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Kapitel 1 Morgendliche Routine

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©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2021

www.herasverlag.de

Layout Buchdeckel Rainer Schulz

Unter Verwendung eines Fotos von Stefan.lefnaer

ISBN 978-3-95914-228-1


Nur fünfzehn Minuten nach dem Sirenengeheul des Weckers, welches seine Tiefschlafphase in ein Delirium namens Halbdämmerung umwandelte und ihn, durch seinen schrillen Ton bedingt, zu sofortigem Aufschwung aus seinem wohlig warmen Bett zwang, verließ Aaron Röttgers schon seine sechzig Quadratmeter-Wohnung Richtung Arbeit. Frühstück war für ihn temporärer Luxus, welchen er sich in aller Herrgottsfrüh niemals leisten wollte. Als er das Sirenengeheul mit einem Flachhandschlag auf den, am anderen Ende des Schlafzimmers, auf einer Kommode befindlichen, Wecker beendet hatte, stand er nun da. Halbnackt, wie nach einer Wiedergeburt, frierend, sich mit seinen eigenen Armen umschlingend und fragend, was ihn davon abbringen könnte wieder in seine wohlig warme Schlafburg zurückzukehren?

Einen kurzen Moment innehaltend und sich an die winterlichen Frühtemperaturen langsam gewöhnend, starrte er ins finstere Nichts seines verdunkelten Schlafzimmers.

„Ankleiden, Zähne putzen, Fahrt ins Büro, Arbeiten, Fahrt nach Hause. Und wenn ich wieder zurück bin, gehe ich sofort wieder ins Bett“, war sich Aaron sicher.

Mit diesem Plan, geschmiedet in Halbschlaftrance und fest mit sich selbst paktiert, schleppte er sich nun zitternd zum Kleiderständer um seine, am Vortag zurecht gelegte, Garderobe anzulegen. Schlichte Jeans, ein T-Shirt und ein zweckerfüllender hellgrauer Hoodie sollten ihm die nötige Wärme für den Tag geben. Zumindest, um im fröstelnden Großstadtdschungel, von einem zum anderen öffentlichen Verkehrsmittel wechselnd, nicht zu erfrieren.

Seine Freundin schien den Aufstehprozess besser gemeistert zu haben. Ihre Betthälfte war sorgfältig zurückgelassen worden. Sowohl die Decke war zusammengelegt, als auch der Polster fein säuberlich aufgeschlagen, als ob nie jemand darin genächtigt hätte. Nach dem abermaligen heftigen Streit am Vortag war es nicht verwunderlich, dass sie wieder einmal frühmorgens das Weite suchte, um ihren schlaftrunkenen, morgenmuffeligen Lebensgefährten nicht schon bei Tagesanbruch über den Weg laufen zu müssen.

War die On-Off-Beziehung nun für immer beendet oder gab es, wie so oft, nach einer mehrwöchigen Auszeit, in der sie, wie immer, vom Boden verschluckt schien, ein abermaliges Liebes-Comeback? Aaron war dieser Frage schon überdrüssig und während dieses, sich täglich wiederholenden, grässlichen Aufstehprozederes verschwendete er auch keinerlei weitere Gedanken daran.

Pedantisch, auf Sauberkeit achtend und in einem Hamsterrad des Putzfimmels gefangen, begrüßten ihn seine heimischen vier Wände mit einem starken chemischen Reinigungsmittelgeruch mit desinfizierender Duftnote, als ob er eine Zahnarztpraxis beherbergte. Mit seinen nur halb geöffneten Augen taumelte Aaron durch die unbeleuchteten Räume seiner Wohnung in das Badezimmer. Auch dort verzichtete er, zugunsten seiner an die Dunkelheit gewöhnten Augen, auf die Betätigung des Lichtschalters. Zwei Hände voll kaltem Wasser zur Reinigung des Gesichts und eine vibrierende Zahnbürste in seinem Mund, entfernten auch den letzten Rest melancholischer Rückkehrgedanken in seine behagte Schlafstätte aus seinem Kopf.

In der Pension, so schwor sich der Morgenmuffel jeden Morgen, werde er keinen Tag vor sieben Uhr aufstehen und erst dann seine Füße aus seinem Bett heben, wenn er wirklich ausgeschlafen ist. Bis dahin hatte er aber noch gut dreißig mühsame Jahre mit fröstelndem Aufstehen im Winter und viel zu heißen, schlaflosen Großstadt-Nächten im Sommer vor sich. Bis dahin war es ein täglicher moralischer Kampf und heute hatte er wieder einmal gegen seinen inneren Schweinehund gewonnen.

Ein Blick auf die, im Dunkeln leuchtende Vorzimmer-Wanduhr, bestätigte ihn in seinem morgendlichen Zeitmanagement. Gut zwanzig Minuten konnte er immer länger schlafen, wenn er auf das Frühstück verzichtete. Zwar war auch zu Aaron durchgedrungen, dass es sich um die wichtigste Mahlzeit des Tages handelte, doch von seinem täglichen Rendezvous mit seinem Bett, konnte er keine Minute entbehren. Die Wohnung in aller Früh zu heizen wiederstrebte, aus Umweltschutzgründen, sowohl ihm, als auch seiner Freundin, war doch danach den ganzen Tag niemand zuhause, der die Wärme nützen hätte können.

Nun hatte ihn die Welt aber wieder bei Bewusstsein. Wieder ein Tag voll Mühen und Ärgernissen über das Menschentum außerhalb seiner Festung der angestrebten Einsamkeit.

Mit festen hellbeigen Winterschuhen, einer dunkelblauen Daunenjacke und einer weißen Haube ausstaffiert, nahm Aaron nochmals einen tiefen Atemzug durch die Nase, um der nicht weichen wollenden Schlaftrance endlich zu entfliehen.

Als er die Eingangstüre seiner Wohnung öffnete, fuhr ein frostiger Wind in sein Gesicht, welcher sich seinen Weg von Stockwerk zu Stockwerk durch das gesamte Stiegenhaus des Wohnblocks bahnte.

„Danke für den Empfang du scheußliche Welt. Schönen Donnerstagmorgen“, murmelte der passionierte Nörgler vor sich her, während er sich bückte um die Morgenzeitung von seinem Fußabstreifer zu heben und seinen, am Vortag vorgepackten blau-weiß karierten Rucksack, über die Schultern zu werfen.

Entgegen allgemeiner Fabrikation hatte diese Wohnung keine Türmatte mit dem Wortlaut ´Willkommen!´, sondern wies den Schriftzug ´Home sweet Home´ aus.

Trotz des frostigen Starts in den Tag machte er sich nun flotten Schrittes auf, die drei Stockwerke Richtung Erdgeschoss, so schnell als möglich, zu bewältigen. Zehn Stiegen hinunter, vier Schritte rechts, zehn Stiegen hinunter. Schon war Stockwerk zwei erreicht und dort wartete auch gleich die erste unangenehme Überraschung des frühen Tages. Die untere Nachbarin war ebenfalls gerade dabei ihre Morgenzeitung aufzusammeln und in diese, ihre schon seit Stunden vorgeheizte Wohnung, an ihren reich, mit Discount-Lebensmitteln gedeckten Frühstückstisch zu bringen.

„Die dümmsten Menschen lesen keine Zeitung und die weniger Dümmeren wohl nur reißerische Idiotenblätter“, ärgerte sich Aaron, als er der Nachbarin näherkam.

„Guten Morgen, ich wünsche einen schönen Tag“, grinste er gekünstelt über das gesamte Gesicht und versuchte der, sich mit dem Revolverblatt in der Hand wieder aufrichtenden, übergewichtigen, lump bekleideten und mit ungewaschenen, fettigen Haaren bedachten Frau so lange als möglich in die Augen zu schauen.

Außer einem kurzen nach oben Ziehen der Mundwinkel und einem spärlichen Nicken, erhielt er für seine zwischenmenschliche Überwindung keine Resonanz und so setzte er seinen Abwärtsgang in unvermindert hohem Tempo, fort. In Stockwerk eins angekommen, biss er sich in den linken Zeigefinger und ärgerte sich, dass dieser Tag für ihn noch mindestens neun Stunden außerhalb seiner Wohnung bereithielt.

„Genauso eine“, ärgerte sich der selbsternannte Menschenfeind, während der Schmerz in seinem Finger unerträglich wurde. Die Pein erinnerte ihn daran, dass aus seiner Sicht, solche Menschen der Grund waren, warum die Welt aus den Fugen brach. Früher hatten auch solche ungebildeten, Populisten-Wähler, Plastikverschwender und paternalistischen Gesellschaftsdenker eine Arbeit. Nun mussten Leute, wie er, die etwas gelernt hatten, auch für die Unwilligen arbeiten gehen. Denn er war ein selbsternannt Gebildeter, ein gesellschaftlicher Philosoph, ein Erhabener über den kleinkarierten Kollektivismus seiner Umgebung. Andere sahen in ihm schlicht einen zweckpessimistischen Impertinenten.

Zu seinem Glück blieben die restlichen Nachbarstüren auf Stiege vier versperrt. Stiege vier beherbergte insgesamt zwanzig Wohnungen, aufgeteilt auf fünf Stockwerke und außer seiner unteren Nachbarin, die er noch nie ohne Jogginganzug gesehen hatte und welche sich ausschließlich via Aufzug vom Erdgeschoss in den zweiten Stock fortbewegte, hatte er niemanden aus seinem engeren Wohnumfeld je wirklich getroffen. Für den menschenfeindlichen Morgenmuffel aus Stockwerk drei keinerlei Negativum.

Nun konnte er genau das Gefühl auskosten, was ihm vor gut acht Jahren vom Land in die Großstadt zog, nämlich die Unbeschwertheit der absoluten Anonymität, zwischen Arbeitsplatz und Wohnung. Ein Betonlabyrinth, ein einsames Paradies voller zwei Millionen Menschen, welche ihn nicht kannten und welche er nicht kennenlernen wollte. Zögernd stieß er die Eingangstüre des quarzgrauen Wohnblocks auf und sowie sie einen Spalt geöffnet war, bohrte sich ein Schwall von Autolärm, dröhnendes Hupen, das Bimmeln der Straßenbahnen sowie ein rauschender Strom von Menschenmassen, die sich von links nach rechts und von rechts nach links, den Weg über die pseudonymen Straßen der Hauptstadt bahnten, entgegen.

Was für einen Landmenschen das liebliche, niemals abklingende und erdende Rauschen eines Baches oder Flusses war, war für den Großstädter der seit jeher bestehende und niemals zu versiegende Straßenverkehrslärm. Genau an so einem kalten und feuchten Februarmorgen war es für Aaron wichtig den nächsten Bus um sieben Uhr fünfzehn zu erhaschen, um einerseits der eisigen Witterung nur so kurz als möglich ausgesetzt zu sein und andererseits nicht zu spät in die Arbeit zu kommen. Das Aufbegehren der Kollegen, die ermahnenden Worte seines Chefs, all das lag ihm schon in den Ohren, als er, trotz Laufschritts, den Bus nur abfahrend von hinten betrachten konnte.

Nun musste er, wie fast an jedem Morgen, fünf Minuten Wartezeit überbrücken, welche noch reichlich Zuwachs bekommen sollten, da er mit dem Verpassen des Busses in weiterer Folge auch die U-Bahn und dann den zweiten Umstieg auf die Straßenbahn nicht rechtzeitig erreichen würde. Traditionell fing der Langschläfer an, die Zeitung von hinten zu lesen. Den Sportteil zuerst. Zumindest konnte er sich als Letztangekommener, aber in weiterer Folge Erstwartender, einen der spärlichen Sitzplätze an der Haltestelle sichern. Vertieft in seine morgendliche Lektüre fingen seine Beine wieder an zu schlottern und die temporäre Aufwärmung, vom halbnackten in den angezogenen Zustand, verpuffte im minderen Windschutz der immerhin überdachten Bushaltestelle. Als auch noch leichter Nieselregen einsetzte und die kleinen Tropfen durch die Spalten der eher künstlerisch anmutenden, als ernsthaft schützenden, seitlichen Glasverbauungselemente, immer heftiger werdende eiskalte Böen gepeitscht wurden, ließ er seinen Blick durch die morgendliche Dunkelheit zu seinem gut fünfzig Meter entfernten Balkon schweifen. Nochmals bekräftigte er seinen, mit sich geschlossenen Pakt, gleich nach dem Heimkommen und einer warmen Dusche, wieder in sein wohlig warmes Bett zu verschwinden.

Sukzessive füllte sich das Bushaltestellenhäuschen und aus dem geruhsamen Sitzplatz wurde für den einzelgängerischen Aaron ein unangenehmes Eckplatzgefängnis, welches ihn, durch leicht klaustrophobische Schübe bedingt, dazu veranlasste aufzuspringen und die Menschentraube in Richtung peitschendem Nieselregen zu verlassen. Vielleicht auch begründet durch sein Aufwachsen als Einzelkind vom Land, hasste er Menschenansammlungen und fühlte sich schnell unfrei, wenn ihm jemand zu nahe kam. Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln waren da zumindest der Kompromiss, nicht mit einem Fremden Gesicht an Gesicht stehen zu müssen. Dazu hatte er sich ein eigenes System zurechtgelegt, um immer als erster in Bus, U- oder Straßenbahnen einsteigen und sich einen Sitzplatz zu ergattern.

Über Wochen und Monate hatte der Bakterien-Phobiker genau beobachtet, wo jedes Verkehrsmittel, in welcher Station, genau haltmachte. Anhand seiner Empirie wusste er nun genau, dass der hintere Einstieg dieses Busses, in dieser Station, immer sieben Schritte von einem bestimmten Verkehrsschild entfernt war. Während sich seine Mitreisenden nun aus der, nur teilweise schützenden Haltestelle, Richtung einfahrendem Bus bewegten, hatte Aaron schon seine sieben Schritte absolviert und wartete, bis sich die hintere Türe des Personentransportwagens vor seiner Nase öffnete. Gesagt getan, stieg er ein und sicherte sich seinen Fenstersitzplatz, weit abseits der drängenden Menge in der Mitte des öffentlichen Verkehrsmittels. Gleiches Spiel zwei Stationen weiter und genau zehn Schritten von einem Müllkübel aus, gegen die Fahrtrichtung, auf dem U-Bahnsteig. Mit seiner Morgenzeitung in der Hand trat er als Erster die Sitzplatzmusterung an und versuchte sich zugleich mit dieser abzulenken, als sich ein Grummeln in seinem Magen einstellte.

„Morgenwäsche, Morgenzeitung, aber keine Morgentoilette“, ärgerte sich der notorische Spätaufsteher, als das Gluckern in leichte Bauchkrämpfe überging. Das Natürlichste, aber gesellschaftlich gesehen, verruchteste Geschäft des Tages rief, nein schrie unüberbrückbar nach seiner Erledigung.

Die wöchentlichen Versuche seiner Freundin seine Ernährungsgewohnheiten zu ändern, schmetterte er immer wieder unverhohlen mit dem Argument, dass er einen unverwüstlichen Magen sein Eigen nannte, ab. Selbst als sie ihm zu einer Lebensmittelunverträglichkeitsprüfung überreden konnte und die Ergebnisse klar aufzeigten, dass Käse und rotes Fleisch, zumindest für eine Zeit lang, von seinem Speiseplan zu verdammen wären, hielt er sich nicht daran.

„Was bleibt mir sonst noch im Leben außer genüsslich Schlemmen?“, warf er der besorgten Partnerin stets entgegen. Obwohl der selbsternannte Gourmand mittlerweile einen beträchtlichen Bauchumfang aufwies, welcher aber noch im Rahmen der allgegenwärtigen mittelständischen Wohlstandsleibung war, wollte er partout nichts an seinen abendlichen Fast-Food-Ausschweifungen und Heurigenplatten-Auftischereien ändern. Nein, es war vielmehr eine Belohnung für ihn. Die Beute eines anstrengenden Tages mit nach Hause zu bringen und in den eigenen vier Wänden zu verzehren. Seiner schlechten Ernährung bewusst, geizte er, in der einen oder anderen alkoholgetränkten Zechrunde, auch nicht mit Kritik an jenem Gesundheitssystem, das ihn genauso besteuerte, wie gesunde Topsportler.

„Warum muss der Ungesunde nicht mehr zahlen? Ich würde es sofort!“, behauptete der beschwörende Systemkritiker des Öfteren, mit einer seltenen Zigarette im Mundwinkel und einem Bier an den Lippen.

Nachdem weder das Wohlstandsbäuchlein, noch die immer tiefer ins kurze Haupthaar ragenden Geheimratsecken seine Freundin störten, änderte der fettige Feinschmecker auch an seiner Lebensweise nichts.

Wieder fünf Stationen mit der U-Bahn geschafft. Raus aus dem Waggon, die Rolltreppe auf der linken Seite nutzend, um die Rechtsstehenden zu überholen, eilte er, mit seinem schlingernden, blau-weißen Rucksack geschultert, zur Straßenbahnplattform herab. Die körperliche Anstrengung multiplizierte das unangenehme Gefühl des aufstauenden Druckes nur noch. Der Hetzende musste einsehen, dass man dem Stuhlgang nicht davonlaufen konnte. Sein schlimmster Feind, war ihm bekanntlich am nächsten. Ein infiltrierter Quälgeist. Ein individuell-epidemisches Darm-Damoklesschwert, das über seinem schütteren Haar hing.

Nun war auch der Sitzplatz in der einfahrenden Straßenbahn nicht mehr das Wichtigste auf der Welt. Schnaufend stürmte er zur einfahrenden Tram und quetschte sich, entgegen dem aussteigenden Fahrgaststrom, in den ersten Waggon, den er von den Rolltreppen aus, erreichte. Zumindest hatte er Glück und das Verpassen des Busses, gut zwanzig Minuten zuvor, hatte, wenigstens an diesem Tag, keine weitere Wartezeit als Konsequenz. Die tiefsitzenden Ärgernisse über die Menschenmassen, das feuchtkalte Wetter, der Gestank der Großstadt nach Abgasen, die im Sommer unerträglich wurden, all das rückte in den Hintergrund, wenn er seine einfachsten menschlichen Bedürfnisse nicht befriedigen konnte.

Fest der Einstellung, dass ihm das Schicksal stets das ein oder andere Fünkchen Glück zuwarf und ihm in der nächsten Sequenz seines verbitterten Lebens wieder nahm, musste er schnell feststellen, dass kein Sitzplatz mehr frei war. Nur im ganz hinteren Waggon, wo er üblicherweise einstieg, freute sich nun ein hinkender Fahrgast, seine geschundenen Beine zu entlasten. Indessen er den Innenraum der Straßenbahn musterte, um nicht vielleicht doch noch sitzend an sein Ziel zu gelangen, drängten immer mehr Fahrgäste in den unglückseligen mittleren Waggon, indem an jeder Haltestelle schier die ganze Welt ein- und aus stieg. Gewiss war sein Schicksal besiegelt. Sein Standplatz für die nächsten vier Stationen war eingequetscht zwischen einer von Kondensat triefende Scheibe, linkerhand einem Rudel Jugendlicher, welche sich lautstark unterhielten, um die aus ihren Smartphones erschallende Musik zu übertönen und rechterhand von zwei Männern in dreckigen violetten Overalls, jeweils mit einem qualitätsfremden Bier in der Hand bewaffnet. Zwischen ihm und der Doppelschwenktüre in die Freiheit waren weitere zwanzig Menschen, dicht an dicht gedrängt.

Wieder einmal musste er einen Kampf mit seinem Magen, bei unpassendster Gelegenheit ausfechten, wieder einmal musste er, schwitzend und bedrängt, seinem Arbeitsplatz entgegenfahren, wo er, endlich Heilung erfahren sollte. Wenigstens lenkten ihn die Gespräche der jugendlichen Musik-Übertüncher so ab, dass er seine pressenden Unterleibsschmerzen für zwei Stationen vergaß. Dem Darmdruck wich reine Aggressivität, denn der, ohne ausreichende Verwendung von Adverbien und mit nur mäßigem Gebrauch von Artikeln behafteten, jugendlichen Konversation lauschend, fühlte er sich wie ein Giftstachel in seinem unnachsichtigen Mantra an.

Vernunft und reflektierendes Verhalten. Das predigte Aaron immer wieder. Trage ich mit meinem Verhalten etwas zu einer besseren Allgemeinheit bei oder nicht? Schränke ich andere mit meinem Verhalten in ihrem persönlichen Freiraum und Wohlbefinden ein oder nicht? „Alles ärgerliche Menschen!“, monierte der eigenbrötlerische Freizeitphilosoph leise, wieder in seinem Verdauungsschmerz zurückkehrend.

Aus dem Stehgreif hätte Aaron mindestens dreißig Punkte aufzählen können, die er an den Jugendlichen als abstoßend und verwerflich empfand. Alleine das Tragen von Jogginghose im öffentlichen Raum und die Undercut-Frisuren reichten für ein vernichtendes Urteil. Empathie, Ignoranz, Verunglimpfung der eigenen Muttersprache. Nichts würden diese Halbstarken zu einer dynamischen Zivilgesellschaft beitragen. Nicht einmal mit dem Begriff etwas anfangen. Arbeitslosigkeit, Schmarotzertum und Kriminalität. Schnell hätte Aaron sich seine Welt wieder zusammengedichtet. Aber dafür war jetzt keine Zeit.

Zu seinem Glück hatte er schon zwei Stationen geschafft und die eingezwängte Menschenansammlung lichtete sich im stets hochfrequentierten mittleren Waggon.

Doch wie das Schicksal, aus der egozentrischen Egomanen-Sicht, oft mit ihm spielte, stand er nun vor seinem nächsten Problem. Die gewonnene Bewegungsfreiheit brachte mit sich, dass er sich unweigerlich an einer der Stangen und Bügel im Straßenbahninneren anhalten musste.

Der kleinst-anzunehmende Vorteil von dicht an dicht gequetschten Mitreisenden war ausgestiegen. Für jemanden, der sich, gut zwanzig Mal am Tag, die Hände wusch und nach jedem Handschlag hastig zu einem Desinfektionsspray griff, waren gleichgewichtsaustarierende Halterungen in öffentlichen Verkehrsmitteln so schrecklich, wie ein Griff in eine Bahnhof-Toilette, welche der Reinheitsfanatiker nicht in tausenden Jahren benützen würde.

Da der unablässige Druck eines Amboss in seinem Enddarm immer schlimmer wurde und er nicht auch noch auf dem durchnässten Boden der Tram landen wollte, griff er in seine Jackentasche und holte ein Taschentuch hervor. Behutsam legte er es in seine Handfläche und überwand sich zum ersten Mal einen Haltebügel, oberhalb seiner rechten Schulter, zu umgreifen. So stand der bakterielle Saubermann nun im dampfenden, nur noch halb überfüllten, mittleren Waggon der Straßenbahn, Konversationen aus jugendlichem Ghetto-Slang lauschend, außerhalb ein dunkler und nasskalter Februarmorgen und rings um ihn über zwei Millionen Menschen, die ihn nicht kannten und die er nicht kennenlernen wollte.

„Zum Glück haben die zwei ein Frühstück“, scherzte Aaron selbstironisch und versuchte sich abermals von seinen Unterbauchqualen abzulenken, als ihm hie und da eine Hopfenpriese des scheußlichen neunundzwanzig Cent Morgen-Bieres, der Overall-tragenden Handwerker, in die Nase stieg.

Aaron sah sich als Macher, der die Welt änderte und sich nicht der Welt anpasste. Zumindest hatte er es bis hierher versucht. Schnell war seine Einschätzung der beiden Männer vollzogen. Ungebildet, Alkoholiker, weil zu schwach um etwas an ihren bedeutungslosen Leben zu ändern, zu mutlos für Veränderungen, andere sind an ihrem Unglück Schuld, allen voran jeder Politiker dieses Planeten. Noch nie hatte er sich so sehr einen Sitzplatz gewünscht.

Endlich öffneten sich die Doppeltüren der Straßenbahn und der Gemarterte stolperte in die nasskalte Freiheit. Nun, dem Ziel des Toilettengangs so nahe, meldete sich sein murrender Feind umso mehr. Die Aufstauung kaum noch haltend und das Versagen über seine Schließmuskeln kommen spürend, konnte er weder die erfrischende Morgenluft im Vergleich zur stickigen Subatmosphäre der Tram genießen, noch den abklingenden Nieselregen wahrnehmen, der wie eine zweite Taufe seine Qualen der fünfunddreißig minütigen Fahrt von ihm abwusch.

Auf Zehenspitzen humpelnd und seine Pobacken zusammengekniffen, schleppte er sich, wie am rechten Oberschenkel angeschossen, den täglichen Weg zwischen Haltestation und seiner Arbeitsstätte entlang. Es war immer die gleiche Häuserblocklänge, aber heute kam es dem vollgestopften Fast-Food-Liebhaber vor, als ob er in seinem prekären Zustand einen Marathon hinkte.

Doch noch hatte er den Kampf gegen seinen, ihm am nächstgelegenen Feind, nicht verloren. Trotz lediglich drei Grad Plus perlte der Schweiß von seiner hohen Stirn und nur mit Mühe und Not konnte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche ziehen, um das Schloss der altehrwürdigen Massivholz-Eingangstüre des Gründerzeitgebäudes zu öffnen. In einer stockwerkweisen Schichtung von Luxuswohnungen kämpfte sich Aaron mittels Lift in den vierten Stock, wo sein Arbeitsplatz inmitten von Immobilien lag, welche er sich niemals hätte leisten können und dessen Bewohnermehrzahl das einfache Geld mit der Vermietung von überteuertem Wohnraum an Mittelschichtszugehörige wie ihn machten, vor. Nicht einmal zum Eintreiben von Mietrückständen würden sie sich in sein Viertel verirren. Aber bis auf einen älteren Herrn, den er gelegentlich, mit Golftasche geschultert, im Vestibül begegnete, musste er noch keine Bekanntschaft mit einem Ansässigen machen. Fürwahr hätte er in dieser Situation kein „Gutes Spiel“, für den alten Mann übrig gehabt. Zu dringlich bahnte sich eine unfreiwillige Entleerung seines Hintereinganges an.

Den Schlüsselbund noch in Händen haltend, humpelte er verkrampft wie man in solch einer Lage nur sein kann, zur Eingangstüre seiner Arbeitsstätte. Zu Aarons Glück war diese einen Spalt geöffnet, was ihm kostbare Zeit einbrachte. Trotz dieser glücklichen Fügung blieb ihm keine Sekunde mehr, bis sein Leiden weigerlich oder unweigerlich ein Ende finden sollte. Nur vier Schritte in den Büroflur getan, riss er die Toilettentür rechts neben sich auf und verschwand aus diesem auch wieder so schnell, wie er eingetreten war. Hastig schlang er seinen Gürtel auf, streifte sich die Jeans vom Gesäß und bevor seine Hinterbacken noch die Toilettenschüssel berührten schoss es, ohne Beigabe von aktivem Druck, aus ihm heraus.

Ein Mal, zwei Mal, drei Mal.

Für einen Moment des absoluten Glücks und Wohlbefindens vergaß er all das Schlechte, was er für gewöhnlich in der Welt sah. Da war es auch nebensächlich, dass die Klobrille noch oben war. Unvorstellbar für einen notorischen Klopapierausleger. Stück für Stück kränzte er normalerweise das gerollte Reinigungsutensil über den Sitzbereich. Nun saß er mitten in der Kloake. Der scheißende Putzfanatiker spürte, wie die Bakterien seine hinteren Oberschenkel anfraßen. Aber was sollte er machen? Zu schön war die köstliche Befreiung. Erstmals auf dem stillen Örtchen eingerichtet, legte er nun auch Jacke sowie Rucksack ab und kramte aus letzterem seine Morgenzeitung heraus.

Für die nächsten paar Minuten sollte nur ein bisschen Ruhe einkehren.

Stadtflucht

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