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Kapitel 4 Tagwerk Leiden
Оглавление„Wollen Sie eine warme Suppe, um sich aufzuwärmen?“, bot der Rettungssanitäter Aaron Röttgers fürsorglich eine Schale der heißen Brühe an, indessen dieser, in eine dicke Baumwolldecke gehüllt, im Inneren des Notarztwagens, auf einer Pritsche Platz nahm. Sein Blick war versteinert und eingefroren nach vorne gerichtet. Ins Nichts. Es war, als ob er sich aus seinem Tunnel der geistigeren Leere und traumatisierter Einigelung, welche seine Panikattacken und Angstschübe unterdrückten, nie mehr werde befreien können. Wohl nahm er die Sanftmut der Sanitäter wahr, doch presste seine Augen eine innere Macht an die weiße Innenwand des Sanitätsbusses und versetzte seinen gesamten Körper zugleich in ein Wechselspiel aus Zittern und Starrheit. Im vermindert Positiven war dadurch das Schwindelgefühl zurückgegangen, welches durch den Blutstau in seinem Kopf ausgelöst wurde.
„Der Mann steht unter Schock, lassen Sie ihn“, merkte der zweite Sanitäter, gegenüber seinem Kollegen an, „warten wir, bis der Interventionspsychologe kommt.“
Psychologe, Rettungswagen, Kamerateams, Menschenmassen hinter Polizeiabsperrungen. Der am liebsten heimelig-verschanzte Aaron wollte einfach nur in seine saubere Wohnung und es sich, statt einer Suppe hier, dort mit Junkfood vor dem Fernseher gemütlich machen.
„Wann kann ich nach Hause?“, stammelte er, den Blick weiterhin nach vorne gerichtet, um mit der leidlichen Darstellung seiner Konsterniertheit, eine Freigabe zu erbetteln.
„Sie müssen noch die Polizeibefragung abwarten. Der Hauptermittler ist erst vor kurzem eingetroffen. Der Traumapsychologe wird auch bald kommen“, erwiderte der Suppen-Sanitäter.
„Oh mein Gott“, dachte sich, der sonst so säkularisiert auftretende Aaron, als er Polizei hörte.
Er wollte doch immer nur ein unbeschwerliches Dasein, unterhalb des öffentlichen Radars, verleben und nun sollte er auch noch eine Vernehmung mit einem Hauptermittler durchstehen. Hätte heute Morgen doch nur sein Schweinehund den Sieg über seinen pflichterfüllenden Aufstehdrang erlangt, dann läge er vielleicht noch in seinem wohlig warmem Bett und säße nicht in einem Rettungswagen in einer Seitengasse, abgeschirmt von Kameras und Schaulustigen in der Nähe seiner, zum Tatort umfunktionierten Arbeitsstätte.
Der Nieselregen legte sich und die Sonne ließ die ersten leichten Strahlen, durch die kleinen Rettungswagenfenster, in sein Gesicht scheinen und den ersten Schockzustand in nörgelnde Verdrossenheit umkehren. Wenn Aaron eines mehr hasste als einen heißen Großstadtsommer mit schlaflosen Tropennächten, dann war es Warten. Und nachdem ihm die Erinnerung an so einen Sommer nun ins Gesicht schien und blendete, wollte er zumindest Zweites so schnell als möglich beenden. Er streifte sich die Decke vom Rücken, öffnete die Hintertüre des Busses und stieg aus. Die beiden Sanitäter versuchten ihn aufzuhalten: „Bleiben Sie hier. Sie stehen unter Schock!“
Als sich Aaron seine rechte Hand als Sonnensegel, auf seine Augenbrauen legte und die Sonne aufhörte sein Sichtfeld zu blenden, fand er sich in einer apokalyptischen Szenerie wieder. Keine Autos fuhren, keine Hupen ertönten, nur der Geruch von verbranntem Treibstoff hing weiterhin in der kalten Großstadtluft. Links und rechts starrten Menschen aus den Fenstern der Gründerzeitbauten im Neo-Renaissance-Stil und versuchten einen Blick auf den turbulenten Aufruhr auf der Prachtstraße und die Masse an Exekutivfahrzeugen in den Quer- und Parallelstraßen zu erhaschen. Mit fortweilender Dauer seiner Anwesenheit musste der konfuse Beäugte feststellen, dass immer mehr schaulustige Fenstergucker ihre Aufmerksamkeit nun auf ihn richteten. Wie auf der Bühne der weltberühmten Oper der Metropole kam er sich vor. Eine Feuerwalze an Logengaffern urteilten ihn von allen Seiten ab und an dem bloßgestellten Gefühl des Ausgeliefertseins an Fremde, konnten auch die blattlosen Ahornbäume, welche sich zwischen leerer Fahrbahn und verlassenem Gehsteig aufreiten, keinen Blickschutz bieten. Dieser Umstand und das Unwohlsein in seiner nass-dreckigen Kleidung, waren ihm zu viel. Wie ein Gladiator, der in der Arena den Raubtieren vorgeworfen wurde, machte er sich wieder retour zum schützenden Rettungswagen, als aus einiger Entfernung ein tiefer, kratzender Schrei sein Unterfangen unterbinden wollte:
„Sie da, bleiben Sie wo Sie sind!“
Schon fast wieder in sein sicheres Sichtversteck zurückgeklettert, wandte der Flüchtende seinen Blick nochmals gegen die Sonne und entgegnete verdattert: „Warum?“
„Kommen Sie her, ich habe mit Ihnen zu reden!“, befahl der entgegenkommende Schreihals mit unverminderter, reibbrettartiger Stimmintensität, aus dem blendenden Sonnenlicht. Beibehaltend diente seine rechte Hand als Sonnenschirm und seine nun beschatteten Augen konnten zwei Männer ausmachen. Einen großen dünnen, hageren Mann, der für den eingeschüchterten, flüchtenden Gladiator wie ein arbeitsloser Trunkenbold aussah und ein, ihm schnellen Schrittes folgender, blondgelockter Polizist in perlnachtblauer Uniform. Kurz dachte er, ein Schaulustiger hätte die Absperrung durchbrochen und wollte ihm etwas antun und der Exekutivbeamte hinter ihm versuchte den, sich schnell nähernden Aggressor, davon abzuhalten. Daher intensivierte er seine Anstrengungen wieder in den Rettungswagen zu gelangen. Da packte ihn von hinten eine festdrückende Hand an seiner Schulter und zog ihn von der hinteren Stoßstange.
„Bleiben Sie jetzt endlich hier!“, brüllte ihn der finster dreinblickende Mann mit faltigem, verbraucht-wirkendem Gesicht an.
Der junge blondgelockte Polizist hatte den alten Unruhestifter nun endlich eingeholt und reichte ihm einen Tablett-Computer.
„Herr Ober-Kommissar, hier alle relevanten Daten über den Zeugen“, und übergab dem erstaunten Grobian, der nun von Aaron abließ, um nach dem Bildschirm zu greifen.
„Körner, was soll das? Ist das ein riesiges Telefon ohne Tasten?“
„Nein, ein Tablet-PC. Sie können hier auf alle relevanten Daten und Akten des Polizeiservers zugreifen. In der Cloud. Landesweit. Mit der nötigen Berechtigung sogar auf INTERPOL.“
„Ich will einen Akt aus Papier und Tinte, so etwas interessiert mich nicht.“
„Den gibt es auf dem Morddezernat. Aber ich habe Ihnen den Akt des Zeugen schon geöffnet. Sehen Sie? Auf der ersten Seite stehen alle relevanten Personaldaten.“
„Das ist mir egal!“, wetterte der, viel zu leicht für diese Jahreszeit bekleidete Choleriker gegen das technische Wunderwerk und drückte es Aaron in die Hände.
Dieser konnte gar nicht glauben, was er da sah und hörte. Weniger der rauborstige Umgangston innerhalb der Polizei, sondern mehr die Tatsachen, dass es in der Exekutive eine interne Akte über ihn gab und dieser sichtlich ungepflegte Rüpel ein Ober-Kommissar sein sollte.
„Mein Name ist Kommissar Sebastian Ulman, ich bin Hauptermittler in diesem Fall. Bitte werfen Sie einen Blick auf diesen Bildschirm und sagen mir, ob Ihre Daten richtig sind?“, forderte der alternde Ermittler den, in den Rettungswagen zurückgekehrten Zeugen auf. Aus Angst und Hoffnung, bald wieder nach Abhandlung dieser Formalitäten, in seine beschaulichen vier Wände zurückkehren und einen Riegel vor diese verrückte Welt schieben zu können, machte Aaron wie ihm befohlen wurde. Keinerlei Anstalten machte er, nachzufragen woher die Daten kamen oder wie es nun weiterginge, zu sehr war er vom Auftritt des cholerischen Kommissars eingeschüchtert. Mit vorbildlicher Kooperation würde er schon so schnell als möglich diesen Ort verlassen können. Während Aaron die erste Seite des Tablett-PCs mit seinen persönlichen Daten überprüfte, wandte sich der nervenlose Ulman wieder seinem jungen Kollegen zu: „Haben Sie schon Antworten für mich?“
„Keine weiteren Zeugen, wir haben alle Angestellten der Geschäftslokale an der Prachtstraße gefragt. Bewohner aus dem Zinshaus waren keine aufzufinden. Wir haben Nachrichten an den verschlossenen Türen hinterlassen. Auch weit und breit keine Kameras, die etwas Relevantes aufzeichnen hätten können“, berichtete Körner mit zittriger Stimme.
„Bin ich eigentlich der einzige Kommissar hier?“, wunderte sich Ulman.
„Herr Ober-Kommissar, ja.“
„Ich bin nur Kommissar, du Pfeife! Seid ihr sicher, dass alle befragt wurden und es keine Kameras gibt?“
„Ja“, gab der unterwürfige Polizist, immer wieder leicht verbeugend, an.
„Gut. Klären Sie noch Folgendes ab. Wer hatte alles einen Schlüssel für die Eingangstüre in das Zinshaus? Wer gelangt ohne Probleme in das Stiegenhaus. Den Rest mach´ ich dann schon alleine.“
„Sind wir am Abklären. Sie bekommen eine Liste.“
„Es kann ja nicht sein, dass Weiss und die ganze Spurensuche hinter dem Fall sind und ich bin alleine mit lauter Frischfleisch. Wie sieht es mit dem Müll aus?“, vergewisserte sich der, alles zu sehen glaubende Mittsechziger, bei dem jungen Mann, dessen Anfangseuphorie, ob des Mitwirkens an diesem Tatort, ungebremst war.
„Es tut mir leid Herr Kommissar, aber die Müllabfuhr war heute schon hier und hat im ganzen Distrikt den Restmüll abgeholt. Nur die Papiermüll-Container sind noch voll.“
Nun lief Sebastian Ulmans Kopf rot an und seine, eigentlich einladenden, rehbraunen Augen verschwanden hinter der Beschattung seiner gerunzelten Augenbrauen: „Das kann ja nicht Ihr Ernst sein! Los, auf zur Müllverbrennungsanlage und alles durchsuchen. Fordern Sie mindestens zwanzig Helfer an. Und Sie, Körner, werden als erster knietief im Dreck mit dem Metalldetektor unterm Arm suchen!“
„Ja, aber was suchen wir?“, wollte sich der blondgelockte Wachtmeister vergewissern, keine Fehler in seinen weiteren Aktivitäten einzustreuen.
Der schmale, ausgemergelte Mittsechziger packte seinen, gut einen Kopf kleineren Kollegen am Kragen und zerrte ihn einige Meter, unter den amüsierten Blicken der Schaulustigen an den umliegenden Fenstern, vom Rettungswagen weg. „Schusswaffen, Patronenhülsen, Projektile, Messer, Scheren“, flüsterte er ihm, mit gewohnt tief-räuspernder Tonlage, despektierlich ins Ohr und deckte den, vor allen Beobachtern Bloßgestellten, mit seinem üblen Mundgeruch ein. Schnell zum Abschied salutierend, flüchtete Körner die Seitengasse entlang zur Prachtstraße, wo sich die mobile Einsatzzentrale aller Exekutivorgane befand. Verstört blickte ihm Aaron hinterher, der zwar nichts von den leisen Ansagen des herrischen Kommissars gehört hatte, sich aber bereits ein deutliches Bild von jenem Mann machte, in dessen knöchrigen Fingern nun sein weiteres Wohlergehen lag. War es denn nicht gesellschaftlicher Usus, dass man sich seiner beruflichen Stellung und Funktion entsprechend kleiden sollte? Zwar fing Aaron mit diesem ungeschriebenen Dress-Code-Gesetz, warum ein Bankangestellter immer Anzug und Krawatte oder Busfahrer immer lange Hosen zu tragen hatten, ohnehin nichts an. Aber der Mensch ist eben auch nur ein Sklave seiner wilden Triebe und der imaginäre Gesellschaftsvertrag, so seine Interpretation der Welt, der ab der Sekunde der Geburt unterschrieben wurde, hatte nun einmal vorgesehen, dass man mit Vertrauen am besten Geld machen konnte. Und Geld war nun mal ein Schlüssel zu Macht und Macht bedeutete Aufstieg im Rudel. Und es gab im Rudel nun mal kluge Anführer, die den Kampf gegen andere Rüden nicht scheuten, aber dafür ständig im Fokus standen und es gab Anführer wie ihn. Die, welche eine Leitungsfunktion innehaben hätten können, es aber nicht wollten, weil sie sich nicht auf Grabenkämpfe mit Betarüden, wie es Sebastian Ulman einer war, einlassen wollten. Zu aufwendig, zu energieraubend, zu rastlos und zu ärgerlich waren für den faulen Aaron diese ständigen gesellschaftlichen Zwänge nach Führungsanspruch und Überlegenheit. Wenn jemand zu einem Bankangestellten mehr Vertrauen hatte, nur weil dieser, auch bei vierzig Grad im Schatten Anzug und Krawatte trug, dann suchte er, so Aaron, lediglich nach Vertrauen und Führung. Wer nicht anecken wollte und den Grabenkämpfen ausweichen, der musste klug handeln. In des selbsternannten Gesellschaftsphilosophen Werkzeugkoffer war die Schauspielerei, und er war ein guter Schauspieler, der durch die harte Schule jahrelanger Verkaufsgespräche und Preis-Feilschereien gegangen war, sein zwischenmenschliches Mittel zum Zweck. Auch im Handel spielte Vertrauen eine tragende Säule des Verhandlungsgeschicks. Den Gegenüber loben, ihn schwafeln lassen und in seiner geglaubten Erhabenheit bejahen. Sein innerstes Verlangen finden und es ihm doppelt geben. Und erst bei der Vertragsunterschrift kam der Gepriesene drauf, dass er gelinkt wurde. Der Wohlstandsbauchträger war nach außen ein aufoktroyierter Schleimer, Heuchler und Jasager. Im Inneren ein passionierter Nörgler, Zweckpessimist und arroganter Besserwisser. Ein willensbildender Manipulator der es, durch kaufmännisches Geschick, immer wieder schaffte seine egozentrische Impertinenz zu verschleiern, wenn es zu seinem Vorteil gereichte. Aber warum dann ein Mordermittler, der ebenfalls Vertrauen projezieren sollte, so auftrat, war Aaron ein Rätsel. Schwarze, ausgelatschte 80er-Jahre Lederslipper, eine verschlissene graue Stoffhose mit sprödem Ledergürtel, gelb-braun-grün gestreiftem Hemd, wie aus einem Retro-Laden und einer dünnen, für diese Jahreszeit komplett ungeeigneten Frühlingsjacke aus hellem Kunststoffleder. Dazu noch der wildwuchernde Dreitagesbart und das mitgenommen dreinblickende sowie faltige Gesicht von unzähligen Räuschen und Nikotindröhnungen gezeichnet.
In seinem fortwährenden Streben zwischenmenschliches Vertrauen aufzubauen schien dieser alte, hagere Mann ein Härtefall zu werden. Als Aarons Musterung bei den, mit Fett gebändigten und zu einem Zopf gebundenen Haaren ankam, musste er feststellen, dass der Begutachtete ihm nun wieder seine volle Aufmerksamkeit schenkte: „Und sind Ihre Daten korrekt?“
„Ja, das sind sie“, antwortete er, mit schwacher Stimme, aus dem Rettungswagen hinaus.
Gleich von Beginn an, wollte er das ärmlichste Häufchen Elend darstellen, welches die Polizei je gesehen hatte, um mitleidsbekundet so schnell als möglich nach Hause zurückkehren zu können. Was genau in den letzten Stunden passiert war, schob sein Gehirn vollkommen zur Seite. Sein natürlicher Fluchttrieb wollte ihn einfach nur in emotionaler Sicherheit wiegen, um diese unangenehme Situation so schnell als möglich zu meistern. Eine Mär aus egozentrischer Selbsttäuschung.
„Gut, Sie müssen mit aufs Morddezernat kommen und eine Aussage machen. Ich habe hier nicht die nötigen Daten, die ich brauche. Das steht alles auf gutem altem Papier.“
Aaron stieg wieder das Blut in den Kopf und ihm wurde leicht schwarz vor Augen. Mitkommen, Morddezernat, Aussage? Konnte er denn nicht einfach in sein Bett zurückkehren und seine Ruhe vor der Welt haben? Aber in solchen Situationen kam eben seine Kämpfernatur zum Vorschein. Sein schauspielerisches Talent, welches ihm schon so oft ermöglichte, Gespräche und Bekanntschaften, mit einem gespielten Interesse seinerseits so zu versehen, so dass sein Gegenüber glaubte Aaron läge wirklich etwas an seiner Person und seiner Geschichte, würde ihn schon irgendwie aus dieser emotionalen Sackgasse herausmanövrieren. Innerlich ordnete er sich neu: zusammenreißen und am besten jenen stillen Jasager geben, den man wohl von ihm verlangte und dem rüpelhaften Kommissar glaubhaft versichern, dass auch sein grausames und unterdrückerisches Verhalten zur Rudelführung führte. Für diese Variante schien sich der alternde Ermittler entschieden zu haben und Aaron wollte ihm bei seinen gesellschaftlichen Ambitionen keinesfalls im Wege stehen.
„Natürlich Herr Kommissar“, gab sich der Zeuge geknechtet, „worum geht es eigentlich? Ist jemand tot? Was ist genau passiert?“
„Was, Ich dachte Sie sind Zeuge der Morde?“, zeigte sich Ulman verwundert über die Unwissenheit seines im Rettungswagen kauernden, einzigen Kronzeugen.
„Morde?“, fragte der Geschockte nochmals nach, nicht glauben könnend, was er da hörte.
Die beiden im vorderen Teil des Notarztbusses sitzenden Sanitäter nickten ihm gequält zu.
„Ja, wir haben hier ein Massaker vorliegen und ich muss Sie dazu befragen! Bitte kommen Sie mit“, pfiff der zeichengebende Kommissar den desillusionierten Zeugen aus dem Wagen.
Als dieser nur einige Sekunden, unter langsamer Rückkehr seiner Besinnung, zögerte, packte ihn Ulman grob unter den Achseln und zog ihn aus dem rettungsdienstlichen Kleinbus.
„Warten Sie, der Zeuge steht noch unter Schock. Es war noch kein Arzt oder Psychologe hier, der bestätigt, dass er vernommen werden kann!“, versuchte der fürsorgliche Suppen-Sanitäter den stürmischen Ermittler Zeugen blindlinks zu verschleppen.
„Wo ist der Arzt?“, entgegnete Ulman kratzig und harsch.
„Der Psychologe sitzt in der U-Bahn fest. Es gab ein Gebrechen bei den Gleisen.“
„Deshalb fahre ich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln“, lachte das Sozialbaukind und setzte seinen Gang, mit festem Handgriff unter Aarons Oberarm, zu seinem Auto fort.
Die Herangehensweise, wie er sich diesen cholerischen und aufbrausenden Beamten zurechtrücken konnte, war Aaron nun klar. Das Ziel musste es sein, dass er ihm wohlgesonnen war und dabei spielte dessen Drang zur Diskreditierung anderer, um die Selbstabneigung vor seinem innersten Spiegel verdeckt zu halten, eine wichtige Rolle. Schnell analysierte der drangsalierte Kaufmann die Simplizität dieses alten Mannes und machte sie als seine größte Schwäche aus. Genau diese Leute waren es, die Aaron so sehr zur Weißglut trieben. Menschen, die geistig limitiert waren und trotz ihres beschränkten Horizonts, anständige Bürger wie ihn, einfach so am Arm packen konnten. Menschen, die zu allem eine Meinung hatten, obwohl sie intellektuell nicht dazu berechtigt waren und Menschen, die anderen mit ihrem Verhalten nur Unbehagen bereiteten.
„Ich hasse es auch U-Bahn zu fahren“, stellte der anbiedernde Zeuge beschwichtigend fest, woraufhin Ulman seinen Griff lockerte und wenig später ganz löste.
„Hören Sie zu“, wandte sich der großstädtische Kommissar seinem einzigen Zeugen zu, der sich, ob der nun verminderten Gesprächsdistanz beider Gesichter, die Hand vor die Nase hielt, um nicht weiter den üblen Mundgeruch des ungepflegten Polizisten, einatmen zu müssen, „Sie sind, wie es scheint, der einzige Zeuge und ich bin schon lange Zeit dabei. Das heißt, für mich sind Sie vielleicht mehr als ein Zeuge. Verstehen Sie mich?“
Nein, Aaron verstand es nicht, nickte aber, um seine angebotene Kooperation und Unterwürfigkeit zu bekräftigen. „Kann ich noch meinen Rucksack und meine Haube mitnehmen?“
„Ja, holen Sie sie und dann Abfahrt“, zeigte sich der alternde Ermittler ungewohnt ein- und nachsichtig.
Der innerlich aufgelöste Zeuge lief die paar Meter zum Rettungswagen zurück, schnappte sich seine Sachen, bedankte sich bei den Sanitätern und betonte ihnen gegenüber, dass alles gut werden wird. Schnellen Schrittes nahm er wieder das Tempo des weiterstampfenden Kommissars auf und folgte diesem unauffällig und wortlos zu dessen Auto.
„Sie haben es nicht so mit Statussymbolen, oder?“, konnte sich Aaron, beim Anblick des 1988 himmelblauen Citroen AX mit schwarzen einfachen Stahlfelgen, angerosteter Stoßstange und dem, ihm noch immer nicht verständlichen Erscheinungsbild des Kommissars, eine freche Bemerkung nicht verkneifen.
„Steigen Sie ein und reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden“, skizzierte Ulman das weitere Prozedere auf.
Er steckte sich einen Zahnstocher in den Mund und ließ ihn, mittels seiner Zunge, von der einen zahnunvollständigen Unterkieferseite zu anderen rollen. Diese eisbrechende Bemerkung, über das geliebte Fahrzeug des alternden Ermittlers, kam wohl zu früh und setzte an der komplett falschen Stelle an. Enttäuscht über sich selbst nahm der Zeuge am Beifahrersitz des, innen perfekt gepflegten und mit hellen Ledersitzen ausstaffierten Fahrzeugs, Platz. So konnte er sich dieses Gefährt, von außen betrachtet, nicht vorstellen. Wieder einmal hatte er zu schnell geurteilt. Vielleicht war auch der Kommissar äußerlich heruntergekommen und innerlich geordnet und seine Seele gut gepflegt. So gut, wie Aaron oft Schauspielern konnte, um sich seiner Umgebung anzupassen, so wenig war es ihm möglich Menschen richtig einzuschätzen, was bei ihm oft in falschen Vorverurteilungen mündete und eigentlich hasste er nach heißen Großstadt-Sommern und Warten nichts mehr als Vorverurteilungen. So wie Aaron zumeist versuchte sich seiner Umgebung anzupassen, um ja nirgendwo anzuecken und nicht seine liebe Ruhe und innerliche Eintracht zu gefährden, wusste er nun auch schnell wie es in dieser Situation um ihn bestellt war. Zwar reichten seine bisherigen Erkenntnisse der Sachlage noch immer nicht ganz aus, um zu begreifen, was wahrhaftig vorgefallen war, aber er konnte sich ausmalen, dass es sich um keine Lappalie im öffentlichen Interesse handelte. Anstatt sein Gegenüber, wie gewohnt, genau zu beobachten und gemeinsame weltanschaulich-thematische Nenner zu erfragen, versteifte er sich lieber darauf still und der Situation dienlich, am ledernen Beifahrersitz des altehrwürdigen, dieselfressenden Citroen AX zu sitzen. Ohnehin ahnte er schon, dass der Fahrer heute darüber entscheiden würde, ob er sich am Abend, mit einer Tüte Fast-Food vor seinem Fernseher, in seiner Wohnung, von den schlimmen Ereignissen des Tages wird verstecken können, oder ob er noch länger in dieser Notlage feststecken musste. Eine Situation, die ihm unangenehmer nicht sein konnte. Im Mittelpunkt stehend, mit Argusaugen beobachtet zu werden und jede seiner Gestiken, Mimik und Atemzüge einer Interpretation von Fremden ausgesetzt zu wissen. Der passionierte Nörgler konnte nur in Gesellschaft einer Handvoll Leute wirklich er selbst sein und neben seiner Freundin, die wohl nach dem gestrigen, gefühlt tausendsten, heftigen Streit das Weite gesucht hatte, zählten noch seine oberflächlichen Freunde aus dem Studium und sein engster Familienkreis dazu. Und wirklich befreit konnte er sich nur öffnen, wenn er das ein oder andere Bier zu viel gekippt hatte. Dabei waren auch Ausfälligkeiten keine Seltenheit. Zweckpessimismus verbreiten und über Gott und die Welt philosophieren. An jeder Ecke und an jedem Menschen das Schlechte zum Vorschein bringen. Dieses, sein wahres Gesicht, konnte er nun nicht zeigen.
Auf keinen der vertraut wirkenden Personen, die ihn nahmen so wie er war, konnte er nun in dieser, für ihn so misslichen Lage, zählen, saß er doch am Beifahrersitz eines Autos, eines Kommissars der Mordkommission und tingelte mit diesem, im schleichenden Tempo, von einer roten Ampel zur nächsten.
Nicht einmal als der wortlose Chauffeur die Fenster öffnete, um das von der voll aufgedrehten Heizung stark erwärmte Wageninnere zu kühlen, kam Aaron ein Ton aus. Kein Vortrag über Umweltsünden, keine Predigt über Ressourcensparen. Auch nicht, als sich Ulman genüsslich eine Zigarette anzündete und die Passivrauchschwaden dem Beifahrer ins Gesicht qualmten. Es brodelte in ihm, aber er sagte nichts. Es bedurfte keiner Dissertation in Menschenkenntnis, dass jegliche kritische Ansage vom Beifahrer- zum Fahrersitz, seiner Situation nicht dienlich war. Aaron war diesem cholerischen, ungebildeten, masochistischen und ignoranten Grobian ausgeliefert. Die schlimmste Bewandtnis, die er sich wohl ausmalen konnte. Nicht im Bilde, verdreckt, durchnässt und ausgeliefert. Selbst für einen notorischen Pessimisten wie ihn nicht vorstellbar. Er zog die Haube tief, bis an seine Augenbrauen, hinunter und versteckte sein Gesicht bis zur Nasenspitze in seinem Jackenkragen, blickte starrsinnig aus dem Beifahrerfenster, des nach Dieselabgasen und Zigarettenqualm stinkenden Oldtimers und versuchte sich mit der Beobachtung der vorbeirauschenden Straßenszenerie die Zeit zu vertreiben und irgendwie warm zu halten.
Menschen, welche großgewachsene Hunde, mit Beißkorb und kurzer Leine, aus ihren kleinen Wohnungen heraus, durch die Massen von Fußgängern, für einen Ausgang über die Gehsteige zerrten. Nur, um dann in abgezäunte, graslose und trostlose Vierbeinerzonen zu gehen. Für Aaron Tierquälerei. Sein Ausweg: Hundesteuer in urbanen Räumen drastisch anheben. Gruppen von kopftuchtragenden Musliminnen, die mehrere Kinderwägen vor sich herschoben. Für Aaron der Untergang der freien Welt. „Wo waren die Männer?“, fragte er sich. In seinen Augen eine Unterdrückung der Frauen, keine Gleichberechtigung und bei gleichbleibend hoher Fertilitätsrate des Migrationsmilieus, eine Ausdehnung von bildungsfernen Schichten und Kriminalität. Sein Ausweg: Gesteigerte Zuwanderung aus aufgeklärten und christlichen Ländern. Jogger, die versuchten im Slalomlauf, den zuvor genannten Mitpassanten auszuweichen, um neben einer dreispurigen Straße, im Smoggewirr der Millionenmetropole, ihrem Sport nachzugehen. Aus Aarons Sicht Verrückte, die sich der naturfremden Umgebung des Betonlabyrinths Großstadt blind ergeben haben. Stadtneurotiker. Leute, die die Bindung zur ursprünglichen Koexistenz zwischen Mensch und Natur vollkommen verloren hatten. Aaron hatte hierzu keinen Ausweg parat.
Er hatte die Hauptstadt einfach nur noch satt. Die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die nervigen Mitmenschen, die unter, über und neben ihm wohnten und die hohe Kriminalität, an der er jetzt auch partizipieren musste. Gequält versuchte er es zwar, aber weiter konnte er seine Haube nicht hinunterziehen und so bleiben seine Augen weiterhin unbedeckt, um die, für ihn so schlimme Fahrt, mit allen Sinnen spüren zu müssen. Am liebsten wollte er nun über alles Gesehene seine Meinung abgeben. Aber er konnte nicht. Wie eingegipst in einem starren Korsett, auf einem Folterstuhl, bedingt durch die offenen Fenster vom Fahrtwind frierend, mit den Armen fest seinen blau-weiß-karierten Rucksack umarmend und im stinkenden Umfeld aus Zigaretten- und Abgasgestank sitzend, starrte er unaufhaltsam, wie hypnotisiert, auf das ihm dargebotene großstädtische Schauspiel. Menschen auf Smartphones glotzend, die sich dabei, in eine parallele Digitalwelt abdriftend, gegenseitig über den Haufen rannten. Frauen, die stolz Einkaufstüten von teuren Modelabels durch Einkaufspassagen trugen, ohne sich erkundigt zu haben, wieviel Flüsse in Südostasien dafür vergiftet wurden. Und Jugendliche, die an einem Arbeits- und Schultag, bereits kurz nach Mittag, mit Trainingsanzug adjustiert, von jeglichem Zwang auf Erwerbstätigkeit oder Bildung befreit, durch die Straßen schlenderten und dabei ihren hellen Spaß hatten. Tierquäler, Umweltsünder, unser lokales Wirtschaftssystem Ruinierende, Konsumverrückte, nur auf Oberflächlichkeiten bedachte, nichts zur Gesellschaft Beitragende. „Und ich muss mit all dieser Dummheit in einem Boot sitzen und kann nicht von Bord. Irgendwann explodiert dieser Planet und ich muss mitendrinnen sitzen“, multiplizierte sich die Negativität in Aarons Kopf und drohte seine Denkummantelung zu sprengen.
Dem ungewollten Beifahrer wurde schlecht. Die traumatisierende Aufregung des Tages, der Gestank, das erneute Beziehungsende mit seiner Freundin. Es räkelte ihn. Kein Frühstück und ein gut gelehrter Darm, brachte er bis hierher mit. Nur Magensäuren, vermischt mit einigen unverdauten Nahrungskrümeln, quollen aus ihm heraus, indes er sich, bei weiterhin gemächlicher Fahrt, aus dem Beifahrerfenster des himmelblauen Citroens lehnte und übergab. Seinen Körper durchzog ein nicht enden wollenden kalter Schauer, unter der heruntergezogenen Haube standen Schweißperlen auf seiner Stirn und als wollte sein Sehorgan seinen gesellschaftskritischen Geist schützen, wurde ihm schwarz vor Augen.
„Sind Sie völlig übergeschnappt?“, donnerte Ulman dem würgenden Beifahrer eine verbale Schelte an den schwindeligen Kopf.
Beim Autofahren konnte sich der großstädtische Kommissar immerwährend entspannen, aber nun musste er feststellen, dass die Außenseite seiner himmelblauen Beifahrertüre mit Erbrochenem besudelt war und dass der, wenn auch gemächliche Fahrtwind, die ekelhafte Flüssigkeit auch noch längsseitig am altehrwürdigen Fahrtzeug verschmierte.
Ungewohnt aber doch, trat der vollkommen ausrastende und schreiende Ulman das Gaspedal nun voll durch und bewältigte die letzten drei Häuserblocks bis zum Hauptgebäude der Metropolpolizei Distrikte Süd-Ost in Rekordzeit.
Aaron bekam von der kurzen Raserei nichts mehr mit. Sein Körper rebellierte und er schnaufte verzweifelt nach Luft. Als der Wagen auf dem Parkplatz des sechsstöckigen Gebäudes parkte, fuhr durch den kollabierenden Zeugen wieder ein kalter, betäubender Schauer. Am Ende des Tunnels, in den er nun wieder eintauchte, war kein Licht, sondern nur Dunkelheit und diese legte sich nun über seine Augen. Nichts mehr bekam er noch mit. Nicht das Geschrei des, aus dem Auto springenden und die seitliche Verunreinigung seines französischen Oldtimers betrachtenden Kommissars und auch nicht den einsetzenden Regen, der das kahle, farb- und trostlose Ambiente der Großstadt in die vierte Dimension beförderte.