bereits unzählige Fälle und Ermittlungen gemeinsam mit seinem charakterfordernden Kollegen abgehandelt hatte, wusste Dr. Peter Weiss nur zu gut, wie man am besten dessen cholerische Ausbrüche wieder einfing und scherzte: „Bitte lassen Sie meine Daktyloskopen in Frieden. Darf ich Ihnen nun meine Einschätzung und den Rest des Sachverhaltes erklären?“

„Dakti? Was? Sprechen Sie mit mir nicht in diesem Studiertenton! Ich sage nur das Nötigste, das wissen Sie. Ich bin ganz Ohr“, erwiderte ein neugieriger, aber keinesfalls, ob seines rauen Umgangs mit Kollegen peinlich berührter Ulman.

Der oberste Spurensucher führte den altgedienten Ermittler den langen Eingangsflur, der zum Büro umfunktionierten Luxus-Wohnung, entlang zu einem Warteraum, der sich linkerhand über ungefähr fünf mal fünf Meter erstreckte und mit feinen Ledersesseln eingerichtet war. Obwohl der Kommissar den reichlich bestückten Kristallkronleuchter genauso mit beeindruckten Argusaugen betrachtete, wie die feine Kirschenholzvertäfelung an den Wänden, fiel ihm in diesem Raum nicht wirklich etwas Verdächtiges auf. Die blutverschmierten Sohlenabdrücke aus dem Flur, wurden hier immer weniger sichtbar und verschwanden vollends. Auf einem Garderobenständer hingen drei Winterjacken. Eine Schwarze, eine Weiße und eine Graue, darunter standen drei Paar Straßenschuhe in einer Plastikschale.

In der Tat fand Weiss die richtige Wortwahl, war der in weiße Schutzkleidung gehüllte Ermittler nun sogar zu einem seiner seltenen Scherze aufgelegt und fragte seinem Wegweiser ob hinter eine der vier weiterführenden Türen ein Tiger lauern würde?

Hinter der ersten Türe führte ein kleines Zwischenzimmer, parallel zum Eingangsflur verlaufend, zu einem kleinen Konferenzsaal und von diesem weiter in eine beschauliche Küche. Schon im Zwischenzimmer überfiel ihn ein Anblick, als ob tatsächlich ein Tiger gewütet und seine menschliche Beute dort tot zurückgelassen hatte. Ähnlich dem ersten Tatbild lag auch hier ein Mann, mit nur einem Schuss niedergestreckt, in einer riesigen, verschmierten Blutlache. Links und rechts der Leiche waren die raumhohen Aktenordnerregale mit Hautfetzen, Haar- und Gehirnteile sowie Blutspritzern übersät, welche das Projektil über die Austrittswunde am Hinterkopf mit sich riss und im ganzen Raum verteilte. Ein Auge des Mannes war offen, das andere geschlossen, was darauf schließen ließ, dass der Tod plötzlich und unvorhergesehen eintrat. Anders als bei der ersten Leiche war diese bis auf die Unterwäsche entblößt und wies, sofort ersichtlich, tiefe kleine Schnittwunden von den Beinen bis ins Gesicht auf, als hätten ihn Miniaturpiranhas angeknabbert. Seine Kleidung wurde ihm vom Leib geschnitten. Patronenhülsen waren auch hier nicht zu finden, was die Anzahl der leuchtgelben Markierungsschilder, für forensisch relevante Hinweise, ohnehin nicht reduziert hätte. Das totbringende Projektil steckte auch hier in der Wand hinter dem Opfer, gleich neben dem einzigen Kastenfenster in diesem Raum und wurde ebenfalls nach dem Einschlag entfernt.

„Er ist für ihn überraschend getötet worden. Die Leute glauben ja immer, dass der Angeschossene, wie in Filmen, nach hinten fliegt, wenn er von vorne getroffen wird“, erläuterte Ulman die vorgefundene Szenerie.

„Das dritte newtonsche Gesetz. Es beinhaltet die Wechselwirkung zwischen Kraft und Gegenkraft“, ergänzte Weiss.

„Was?“, gab sich der alternde Ermittler verwundert und genervt, „die Opfer fallen einfach nach vorne oder direkt nach unten. Sie brechen zusammen. Das meinte ich.“

„Ich doch auch, Herr Kommissar.“

„Ihr Studierten seit alle gleich. Erfindet immer eine parallele Sprache, für alles. Dabei wissen einfache Typen wie ich das Gleiche. Aber so hochgestochen müssen wir nicht reden!“, streichelte sich Ulman über seinen Dreitagesbart und wies den Chefforensiker zurecht.

„Sieht fast nach Auftragsmord aus, aber ich bin kein Ermittler, nur ein Spurensucher und Analytiker“, antwortete Weiss mit einem dezenten Grinser auf seinem fein rasierten Gesicht, während er sich die Haube des Schutzoveralls von seiner Glatze zog und tief schnaufte.

Alle seine Humorpunkte für diesen Tag schon aufgebraucht, klatschte der genarrte Ermittler seine schwarzen Plastikhandschuhe zusammen und begann mit seinen treuen, rehbraunen Augen gedankenverloren aus dem einzigen Kastenfenster des kleinen Zwischenzimmers zu blicken, welches sich zwei Meter hinter der Leiche, Richtung Konferenzsaal, befand.

Der Regen prasselte auf die Scheiben und die Fensterbank und erwirkte für kurze Zeit eine hypnotische Wirkung auf den nikotinsüchtigen Alkoholiker, als ob sein Inneres ihn fragen wollte, was er eigentlich hier machte? Hatte er denn nicht schon genug solcher Tatorte und ausreichend schreckliche Bilder von verstümmelten Leichen gesehen? In welcher Kneipe und mit welchem Alkohol würde er diesen Tag von seiner Seele zu spülen versuchen? Erst der Analysebeginn von Weiss, brachte ihn wieder in die schauderhafte Realität zurück und diese hieß Professionalität im Dienst und die Stillung seines unbändigen Verlangens jeden, der in seiner Stadt Verbrechen beging zu schnappen und zu bestrafen.

„Es war die gleiche Waffe, 9 mm. Der Schütze stand noch im Wartezimmer, ungefähr drei Meter vom Opfer entfernt. Kopfschuss, sofort tot. Da das Opfer circa ein Meter neunzig groß und der Austrittswinkel des Projektils rechts neben dem Kastenfenster ist, kann man auf zwei Dinge schließen. Erstens der Täter war Rechtshänder, zweitens so groß wie von mit angenommen.“

„So weit war ich auch schon“, entgegnete der keifende Mittsechziger um fortzufahren, „und dann lässt er die Leiche von einem Mungo zerfleischen?“ Er war geistig wieder voll im Geschehen und würde er keinen harschen Ton anschlagen, keiner wüsste, ob Kommissar Sebastian Ulman mit seinen Gedanken nicht wo anders wäre.

„Nein, was Sie sehen sind Skalpellschnitte. Oder zumindest mit einem sehr feinen und scharfen Messer. Den Opfern wurden am ganzen Körper kleine epidermistiefe Gewebeteile entfernt. ´Post mortem´. Sehen Sie? Am ganzen Körper. Er wurde sogar dafür umgedreht und dann wieder gewendet, deshalb ist er voller Blut. So wie die Leiche im Flur. Was meinen Sie dazu?“

„Ein Trophäensammler wie gesagt. Der näht sich wohl gerade einen Mantel aus den erbeuteten Hautstücken“, entkam dem alternden Ermittler ein seltenes Grinsen.

„Das fehlende Gewebe ist zwischen Nullkomafünf bis zwei Zentimeter groß. Alle Beweismittel sind noch im Labor. Ich hoffe, dass wir schon einen ersten Überblicksbericht haben, wenn wir ins Dezernat kommen.“

„Beweismittel? Sehe ich nicht viele. Der Täter schießt das erste Mal im Stiegenhaus. Entweder er hatte einen Schalldämpfer oder er ist dumm. Der Wiederhall musste fürchterlich laut durch das ganze Haus gehallt haben. Aufmerksamkeit, das will keiner, der so etwas Aufwendiges vorhat“, stellte Ulman fest und strich sich mit den schwarzen Plastikhandschuhen wieder über seinen Dreitagesbart.

„Also der Täter war eine Person, die sich hier auskannte und auch die Opfer kannte?“

„Wie viele blutige Sohlenprofile haben Sie gefunden, Weiss?“

„Wohl nur eines. Aber das prüfen wir auch gerade im Labor.“

„Es spricht alles dafür, dass er etwas Persönliches als Trophäe mitnahm, da gibt es kaum etwas Persönlicheres als Haut. Sie entblößt das Opfer nach außen. Hätte er die Opfer aber aus boshafter Rache getötet, würden wir hier einen blinden ´Wutmord´ vorfinden.“

„Einen ´Overkill´, Ulman?“

„Ja, wie Sie das auch immer nennen wollen! Aber eines ist klar, die Tat war geplant.“ Der großstädtische Kommissar warf wiederum einen Blick zurück in den Eingangsflur, um die Route und Bewegungen des Täters nachempfinden zu können. „Der Täter hat sich unter Kontrolle. Er ist nicht der Schlauste, aber er hat sich unter Kontrolle. Sogar die Hülsen hat er mitgenommen. Die Projektile aus der Wand gerissen. Er kommt rein, bumm! Gleich weiter, bumm! Definitiv geplant oder haben Sie immer ein Skalpell und eine 9 mm bei sich Herr Doktor Weiss?“

„Ulman ich bin beeindruckt. Und warum hat er dem ersten Opfer nur elf kleine Gewebeteile herausgeschnitten, während er diesem hier gleich achtundzwanzig am ganzen Körper entfernte?“

„Hat er das?“

„Ja. Bei dem Opfer im Flur draußen zwei Zentimeter oberhalb der rechten Mamille, am Hals auf Höhe der Trachea und auf der hinteren linken Wade. Der Rest an Händen und Beinen.“

„Mamilla?“

„Brustwarze, guter Ulman.“

„Bitte sprechen Sie mit mir wie mit einem normalen Menschen. Ich habe nichts für dieses feine Gefasel über!“, stellte das leicht erregte Sozialbaukind mit grimmigem Ton seiner tiefen, kehligen Reibbrettstimme fest und war wieder am besten Wege zu einem seiner cholerischen Ausbrüche.

Als Dr. Weiss ein weiteres Mal zu einem Scherz ansetzte, um den aufbrausenden Ermittler zu besänftigen sah er, wie sich ein Polizist in Schutzanzug über der perlnachtblauer Uniform, näherte. Es war der blondgelockte, im Vestibül zurückgelassene Jungpolizist, der ohne Zögern und selbstbewusst auf die beiden Herren zuging.

„Sie wollten mich sprechen Herr Ober-Kommissar?“, fragte er dienerisch. Die angespannte Stimmung aus der Vorunterhaltung mitnehmend, wurde Ulmans Stirn wieder immer runzeliger und zog seine Augenbrauen über seine tiefsitzenden Sehorgane: „Ich will einen Ermittler sprechen, nicht einen Lehrling!“, schrie er krächzend und heiser klingend, hinaus in das Stiegenhaus, zu den Spurensuchern. „Sie hat dieser Pinguin also geholt?“, resignierte der morbide Mittsechziger weiter, „wie viele Leute sind von unserem Dezernat hier?“

„Mein Name ist Körner und wir sind insgesamt sechs Kollegen vom Morddezernat am Tatort, Herr Ober-Kommissar“, entgegnete der eingeschüchtert Wirkende, während er den glatzköpfigen Chef-Spurensucher hilfesuchend anblickende.

„Ich habe Sie nicht nach Ihrem Namen gefragt. Wo sind die Kollegen?“, begann Ulman immer mehr seine noch vorhandenen Zähne zu fletschen.

„Sie befragen Passanten und Mitarbeiter von den Geschäften unten an der Straße. Hier im Haus, in den Wohnungen, war niemand zuhause. Wir versuchen noch mehr als den einen Zeugen zu finden“, berichtete Körner in unterwürfigem Ton.

„Es gibt einen Zeugen?“

„Ja, er ist unten bei den Sanitätern.“

„Na gut. Körner, oder wie?“, fragte der plötzlich euphorische Kommissar.

„Richtig, Herr Ober-Kommissar“, antwortete der enthusiastisch wirkende sechsundzwanzigjährige Wachtmeister.

„Nun sind ja endlich alle psychedelisch aufgeheizt. Können wir weitermachen?“, warf der, am liebsten schon in seinem Forensik-Labor sitzende Weiss, ein.

„Ich will Antworten auf meine Fragen. Was ist das überhaupt für eine Art von Firma hier? Wer sind die Leichen? Gibt es noch weitere, die hier arbeiten und heute nicht anwesend sind? Gibt es an der Straße oder im Treppenhaus irgendwo Kameras?“, zählte Ulman, Finger für Finger hebend, die wichtigsten Ermittlungspunkte auf, welche er von seinen abwesenden Kollegen einforderte.

Als sich Körner, salutierend, schon wieder ans Werk machend, wegbewegen wollte, hielt ihn der grimmige Kommissar mit blutabschneidenden Händedruck am Oberarm fest und zog in zu sich heran. „Ich bin noch nicht fertig Frischfleisch“, trat der raubeinige Ermittler auf die Stimmungsbremse und ermahnte den bedrängten Körner, der sich seine Nase, mit der freien Hand zuhielt, als er unweigerlich in den ungepflegten Mund seines Aggressors blickte und dabei eine Brise ekelhaften Geruchsgemischs aus Bier, Zigaretten, Knoblauch und Speiseresten zwischen den eingefärbten Zähnen des rauborstigen Mittsechzigers einatmen musste. „Irgendwie muss der Täter in das Haus hereingekommen sein? Die alte Massivholztüre knackt kein Amateur und Panzerknackerprofi war der Täter wohl nicht. Also, durchforsten Sie jeden Paketdienstlieferanten, jeden Briefträger und alle Angestellten der Wasser- und Elektrizitätswerke, die hier Zugang haben.“

„Wird gemacht“, winselte Körner, der wohl alles bejaht hätte was von ihm verlangt worden wäre, hätte ihn nur sein kriminalistisches Idol losgelassen und aus seinem übelriechenden Gefängnis befreit. Der grobschlächtige Mittsechziger ließ alsbald von seinem neuen Handlanger ab und schupste ihn auf einen der teuren schwarzen Lederstühle, welche dicht an dicht im Wartezimmer standen. Sowie der Befreite sich aufraffen wollte, um die zu Büroräumen umfunktionierte Luxus-Wohnung, gepeinigt und ohne Verabschiedung, zu verlassen, durchdrang ihn nochmals ein lauter Nachschrei von Ulmans kratzig-tiefer Stimme: „Müll Körner! Durchsuchen Sie alle Müllcontainer, Mistkübel und Abwasserrinnen in einer Umgebung von vier Häuserblocks. Aber auf Jennifer. Damit Sie nicht auskühlen!“

Ohne sich umzudrehen nickte der Jungpolizist und zog sich die weiße Kapuze des Overalls noch tiefer ins Gesicht um seine Tränen zu verschleiern und dann hurtigen Ganges den Tatort zu verlassen.

„Wenn Sie so weitermachen, werden Sie noch vor Ihrer Pensionierung zum Personalvertreter gewählt werden“, versuchte der glatzköpfige Weiss erneut mit einem Scherz die Stimmung zu lockern. Der noch immer vor Erregung und teerdurchtränkter Lunge schnaufende Ermittler zippte sich seinen weißen Overall auf und zog aus seiner Jackentasche einen Nikotin-Kaugummi, den er sich in den miefenden Mund schob, als er Weiss mit einer Kopfbewegung deutete, dass er sich ohne große Worte den Tatort weiter ansehen wollte. Nur mit großer Anstrengung stiegen beide über die entstellte Leiche und deren Blutseeeinbettung, bogen beim hypnotisierenden Kastenfenster rechts ab und kamen in den kleinen Konferenzsaal, in dessen Mitte sich ein langer, ovaler Tisch befand, der ringsherum von edlen Ledersesseln umrandet wurde. Sowohl in diesem kleinen Saal, als auch in der angrenzenden Küche, standen keine leuchtgelben Markierungsschilder, was darauf schließen ließ, dass keine tatrelevanten Spuren gesichert werden konnten. Trotzdem hoffte der schnauzbärtige Chef der Spurensicherung, dass das talentierte und erfahrene Auge des routinierten Kommissars noch das eine oder andere Informative sehen konnte, was ihm und seinen Mitarbeitern nicht auffiel. Der inspizierende Ulman tappte aufmerksam durch die kleine Küche, um lediglich festzustellen: „Außer, dass die volle Kaffeetasse hier steht, nichts. Das zweite Opfer hatte wohl den ersten Schuss gehört und ist dann von der Küche hinaus, um nachzusehen. Zweiter Schuss. Tot. Zusammengeklappt. Gedreht. Gewendet. Aufgeschlitzt.“

„Das einzige was uns bleibt sind die Sohlenmuster und das Auftrittsmuster. Beeindruckend Herr Kommissar. Auch wie Sie gleich alle relevanten Fragen an den jungen Polizisten ausgegeben haben“, umschmeichelte der stets besonnene Spurensucher den wieder beruhigten Ermittler.

„Weiss, Sie sind ein alter Großstädter, wie ich. Das schätze ich so an Ihnen. Alle Welt will zu uns, aber nur wir sind hier richtig zuhause“, entwickelte das ansonsten so raue Sozialbaukind leise Gefühle von Verständnis und zwischenmenschlicher Geborgenheit.

„Wir haben schon einiges gesehen, oder Ulman? Hier passiert eben immer etwas.“

„Wissen Sie was mein letzter Fall war?“

„Leider nein.“

„Zwei Typen sitzen in einer Kneipe in Distrikt zehn, am Tresen. Niemandem der Anwesenden fällt den ganzen Abend etwas Verdächtiges auf. Kein Streit, kein Zank. Da steht der rechts Sitzende auf, zahlt seine sechs großen Bier und geht. Zehn Minuten später kommt ein anderer Kneipengeher, bei dem am Tresen zurückgebliebenen vorbei und spricht ihn an, dass er aus der Seite blute.“

„Ich schätze er ist gestorben, sonst wäre es nicht ein Fall für das Morddezernat geworden?“

„Dieser Bereich des Tatorts ist gesichert?“, unterbrach der witzelnde Ulman seine Geschichte.

„Ja.“

„Gut, dann schauen wir mal, was die feinen Herren hier haben?“, frohlockte der trinkfeste Kommissar wie ein Kind zu Weihnachten, während er die Innenseiten des Kühl- und Gläserschrankes durchsuchte. So schnell konnte der, lediglich zu hohen Anlässen nur rotweintrinkende Doktor, gar nicht reagieren, hatte er schon ein Glas Remy Martin Louis XIII Cognac vor seinen Augen pendeln. „Ich sagte ja, die feinen Herren haben hier nur feine Sachen. Kommen Sie Herr Doktor, stoßen wir an“, forderte ihn sein ermittelnder Gegenüber freudestrahlend, wie nie zuvor an diesem Tag, auf.

Viele Jahrzehnte musste sich Dr. Peter Weiss mit den verschiedensten und schwierigsten Charakteren herumschlagen, welche die ermittelnden Dezernate der Metropole zu bieten hatten, aber den trinkfreudigen, nun übers ganze Gesicht strahlenden und bekannt cholerischen Sebastian Ulman nun zurückzuweisen, war für den glatzköpfigen Schnauzbartträger eine kleine Mutprobe. „Immer gerne, aber das ist von einem Tatort, das können wir nicht“, gab er sich diplomatisch, um die Situation wiederum emotional zu begradigen.

„Aha. Sie sind in den Jahren auch zu einem feinen Herrn gereift. Ich bin ein Kind des Sozialbaus, das vergesse ich nicht. Wir bekommen das schöne Leben nur zentiliterweise“, merkte der enttäuschte Kommissar gereizt an und schluckte beide, mit vier Zentiliter gefüllten Gläser, so hastig hinunter, dass sein Kaugummi gleich mitweggespült wurde. Dahinauf reinigte er beide Gläser in der Abwasche, ließ sie dort stehen und stellte die Flasche Cognac in den Kühlschrank zurück. Als Weiss, noch vollkommen perplex und wie angewurzelt in der Küche stand, begab sich der hochprozentig Gestärkte schon zurück in den kleinen Konferenzsaal, um sich erneut einen Kaugummi aus seiner Jackentasche zu holen: „Kommen Sie, ich dachte es gibt drei Leichen?“

Beschämt, vom gerade Gesehenen, führte der oberste Spurensucher den cholerischen Kommissar, über das immer mehr in den Ritzen des Parkettbodens verschwindende Blutmeer im Zwischenraum und weiter in den Warteraum.

„Was ist hinter den restlichen drei Türen?“, erkundigte sich der, nun zur reinen, professionellen Distanziertheit abgebogene Mittsechziger, unterdessen, spielerisch, seine schwarzen Plastikhandschuhe zusammenklatschte. Der Spurensicherer zeigte auf eine weiße Türe, gegenüber dem Zwischenzimmer und erläuterte seinem nun leisen Zuhörer, dass sich dahinter ein nicht tatrelevanter Raum voller Aktenordner-Regale befand.

„Hinter dieser Tür ist ein Einzelbüro und hinter der vierten ein Großraumbüro. Dort ist auch die dritte Leiche gefunden worden.“

Auf einer Fläche von acht Meter Länge und fünf Meter Breite standen drei Schreibtische, der Fensterreihe entlang, aufgefädelt. Ganz am Ende des Raumes, am letzten Schreibtisch, standen zwei Mitarbeiter der Spurensuche und schossen noch letzte Detailfotos für die Tatort-Dokumentation. Der herumblickende Kommissar, in seinem weißen Einweg-Overall, schlenderte langsam durch den großzügigen Büroraum. Sein Kopf bewegte sich hin und her, denn vielleicht konnte er noch ein Detail erhaschen, welches seine Kollegen übersehen hatten. Doch außer einigen, vertrockneten Zimmerpflanzen, Stößen von unsortiert wirkendem Papier und Akten auf dem ersten Arbeitsplatz und eine, fast schon krampfhaft penible Gegendarstellung dieser Szenerie am zweiten, fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Die luxuriöse Ausstaffierung des Raumes war dem geschulten Ermittlerauge schon von den Vorangegangenen gewohnt und bewirkte keinerlei Staunen mehr bei ihm.

Der Regen hatte nachgelassen und die vier großen Kastenfenster, welche dem Eintretenden in das Großraumbüro begegneten, ließen nun die ersten leichten Sonnenstrahlen des Tages hereinscheinen. Wieder einmal konnte der fast schon pensionierte Kommissar seinen Blick nicht von den einfachverglasten Kastenfenstern lassen und schloss seine Augen um die wärmenden, durch die grauen Februarwolken durchblitzenden Sonnenstrahlen auf seiner faltigen Haut zu genießen. Für kurze Zeit war es so, als könnte er sich damit abfinden seinen Ruhestand anzutreten und all das Grauen seines Berufes hinter sich zu lassen. Was aber dann? Täglich Modellschiffe basteln, bis seine kleine Garconniere voll damit war oder gleich den schnellen Notausgang suchen und sich binnen einiger Jahre zu Tode zu saufen? Ein alter Mann wie er, war sich Ulman sicher, konnten nun mal nicht mehr alleine gegen das Verbrechen in seiner, millionenfach bewohnten, Heimatstadt ankämpfen und alle die es nach ihm versuchen würden, seien blondgelockte Jungpolizisten, die erstmals acht Mörder entkommen lassen würden, um aus ihren dilettantischen Fehlern die Schlussfolgerungen zur Ergreifung des neunten zu ziehen.

Dieses Mal unterbrach ihn niemand in seiner Trancestarre. Weiss betrat zwar ebenfalls den Raum, würdigte den Versteinerten aber keines Blickes und schritt schnurstracks zu seinen beiden Mitarbeitern, die gerade mit der Beweissicherung fertig wurden, weiter. Durch das Vorbeidrängen des zielstrebigen Chef-Forensikers wurde der alternde Gedankenschwelger nun aus seiner Zukunftsausmalung gerissen. Um wieder vollständig zur Besinnung zu kommen schüttelte er seinen Kopf samt seines, mit Haarfett gebändigten und zusammengebundenen Pferdezopfes und bewegte sich ebenfalls auf den dritten Schreibtisch zu. Darunter hockte eine weibliche Leiche. Scheinbar hatte sie noch versucht sich vor dem Täter zu verstecken, musste dann aber, unter panischen Ängsten feststellen, dass ihr schlechtes Versteck ihr Todesort wurde. Die Frau, etwa Mitte zwanzig, wurde mit einem Schuss in den seitlichen Kopf getötet. Der erfahrene Mordermittler erkannte sofort, dass es sich um einen aufgesetzten Schuss handeln musste, da die Eintrittswunde eine fünfeckförmige Sternwunde aufwies. Rundherum war die Haut, von den austretenden Gasen der Pistolenmündung stark verbrannt worden. Auch hier waren weder Hülse noch Projektil zu sichern. Der unsportliche Mittsechziger kroch unter den Schreibtisch und musterte die kauernde Leiche. Die zu Tode Gekommene hockte in ihrer letzten Pose, mit dem Gesäß zu den Fersen und der Brust zu den Knien gefaltet, in ihrem offenkundigen Versteck.

„Kataleptische Totenstarre, Herr Kommissar“, berichtete eine der beiden Spurensucherinnen.

Ulman begann zu lachen. Oft lachte er nicht, aber dann zu den ungünstigsten Zeitpunkten.

„Was ist?“, fragte er, mit seiner kratzig-tiefen Stimme, die ihn skeptisch anblickenden drei Forensiker, „schaut mal her. Weil sich die Muskeln versteift und zusammengezogen haben, konnte der Täter sie nicht am ganzen Körper anschneiden. Sie hat noch einen Bleistift, wie als Verteidigungsinstrument, in der Faust. Bleistift gegen 9mm!“

„Einschuss in das untere Stirnbein, nahe dem Keilbein. Austritt, glatt auf der anderen Seite gegen den Heizkörper“, analysierte die Spurensucherin, mit der großen Spiegelreflexkamera in den Händen, das Gesehene.

Unter schwierigsten Windungen krabbelte der sehnenverkürzte Mittsechziger an der kauernden Leiche vorbei und musterte die dahinterliegende Wand samt Heizkörper. „Keine Knochensplitter. Kein Projektil. Also ein aufgesetzter Schuss. Die Kugel hat die Schädeldecke mit eingedrückt, da kann auf der anderen Seite nichts Menschliches herauskommen. Also der Täter erschießt den ersten Mann an der Eingangstüre, geht dann schnell weiter in den Warteraum, erschießt den zweiten Mann und dann hierher. Sieht die Frau unter dem Tisch und bumm!“

„Sehr gut, Herr Kommissar. Fällt Ihnen noch etwas auf?“, spornte Weiss den wild Kombinierenden weiter an.

„Durch die Größe der unverbrannten Schießpulverpartikel und der Größe des Abstreifrings kann ich die Entfernung der Tatwaffe auf sehr, sehr kurz schätzen. Hier gibt es nicht viel Blut. Weil die Schusswunde an der obersten Stelle des Körpers ist und die Leiche nicht bewegt wurde. Sehen Sie? Er hat auch nur die Kleidung aufgeschnitten und das entfernt, wo er gut dazu kam. Wieviel Gewebeentnahmen gab es hier?“

„Wir haben nun insgesamt vierunddreißig gesichtet“, zählte die zweite Spurensucherin, ohne Kamera, aber mit Notizblock, nochmals aus den Mitschriften ab.

„Und dann hatte er genug Haut? Oder war die Zeit zu knapp?“, war sich, der schwerfällig wieder aufrichtende Ulman, nicht sicher. Eindeutig hatte er es hier mit einem gefühlskalten, unberechenbaren und narzisstischen Menschen zu tun der, so tippte der routinierte Kommissar, nicht das erste Mal gemordet hat.

„Gut, ich habe alles gesehen. Bitte senden Sie mir den Bericht so schnell als möglich zu. Ausgedruckt! Sie wissen, ich will immer alles auf Papier stehen haben!“, bat der multimedial Zurückgebliebene den grinsenden Weiss um Nachsicht.

Als er über den Warteraum und durch den Eingangsflur, wieder in das Treppenhaus zurückkehren wollte, blieb der, abermals über Sohlenabdrücke und Markierschilder steigende Ulman, noch für einen Moment stehen und betrachtete das erste Opfer.

„Was für ein kranker Mistkerl! Wir haben hier vier Schreibtische und drei Opfer. Bei dieser Tat muss sich jemand mit den Gegebenheiten hier ausgekannt haben. Er muss gewusst haben, dass er hier keine Zeugen und Ruhe vorfindet und er muss gewusst haben wo er welche Opfer auffinden wird. Sonst hätte er nicht noch extra die Frau unter dem Schreibtisch liquidiert“, replizierte der aufgebrachte Ermittler, „was ist das für ein Raum?“

„Nach der Spurensicherung haben wir die Türe wieder zugemacht“, attestierte Weiss, dem dahinter zu Erwartenden wenig Amüsement.

„Mich schockt nichts mehr“, gab sich der alternde Ermittler unantastbar, stieg über die Leiche und öffnete die Türe.

Ein lauter Aufschrei war die Folge. Ein Schwall von bestialischem Fäkalgestank sprang ihm entgegen. Zwar war er schon öffentliche Großstadttoiletten und Müllplätze gewohnt, aber was sich da, in diesem kleinen Raum, trotz offenem Fenster, angestaut hatte, war einfach nur ekelerregend. Nur durch seine Wissbegierde und Lüsternheit auch diesen Fall so schnell als möglich zu lösen motiviert, trat er ein. Der weißgeflieste Raum hatte über dem Spülkasten ein circa einen Meter mal vierzig Zentimeter kleines Fenster, welches offen stand. Doch trotzdem konnte der geringe Luftzug, die üblen Ausdünstungen nicht aus dem Sanitärraum beseitigen. Obwohl Ulmans kleine Garconniere weit davon entfernt war eine Parfümerie zu sein, aber so einen Saustall hatte er nicht mal in seinem Klo mit roter Brille, welches er sich mit zwei anderen Nachbarn auf der Etage teilte, erlebt. Der unsportliche Mittsechziger wollte den Spülkasten erklimmen und aus dem schmalen Fenster blicken, welches in einen freiliegenden Schacht führte und alle Toilettenfenster auf dieser Seite des Zinshauses damit entlüftete. Da fiel ihm auf, dass der Gestank in der Keramikmuschel seine Quelle hatte. Der letzte Benutzer hatte einen längeren Toilettengang hinter sich gebracht und nicht gespült. Die feuchte Erleichterung spritze bis auf die Umrandung und färbte die weiße Schüssel in ein miefiges hellbraun.

„Hat unser Täter nach diesem Wahnsinn großzügig das Klo verschissen und nicht gespült? Nicht einmal die Klobrille hat er heruntergeklappt das Schwein!“, wunderte sich der angewiderte Kommissar und grübelte was er mit dieser Situation anfangen und wo er sie einreihen konnte. Dann dachte er daran, dass das erste Opfer womöglich bei seinem großen Geschäft unterbrochen und dann, beim Öffnen der Eingangstüre, erschossen wurde.

„Okay, Doktor Weiss, ich habe genug gesehen. Ich erwarte Ihren Bericht. Ausgedruckt! Bis wann?“, appellierte er um schnelle Abhandlung der forensischen Untersuchungen und stieg über die Leiche im Eingangsflur, um im Treppenhaus nach Luft zu schnappen.

„Herr Kommissar, wir arbeiten mit allem was wir haben. Der Druck aus dem Dezernat ist enorm. Auch auf Sie. Ich hoffe, dass ich bis heute Abend schon mehr weiß“, gab sich der Chef der Spurensuchung beschwichtigend.

„Gut“, murrte Ulman und ließ Weiss bei seinen beiden Kolleginnen am Tatort zurück. Es war nicht das erste schwierige Treffen der beiden, aber heute hatte der alternde Ermittler seinen Ruf als cholerischer Kollegenschreck wieder alle Ehre gemacht. Bei den Stiegen, die wieder hinunter in das Vestibül führten, angekommen, riss er sich den weißen Overall, die Überziehschuhe und die schwarzen Plastikhandschuhe vom Leib und ließ die gebrauchte Adjustierung einfach an Ort und Stelle liegen. Noch bevor er die erste Terrazzotreppe des hallenden Stiegenhauses betrat, genoss er schon einen tiefen Zug von einer, in seinem Mundwinkel eingepressten, Zigarette. Der Abgang sollte nicht so beschwerlich werden wie der Aufgang und für einen kurzen Moment konnte Kommissar Sebastian Ulman entspannen.

Stadtflucht

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