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Kapitel 7 Muttersöhnchen

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Bereits zum dritten Mal musste Aaron den Beginn seiner Geschichte nun schon wiederholen und kein Detail änderte sich gegenüber der vorangegangenen Beschreibung. Zum Glück aller drei Beteiligten füllte den grindigen kleinen Raum lediglich die wiedergebende Monotonie der geschilderten Ereignisse, denn die Zugabe eines stinkende Schwalls an Mundgeruch war, ob der stets verschlossenen Lippen Ulmans, nicht möglich.

Zwar war er mit einer künstlichen Wolke aus Deo eingesprüht, aber mit Fortdauer des Gesprächs, setzte sich doch sein körpereigener Mief aus Schweiß, Zigaretten und ungewaschenen Haaren, die zur Kaschierung mit Pomade und Wachs zu einem Zopf gebändigt waren, durch.

Nun musste er zur vierten Schilderung ausholen und seine Mär eines knapp vor dem mentalen Zusammenbruch stehenden, besorgten und mitfühlenden Zeugen und Arbeitskollegen bröckelte kein Sandkorn weit.

„Ich betrat das Büro gegen acht Uhr und bin dann gleich auf die Toilette abgebogen. Als ich mich erleichterte klingelte jemand an der Tür. Das wunderte mich, weil ich diese offen vorgefunden hatte und auch offen ließ. Dann hörte ich meinen Arbeitskollegen Christoph Unterkofler wie er sie öffnete und noch sagte `was ist mit dir, bist du verrückt geworden`. Ich saß gerade auf der Toilette und las die Morgenzeitung, als ein lauter Krach, es muss ein Schuss gewesen sein, fiel.“

„Sie waren also der, der das Klo verschissen hat?“, gab sich Ulman, aus seiner Passivrolle, amüsiert und begann allmählich an der Befragung teilzunehmen.

Aaron wusste nicht, wie er auf diesen verbalen Einwurf des bis dato so schweigenden Kommissars reagieren sollte und sah grübelnd auf die abblätternde Wand des Raums, um seine Augen dann in des Ermittlers zu schwenken. Dessen ergötztes, überhebliches Schmunzeln verwandelte sich sofort wieder in einen ernsten hypnotischen Blick. Für den Schauspieler, der sich immer schwerer Tat, seine betrübte physische Verfassung darzustellen und gleichzeitig keine falschen Worte zu verwenden, war die Sachlage klar: ein Spiel aus guter Bulle – böser Bulle. Für gewöhnlich spielte er den selbstbewussten, aufrecht dasitzenden, eloquenten und seine Aussagen mit Händegestik untermauernden Kaufmann. Diese Situation war genau das Gegenteil. Natürlich wusste er aus unzähligen Seminaren und Trainings, wie man überzeugend und brustbreit auftrat, aber nun musste er penibel darauf achten genau das Kontrastverhalten wiederzugeben. Kein friedloses Kratzen an den Handrücken, keine abschweifenden Blicke und schon gar kein überzähliges Zwinkern. Seine Hände lagen in seinem Schoß, eingerollt und unterwürfig gab er seine Worte zu Protokoll. Im Prinzip gab er ja die Wahrheit zu Protokoll, aber lieber auch mit richtiger Körpeersprache untermauert. Lieber betrachtete er daher die verständnisvolle Erscheinung Raschs, die ihn mehr als Opfer, denn als Angeklagter betrachtete.

Ulman versuchte ihn nur aus der Reserve zu locken, das war ihm klar. Auf keinerlei Provokation durfte er sich einlassen. Er, der betrübte, geschockte und traumatisierte Kronzeuge, der nichts am Klo gesehen hatte und am besten zu Hause aufgehoben wäre.

„Ich versuchte so leise wie möglich zu sein. Nach dem Schuss war eine kurze Zeit der Stille. Der Holzboden knarrte. Ich hatte Angst der Mörder lauscht, weil er mich im Klo gehört hatte, die Toilettentüre ist ja gleich neben der Eingangstüre. Ein bisschen weiter den Flur runter. Dann hörte ich aber Schritte die mir verrieten, dass er weiter in Richtung Warteraum und Büroräume ging.“

„Ich komme aus den Bergen. Aus Ihrem Akt sehe ich, dass Sie vom Land kommen. Was hat Sie in die große Stadt geführt?“, wollte Rasch in einer unbedarften Art, um für alle erkennbar das Vertrauen des Zeugen zu gewinnen, wissen.

„Nun, nach dem Tod meiner Mutter, wollte ich nicht mehr den Vorurteilen der Leute ausgesetzt sein. Wie ein Tier im Zoo gafften sie mich an. Egal wo ich war. Es ist schwer in einer Kleinstadt mit zehntausend Einwohnern, wenn jeder über einen spricht. Außerdem hatte mich das Jobangebot meines jetzigen Arbeitgebers angesprochen. Acht Jahre ist das schon her.“

„Wie genau verdient ihr Unternehmen Geld?“, rollte Rasch das ´L´ im letzten Wort über seine Zunge.

„Wir handeln mit Rohstoffen. Also, wenn zum Beispiel eine Dürreperiode oder Missernte in einem Land droht, kaufen wir zuvor so viele Lebensmittel wie möglich dort auf, um dann so viel Profit wie möglich aus den verknappten und teurer gewordenen Getreide, Kaffee oder Soja zu erwirtschaften. Oder Wasser.“

Der Oberkommissar musste das Gehörte erstmals setzen lassen und suchte auf seinem Tablett-PC nach dem Internetauftritt des Unternehmens. Mit einem einladendem Handzeichen bat er Aaron mit seinen Erzählungen fortzufahren.

Dieser merkte sofort, dass seine eiskalte, emotionslose Beschreibung der Geschäftsgebarung seines Arbeitgebers, sein trübsinniges Auftreten nicht gerade beförderte. Schnell ruderte er zurück.

„Schlimm, was die Firma macht. Aber ich muss auch Geld verdienen.“

Druckvoll intensivierte er das schmerzende Pressen seines Daumennagels in die Haut seines Handrückens und versuchte diesen Akt der Selbstgeißelung unter dem kleinen Tisch zu verstecken. Wenig später konnte er eine kleine Träne präsentieren, die seine Wange hinunterlief. Erst als beide Ermittler zu ihm sahen, wischte er sie demonstrativ aus seinem Gesicht. Kein nervöses Zappeln mit den Extremitäten, ein gleichbleibender Lidschlag, Nicht zu viel Augenkontakt, als Zeichen der Selbstsicherheit, nicht zu wenig, als möglichen Beweis für seine Unehrlichkeit. Selbst bei der Schilderung der unverdorbenen Wahrheit, musste er schauspielern. Was ihm allerdings am schwersten fiel, war es seine immerwährende Impertinenz zu verschleiern und zu isolieren.

„Für mich macht der internationale Handel und die Verhandlungen mit Lieferanten und Kunden den Anreiz der Arbeit aus. Ich suche weder die Regionen, noch die Rohstoffe oder Lebensmittel aus. Ich arbeite nur im Innendienst. Das Unternehmen ist nur ein Miniplayer in der Welt. Jeden Tag kommen, arbeiten und wieder gehen. Kein Kundenverkehr, keine Fragen und keine Emotionen.“

Auch für den routinierten Ulman waren das neue Erkenntnisse. Dieses Unternehmen machte es, durch seine Aktivitäten, vielen Menschen leicht es zu kritisiert, wenn nicht sogar zu hassen. Trotzdem interessierte ihn eine andere Frage mehr: „Wer sind die Opfer?“

„Ich weiß es nicht, ich habe von Ihnen schon zwei Mal gesagt, dass ich nicht mehr weiß. Ich habe nichts gesehen. Erst beim Sanitätswagen habe ich erfahren, dass es einen oder mehrere Toten gibt“, schmollte Aaron.

„Nun gut, ich habe genug Fotos“, stellte der alternde Ermittler fest und machte sich daran Tatortfotos der Leichen aus seinem Schnellhefter zu fischen.

Mit einem lauten „Nicht!“, hielt ihm Rasch auf und ergriff Ulmans rechten Arm, um seinen Kollegen an sich heranzuziehen: „Ich habe es Ihnen gesagt. Keine Aggressivität“, flüsterte er ihm in sein schmalzgelbes Ohr.

Ein Oberkommissar, der den, ihm schon bekannten, rüpelhaften und ungepflegten Kommissar in die Schranken wies. Für ihn war klar, an wen er sich in dieser Vernehmung zu halten hatte, um diese Szenerie so schnell als möglich zu verlassen und so wandte er sich wieder voller Freude Jakob Rasch zu, als wäre es ein Pokerspiel mit offenen Karten und einem Royal Flash, auf dem fettfilmverschmierten Tisch, vor ihm liegend.

„Herr Oberkommissar“, wimmerte Aaron bemitleidenswert, „bitte sagen Sie mir endlich was genau passiert ist.“

Der einfühlsame Bergländer nahm des Zeugen Jammertal auf und bat ihn seinerseits auf altruistische Art und Weise: „Bitte sagen Sie uns vorher was sich aus Ihrer Sicht ereignet hat.“

„Mehr kann ich nicht sagen. Als ich hörte, dass der Eindringling nach dem Schuss und der kurzen Lauschphase, oder auch nicht, weiter in die Büroräume ging, reinigte ich mich schnell und kletterte auf den Spülkasten.“

„Was!“, fuhr ihm Ulman mit tiefer, kratziger Stimme wieder in seine Erklärung, „Sie hören einen Schuss außerhalb des Klos und anstatt zu fliehen wischen Sie sich den Hintern aus? Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe! Und ich höre ihre Geschichte nun schon zum vierten Mal. Wer spricht hier eigentlich von Mord? Das hat noch keiner gesagt. Wie kommen Sie darauf?“

„Mäßigen Sie sich Herr Kollege“, wies ihn Rasch wiederum in die Schranken, „warum sind Sie nicht gleich in aller Panik geflohen, Herr Röttgers?“

„Ich weiß es nicht. Das ist wohl meine Art. Keine Ahnung. Als ich den zweiten Schuss hörte, gab ich die Säuberungsaktion ohnehin auf. Ich packte meine Jacke und meinen Rucksack, kletterte eben auf den Spülkasten und warf die beiden Dinge bei dem kleinen Fenster über der Toilette hinaus. Aja, und Mörder sage ich, weil ich im Morddezernat sitze und mit Ihnen spreche, da gehe ich vom Schlimmsten aus“, gab der niedergeschlagene Kronzeuge, schluchzend an. Selbsterziehend ertappte sich Aaron, wie er allmählich aus seiner Rolle fiel. Zu sicher war er sich geworden, den Oberkommissar auf seiner Seite zu wissen und mit gebrochenem Zustand seines Seins schnell der Situation entfliehen zu können. Daher legte er noch eine Schippe drauf und versteckte sein Gesicht in seinen Händen, hinter den noch immer leicht geschwärzten Fingerkuppeln seiner Abdruckabgabe und begann zu lamentieren: „Das ist mir alles zu viel.“

In diesem Moment trat Isabella Krings in den Raum und deutete beiden Ermittlern sie mögen ihr vor die Türe folgen.

„Wir sind gleich wieder da. Sammeln Sie sich einstweilen“, sprach ihm Rasch gut zu.

Der starrblickende Ulman machte keinerlei Anstalten seinen scharfen Blick vom Kronzeugen abzuwenden und folgte seinem Vorgesetzten mit seinen Unterlagen erst aus dem Raum, als dieser ihn herbeiwinkte.

„Meine Herren“, begann Krings die forensischen Ergebnisse der Untersuchung von Ihrem weißen Schreibbrett abzulesen, „die Schnelltests haben nichts ergeben. Weder auf der Haut, noch an der Kleidung des Zeugen sind Schmauchspuren festzustellen. Wir haben seine Fingerabdrücke durch die Datenbank laufen lassen. Es gibt einen Treffer, aber da wurde er vor acht Jahren zum Tod seiner Mutter vernommen. Die Beweissicherung vom Tatort haben wir noch nicht vorliegen, aber, wenn er dort arbeitet werden wohl überall seine Fingerabdrücke zu finden sein. Der DNA-Test dauert seine Zeit. Auch die genaue Untersuchung seiner Kleidung und Wertsachen dauert ebenfalls noch.“

„Utensilien“, hakte der nunmehrige leitende Ermittler Rasch verwundert nach.

„Er hatte einen Rucksack bei sich. Dazu ein Mobiltelefon, Geldbörse und Schlüssel. Seine Ausweiskarten habe ich vom Empfang bekommen.“

„Das ist ja lächerlich“, stellte der witzlose Oberkommissar fest „wie haben Sie den Zeugen hereingebracht Ulman? Musste er nicht durch den Check-In?“

„Ja, Herr Magister. Immer nach Vorschrift“, antwortete dieser hämisch.

„Sind irgendwelche Blutspuren darauf?“, hakte Rasch bei Krings nach.

„Nein. Zwei Kollegen haben im Schnellverfahren Kleidung und Rucksack unter die Lupe genommen. Keinerlei Hochgeschwindigkeitsspritzer. Trotzdem würde ich, zumindest die Kleidung, noch gerne für weitere Tests behalten.“

„Wenn es darauf keine Blutspritzer gibt und das Gepäckröntgen und der Metallscan nichts ergeben haben, dann geben Sie ihm zumindest den Rucksack und die Wertsachen wieder retour“, ordnete der großherzige Bergländer.

Der murrende Ulman war fassungslos: „Was? Der Typ hat doch ordentlich Dreck am Stecken! Die Show glauben Sie ihm? Das ist ja alles unrealistisch.“

„Dieser Mann ist um ein Haar dem Tod entronnen und wenn Sie die Vorschriften kennen würden, dann wüssten Sie, dass wir einen Durchsuchungsbefehl für den Rucksack benötigen, wen wir ihn öffnen wollen. Er ist nicht dringend tatverdächtig. Noch nicht.“

„Da hat er Recht Ulman“, pflichtete Krings bei.

„Kein Richter stellt einen Durchsuchungsbefehl nun aus. Der Mann steht unter Schock, er ist eingeschüchtert und komplett fertig. Wenn die Röntgen- und Metallscanner im Erdgeschoss schon nichts ergeben haben, was sollen wir ihn noch länger quälen. Keine Waffe, keine Hülsen, keine Projektile, kein Blut. Die Kleidung bleibt, den Rest kann er mitnehmen“, stellte der Oberkommissar unmissverständlich klar.

Unter des Mittsechzigers hohem Stirnansatz und seinen mit Fett nach hinten gekämmten, zu einen Zopf gebundenen Haaren, kochte es: „Warten Sie noch das Verhör ab!“, krächzte er und wollte mit der Befragung fortfahren.

„Gut“, willigte Rasch gestresst ein, „Krings, stellen Sie die bis jetzt bekannten Untersuchungsergebnisse in die Cloud, von dort können alle Beteiligten darauf zugreifen. Ich melde mich dann bei Ihnen.“

Cloud? Der alternde Ermittler hoffte, dass man die Ergebnisse von dort auch ausdrucken konnte. Irgendwie würde dies schon möglich sein. Vorrangig quälte ihm mehr, wie es sein konnte, dass der Kronzeuge, der für ihn schon als Täter feststand, keine Schmauchspuren an den Händen und an der Kleidung hatte? Keinerlei Hochgeschwindigkeitsblutspritzer! Genügend solch angebliche Zeugen hatte er schon überführt. Ortskundig, Rechtshänder, Körpergröße, alles passte. Das Motiv konnte man dann schon noch dichten, nachdem der Zeuge gebrochen war und alles gestand. Aber heute machte ihm sein bergländischer Vorgesetzter einen Strich durch die Rechnung. Wären die Morde in einem weniger noblen Viertel passiert, es hätte sich keine Herde von Presseleuten darauf gestürzt, kein Anruf des Bürgermeisters hätte das Morddezernat erreicht und kein stubenhockender Oberkommissar würde ihm jetzt die Tour vorgeben. Würde er jetzt Paroli bieten, wäre der Fall vollends aus seinen Händen gerissen. Er musste, zumindest für den Moment, Kooperationsbereitschaft signalisieren. Welch ein Dilettant dieser Emporkömmling Rasch doch aus seiner Sicht war. Aus den provinziellen Bergen in die kosmopolitische Großstadt gekommen und nun dachte er, er könnte hier jedem vertrauen, wie in seinem heimischen Kuhdorf hoch auf der Weide, schüttelte das dickhäutige Sozialbaukind seinen ungewaschenen Kopf. So begaben sich beide Ermittler wieder in den Verhörraum vier und setzten sich gegenüber dem, noch immer in seinen Händen versunkenen Zeugen, hin. Hoch konzentriert hatte dieser inzwischen daran gearbeitet so rotköpfig als möglich und so verweint als nötig auszusehen.

Der unbeeindruckte Ulman zog wieder seinen hypnotisch-grimmigen Blick auf und der blauäugige Rasch versuchte mit einem einfühlsamen Lächeln zum rotköpfigen Zeugen durchzudringen: „Bitte fahren Sie fort.“

Aaron konnte sich, bei all seiner schauspielerischen Hingabe, keine weitere Träne abringen, also versuchte er es weiter mit einer wimmernden Tonlage:

„Ich warf also meinen Rucksack und meine Jacke aus dem kleinen Fenster über der Toilette, stieg auf die Klomuschel und dann auf den Spülkasten. Dann zwängte ich mich bei dem Fenster hinaus“, wimmerte er die Geschichte ein viertes Mal aus sich heraus.

Das mehr als Guckloch durchgehende Fenster führte zu einen engen Entlüftungsschacht, eines kleinen Miniinnenhofes, mit dem alle Toiletten auf dieser Seite des Zinshauses verbunden waren. Oberhalb des Schachtes konnte man den regnerischen Februarhimmel erblicken, unterhalb sah man eine vermooste Betonplatte, von der aus eine ebenso enge und kleine Türe in den Müllraum führte. Der Befragte schilderte den beiden Ermittlern detailreich, wie er seinen Wohlstandsbauch so lautlos wie möglich aus dem engen Fenster zwängte, welche Angst er hatte den Schacht gut drei Stockwerke tief herunterzurutschen. Ein Fallen war ob der Enge kaum möglich. Trotzdem musste er sich mit Armen und Beinen in den Schacht einklemmen und mittels vermehrter und verminderter Muskelspannung seinen Weg nach unten bahnen. Der auf ihn einprasselnde Regen sowie die rutschige und leicht vermooste Schachtwand machten den Abstieg noch um einiges schwieriger.

Jakob Rasch hörte gespannt zu und lauschte abermals aufmerksam Aarons Ausführungen, welche Ängste er in diesem engen Schacht hatte. Würde der Schussabgebende ihn gehört haben? Wenn ja, musste er mit Schüssen aus dem Toilettenfenster auf ihn rechnen oder noch schlimmer, der Mörder wartete schon auf der begrünten Betonplatte, am Fuße des Schachtes auf ihn und diese anstrengende Tortur wäre dann auch seine letzte gewesen. Nachfragen stellte der Oberkommissar keine und der genervte Ulman saß wie eine versteinerte, grimmig dreinblickende Statue da.

Schneller Atem, ein panisches Schreiverlangen, welches ihm im Hals steckte und er unterdrücken musste und eine vollkommende Desillusionierung seiner Gedanken, waren seine hartnäckigen Begleiter bei dem halsbrecherischen Abgang.

„Als ich unten angekommen war, trat ich voller Panik die kleine verschlossene Holztür zum Müllraum ein. Verstecken konnte ich mich dort nicht, weil alle Müllcontainer auf der Straße standen.“

Komplett unbeeindruckt von Aarons dramatischer Darstellung seiner Flucht löste Ulman kurz seine hypnotisch-eiserne Mimik, um nachzuhaken: „Und warum war die Klobrille oben?“

„Was? Ich weiß es nicht!“

„Und unten angekommen haben Sie dann die Polizei gerufen. Oder? Wenn ja, können Sie gehen!“

Aaron verstummte kurz und wusste nicht, wie er auf diese Adelung und das Angebot reagieren sollte. Dann war ihm aber klar, dass der böse Bulle ihm nun eine faule Karotte vor sein Eselsmaul hängen wollte, eine trügerische Fangfrage eines ausgefuchsten Ermittlers. So blieb er bei der filmischen Version, die in seinem Kopf ablief: „Nein. Ich versteckte mich unter den dicken Steinstiegen und kauerte mich so gut ich konnte in die letzte Ecke.“

„Und dann haben Sie den Mörder das Haus verlassen gesehen?“, freute sich Rasch endlich über immanente Hinweise des einzigen Zeugen.

„Nein. Ich kauerte dort solange in Trance, Panik und unmenschlicher Angst, bis ich die Polizeisirenen auf der Straße hörte. Dann bin ich so schnell wie möglich hinausgelaufen und brach in einen hysterischen Tränengeheul aus, als ich mich hinter dem Polizeiauto versteckte und Ihre Kollegen in das Gebäude liefen“, winselte Aaron bei der Wiedergabe der traumatischen Ereignisse und versuchte immer noch seine Augen in einem rötlichen Tränenmeer darzustellen. Nur es gelang ihm nicht.

„Wer hat einen Schlüssel für das Gebäude?“, fragte Ulman, der immer mehr aus seiner Passivrolle kam.

„Wir. Die im Büro arbeiten. Und unser Chef. Und die anderen Bewohner.“

„Wer arbeitet im Büro. Bitte beschreiben Sie die Personen anhand einer optischen Charakteristik“, bat ihn Rasch anteilnehmend an seiner schlimmen Lage.

Bis hierher war die Befragung noch nicht gekommen.

„Christoph Unterkofler, er ist Großkundenbetreuer und Bürochef. Ein dicklicher Mann. Ende vierzig. Er trägt eine Brille. Hat sehr schütteres Haar.“

Zum Glück fragten die Ermittler den Zeugen nicht nach charakterlichen Eigenschaften seiner Kollegen. Zwar stand Aaron seinem Bürochef in Pessimismus und Misanthropie in nichts nach, doch lebte es dieser noch offenherziger aus. In jeder Mittagspause zückte er die Tageszeitung, nur um die schlechtesten Nachrichten herauszupicken und dem essenden Auditorium lauthals kundzutun. Was man am anderen am Wenigsten mag, mag man an sich am Wenigsten. So lautete ein weises Sprichwort, welches die Beziehung zwischen Aaron und seinem Kollegen bestens beschrieb. Unterkofler wurde nach vierzehn Jahren Ehe von seiner Frau verlassen, nachdem er sich bis über beide Ohren verschuldet hatte, um ein Haus für seine vierköpfige Familie, im Speckgürtel der Großstadt, zu bauen und sich, nach Meinung seiner Frau, während der Bauphase zu stark charakterlich negativ verändert hatte. Ja, er konnte auch nicht hinter dem Berg halten, dass seine Frau die Trennungsaufforderung vom Erzengel Gabriel persönlich erhalten hatte. Keine private Posse war ihm zu peinlich um seine Kollegen damit die Ohren voll zu labern. Zwar regte er sich über die moralische Verwerflichkeit seiner beruflichen Tätigkeit ständig auf, doch er gab der Politik und der liberalen Gesellschaft im Allgemeinen die Schuld dafür, denn man konnte ja von höherer Stelle aus, etwas daran ändern und solche Machenschaften unterbinden. Christoph Unterkofler war an seinen Kredit und seine moralisch-bedenkliche Arbeit gebunden.

Nein, diese seine Ansichten über seinen zu Tode gekommen Kollegen konnte er der Mordkommission nicht mitteilen. Aber was man an sich selbst am Wenigsten mag, das kreidet man auch zu allererst bei anderen an. So konnte man Aarons Verhältnis zu Christoph Unterkofler analysieren.

„Okay, das war die Leiche im Eingangsbereich und weiter“, konnte es Ulman kaum erwarten endlich Namen zu den entstellten Opfern zu erfahren.

„Daniel Blober. Er sitzt mit mir im Innendienst. Groß, dünn, hat einen Spitzbart.“

„Kennen wir. Auch tot. Weiter!“, nickte der pragmatische Mittsechziger emotionslos, den Namen ab.

Kurz drang wirklich ein Quantum an Flüssigkeit aus Aarons Tränendrüsen. Daniel Blober soll wirklich tot sein? Gut, auch er hatte seine eigenwillige Art. Überkorrekt, oftmals langsam in seinem Arbeitsablauf und gerne stellte er sich vor dem Firmenchef in den Vordergrund. Zugegeben, er arbeitete auch deutlich mehr als der faule Befragte, der es gewohnt war immer nur das Nötigste zu tun. Und hatte schon Christoph Unterkofler seine positiven Momente, so konnte Aaron, Daniel Blober wirklich einen Freund nennen. Er verstand seine eigenwillige Sicht auf die Welt und diese nörgelnde Anbahnung, ständig in Dauerschleife zu kommunizieren. Aber was von seinem toten Kollegen blieb, war einfach nur die besserwisserische Art, die ermüdende Besonnenheit und sein Drang Unterkofler in seiner Melancholie zu befeuern. Eigentlich berührte dessen Tod Aaron weniger, als er sich einreden wollte.

„Es tut uns leid, wir wissen das ist alles schlimm für Sie, aber desto mehr Sie uns helfen, desto schneller können wir alles aufklären“, bat der nun in die Fragerunde einstimmende Karrierist den Zeugen nochmals all seine Energie zu sammeln, „wer arbeitet noch dort?“

„Eigentlich nur noch eine Buchhaltungsdame. Ihr Name ist Maria Kases. Sie hat schulterlange Haare, ist dünn …“

„Gut, die kennen wir auch“, stellte Sebastian Ulman fest und unterbrach den Zeugen mit Reibbrettstimme und Handwinken.

Dieser wiederum war nun wirklich wie festgefroren auf seinem abgesessenen Holzstuhl. Das gesamte Bürokollegium war ausgelöscht worden. Nur er hatte überlebt und das, weil er einen Kloschacht hinuntergekrochen war. So sehr ihm die Szenen seiner Flucht nochmals durch den Kopf gingen und die ängstlichen und panischen Gefühle, die er zuvor noch nie in seinem Leben verspüren musste, nochmals hochkamen, drängte sich vorrangig doch die Frage auf, ob er nun in Gefahr war? Würde der Täter nun nach ihm suchen? Und je mehr sich die Gedanken zu seinem Sicherheitszustand in seinem egozentrischen Kopf ansammelten, desto weniger wurden die halbherzigen Mitleidsbekundungen zum Ableben seiner, nun ehemaligen Kollegen. So war Aaron. Seinen Eigensinn sah er in der mangelnden Nächstenliebe und defizitären Solidarität innerhalb der Gesellschaft legitimiert. Samt und sonders war seine Trauerphase über Maria Kases sehr kurzweilig. Sie sprach wenig bis nichts mit ihm, ging nie mit ihren Kollegen Mittagessen, sondern pflegte alleine im kleinen Konferenzsaal zu speisen, nahm ihr eigenes Besteck und Wasser mit. Selbst das Toilettenpapier wurde aus heimischem Bestand mitgebracht und wurde bei jedem Austrittsgang aus ihrer Tasche geholt und auf das stille Örtchen mitgenommen. Doch das Schlimmste war für Aaron, dass sie eine Sonnenliebhaberin war. Nach eigener Aussage konnte es ihr gar nicht heiß genug sein. Sie liebte den Sommer und die brütende Hitze der Großstadt. Leidlich markierte ein Augustdienstag den Abgrund der Beziehung beider Kollegen, als der bezeugende Kaufmann sich aus der Mittagspause kommend, bei 39°C Außentemperatur, in das vermeintlich wohl temperierte Büro zurückschleppte, dort aber aufgerissene Fenster und eine abgeschaltete Klimaanlage vorfand. `Damit die Sonne hereinlachen kann` gab die strickwestentragende Buchhalterin zur Antwort, als sie der desillusionierte Innendienst-Kollege, ob der für ihn frivolen Tat, zur Rede stellte. Und der schwitzende Daniel Blober unterstütze sie noch dabei. Jeder wie er will. Jedem ließ er seine Freiheiten, egal wie absurd und weitreichend. Nein, um Maria Kases, und eigentlich auch um Daniel Blober, war ihm nicht schade. Egal welche Beziehung man zu einem Menschen hatte, sein Ableben war immer tragisch und traurig. Nicht für Aaron. Seine mitmenschliche Sympathieliste gliederte sich rein danach wie sie sein Leben erschwerten oder erleichterten.

Jakob Rasch merkte, dass der Zeuge sich nun in ein melancholisches Gedankendelirium zurückzog und versuchte ihn weiter auf die, für ihn so anstrenge Fragenbeantwortung, einzuschwören: „Bald ist es vorbei. Was ist mit Ihrem Chef, wo ist der?“

„Herr Kantyck? Der ist nur zum Quartalsabschluss im Büro. Er wohnt in Liechtenstein und ist zumeist auf Reisen. Von ihm kommen dann immer die Aufträge an Unterkofler, wo wir welche Rohstoffe schnell kaufen sollen und von wem.“

„Haben Sie Kontaktdaten von ihm?“

„Ja, die sind in meinem Mobiltelefon. Das haben Sie beschlagnahmt.“

Der verwunderte Ulman konnte sich, ob der stümperhaften und drucklosen Befragungstechnik seines jungen Vorgesetzten und dem gebotenen Schauspiel des vermeintlichen Kronzeugen nicht mehr zurückhalten.

„Legen wir die Karten auf den Tisch. Erstens, Sie haben einen Hausschlüssel, zweitens, Sie sind ortskundig, drittens niemand hat jemanden außer Ihnen gesehen und viertens Sie haben ein Motiv!“

„Motiv?“, schrak Aaron gewarnt und verunsichert auf, „was für ein Motiv? Das ist meine Arbeit, warum sollte ich meine Kollegen töten und meine Einkommensgrundlage zerstören? Ich würde nie jemanden verletzen!“ Zu viele besitzergreifende Fürwörter. Nun riss die Fassade aus Betrübnis und Mitgefühl allmählich.

„Vier zu Null. Das müssen Sie sich beantworten. Sie haben sich ja schon verraten. Die Eingangstüre war offen als Sie gekommen sind. Nun meinten Sie, während Sie Ihr Geschäft auf der Toilette verrichteten, dass jemand geklingelt hat.“

„Ja, das stimmt. Vielleicht habe ich die Türe nach dem Kommen geschlossen, ich weiß es nicht mehr.“

„Wie stehen Sie zu den Geschäften Ihrer Firma?“

„Neutral.“

„Vorher sagten Sie schlimm. Gibt es sonst noch jemanden der dem Unternehmen schaden wollen würde?“

„Nein, wir handeln nur mit internationalen Kunden und haben keinerlei Kundenverkehr. Uns kennt ja eigentlich keiner.“

„Warum haben Sie Ihre Mutter getötet? Ich kenne Landeier wie Dich. Jetzt willst Du in der großen Stadt deine kranken Gedankenspiele fortsetzen, die du in deinem Bauernkaff begonnen hast. Wie viele Menschen hast du schon umgelegt?“

Das hat gesessen. Aus dem Nichts. Aufbauend gefragt und dann bumm!

Der offenliegende Royal Flash des Befragten wurde vom schlechtriechenden Atem des Verhörprofis vom Tisch geweht. Nun wusste er auch, warum das Morddezernat seine Personalien abgelegt hatte. Neun Jahre musste dieser Akteintrag nun alt sein. Genauso lange ist es her, als er schon einmal in so einem Raum einvernommen wurde und zum Tod seiner Mutter befragt wurde. Gut Ding, braucht lang Weile und so konnte die Forschheit des aggressiven aber routiniert-agierenden Fragestellers Aarons Tränendrüsen nun vollends in Bewegung setzen. Seine Augen färbten sich rot, passend zu seinem Gesicht und die salzige Drüsenflüssigkeit aus seinen Augen rannte seine Wangen hinunter, bis sie von seinem kurz geschnittenen Vollbart gestoppt wurde. Was für ein kummervolles Puzzleteil wurde durch den Tod seiner Mutter aus seinem Leben gerissen und auch damals konnte er den Ermittlern nur das sagen, was er Rasch und Ulman nun zu berichten im Stande war. Er wusste von Nichts.

Nun war es dem autoritätssuchenden Oberkommissar zu viel. Einerseits glitt ihm, als Ranghöherem die Führerschaft in dieser Befragung komplett aus den Händen und andererseits sah er die provokante Fragestellung seines Kollegen als nicht zielführend an. Die steigende Grobheit und Aggressivität des miefenden Mittsechzigers und der zu beobachtende emotionale Verfall des einzigen Zeugen ließen ihm nichts anderes übrig, als zu intervenieren: „Herr Kommissar. Mäßigen Sie sich. Was soll das mit diesem Fall zu tun haben?“

„Alles. Haben Sie den Akt nicht gelesen?“

„Meine Mutter nahm damals eine Überdosis Schlaftabletten und schnitt sich in der Badewanne die Pulsadern auf“, machte der jammernde Aaron seinem Herz Luft, um dieses Kapitel so schnell als möglich vom mit Fingerabdrücken bedeckten Fettfilm des kleinen Tisches zu wischen.

„Sie vergessen aber, dass sowohl Ihr Vater, als auch der Rest Ihrer Familie meinten, Ihre Mutter würde sich nie umbringen und dass Ihr einziger Sohn im Dauerstreit mit ihr lebte. Ja, die Badewanne war voller Blut und Wasser und mittendrin schwamm ein Haar Ihres Unterarms“, merkte Ulman süffisant an und ließ sich, ob seiner breiten Informationslage, selbstherrlich in seinen abgesessenen Stuhl zurücksinken.

„Aber bitte Herr Kollege. Das war vor neun Jahren sagen Sie? Ich sehe keinerlei Zusammenhang mit dem heutigen Grund unserer Zusammenkunft. Sind Sie verheiratet, haben Sie eine Freundin oder Verwandte? Haben Sie die Möglichkeit irgendwo abseits des Trubels zur Ruhe zu kommen?“

Alle neurologischen Schleusen waren geöffnet, der Strom an Tränen wollte nicht abreißen und wurde, ob der schlimmen letzten Begebenheit mit seiner Freundin, noch verstärkt. Niemanden hatte er mehr. Er war dort angelangt, wo er immer hinwollte. Aaron Röttger war ganz alleine und hatte nun bald seine Ruhe. Jedenfalls war sie vom Charakter her ein grundverschiedener Typ wie er, doch sie war gütig, rücksichtsvoll und liebte des Couch-Potatos kleine Macken. Trotz alle dem kam es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den beiden. Vor allem die negative Art des passionierten Nörglers zog auch ihr positives Gemüt hinunter und der Umstand, dass ihr Freund kein Wort mit Ihrer mutterähnlichen großen Schwester wechselte, belastete Sie und die Beziehung zusätzlich. Hinzu kam, dass sie, von Beruf Sängerin und Darstellerin kleinerer Musicalrollen, kaum ein Hobby mit ihm teilte. Sie lebten sich über die Jahre in ihrer gemeinsamen sechzig Quadratmeterwohnung auseinander und als Aaron mit Vorschlägen für kleine Schönheitsoperationen an sie herantrat war das Fass zum überlauf gebracht. Nein, der wimmernde Befragte konnte sich auf sie nicht mehr verlassen, seine Jasmin war ihm entglitten. Und nach dem Tod seiner Mutter und dem Umzug seines Vaters nach Australien blieb nur noch einer, der ihm jetzt den nötigen Schutz und Geborgenheit geben konnte: sein Cousin.

„Ja, mein Vetter. Wir sind wie Brüder. Er wohnt rund eineinhalb Autostunde nordwestlich von hier in einem kleinen Dorf, neben meiner Heimatstadt“, stellte Aaron euphorisch fest und wischte sich die Tränen aus dem roten Gesicht.

Rasch war erleichtert, dass der Zeuge wieder emotional zu sich kam.

„Gut. Wir müssen, und bitte, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, eventuell davon ausgehen, dass der Mörder auch Sie oder Ihren Chef verletzen will. Können Sie dort für einige Tage unterkommen und mit uns in Kontakt bleiben? Benötigen Sie Polizeischutz?“

Bestürzung machte sich im Kronzeugen breit. Nun musste er seine tiefe Angst auch aus dem Mund des freundlichen Oberkommissaren hören: jemand konnte hinter ihm her sein und nach seinem Leben trachten! Der verständnisvolle Ermittler würde ihn sicherlich nicht grundlos oder aus Angstmache anlügen. Sein Herz pochte und pumpte das Blut aus seinem rot angelaufenen Kopf in seine schlotternden Extremitäten. Das war dann zu viel der Seifenoperetten-Darbietung für den abgezockten und routinierten Mittsechziger. Erbost, hintergangen und bloßgestellt fühlte er sich und sprang von seinem überbenutzten Stuhl auf, um durch den ganzen kleinen Raum zu fluchen: „Sind Sie verrückt Rasch, dieser Mann gehört in Untersuchungshaft! Woher will er überhaupt wissen, dass es ein Mörder war? Warum nicht mehr? Weil er es war! Sag, wo sind die Waffe und die Projektile? Im Müll hast du sie entsorgt, oder?“

„Aus Herr Kommissar! Verlassen Sie sofort den Raum!“, erwiderte der fassungslose Rasch, peinlich berührt und geistesgegenwärtig, mit flinken Fingern das Tonaufnahmegerät abdrehend.

Folgeleistend ergriff der cholerische Kommissar seinen Schnellhefter, drosch die Türe hinter sich zu und stürmte zu seiner Schreibtischfestung. Sein Kopf lief nun ebenfalls tiefrot an und seine Lederslipper traten mit vollem Genuss gegen seinen blechernen Papierkorb.

„Wissen Sie, was wir jetzt machen?“, schlug der, nun die ganze Reputation der Polizei retten wollende Rasch, in deeskalierendem Ton vor, „wir gehen gemeinsam zu meiner Kollegin Krings und holen Ihre Sachen. Sie geben mir die Kontaktdaten Ihres Chefs und wir besprechen wie Sie nach Hause kommen. Okay? Wenn wir noch Fragen hätten melde ich mich bei Ihnen.“

Nach Hause? Das Schlagwort für den welthassenden Phlegmatiker, der sich beruhigt hatte und seinen überschwänglichen Optimismus, ob dieser Worte, wieder mit schauspielerischem Geschick zu unterdrücken versuchte. Noch hielt seine antiegomanische Membran der durchdrängelnden Selbstverliebtheit stand und mit Nachdruck presste er eine Träne nach der anderen aus seinen Augen.

„Ich hab doch nichts damit zu tun, warum ist der Herr Kommissar so böse zu mir?“, bohrte er noch, gekonnt in des Oberkommissar Egowunden und untermauerte seine Rolle als liebevollen Überlebenden, der einfach nichts weiß und zu sehr traumatisiert und geschockt war, um mehr zu sagen als das, was er bereits den beiden Ermittlern und dem Diktiergerät verraten hatte.

Rasch geleitete den schluchzenden Zeugen, der seine nicht schließbare Hose fest vor dem Abrutschen umklammerte, aus dem Verhörraum durch das Großraumbüro, vorbei an der Papierfestung, in Richtung der forensischen Abteilung. Der rasend-böse Kommissar saß auf seinem Schreibtisch und versah den vorbeischlapfenden Aaron nicht nur mit seinem durchdringenden und anschwärzenden Runzelblick, sondern auch mit einem Zuruf, der durch das ganze Großraumbüro des Morddezernats hallte: „Der Teufel sitzt dir in den Augen, ich kriege dich! Ich habe euch alle gekriegt! Ordentlich gefirmt wirst du von mir!“

Dem gedemütigten Oberkommissar blieb nichts übrig als den Zeugen mit noch schnelleren Schritten an Isabella Krings zu überstellen. Was für eine rufschädigende Blamage für ihn. Als leitender Ermittler zuzulassen, dass eine Vernehmung so außer Kontrolle geriet. Der Karrierist Rasch war sich sicher, das hatte ein Nachspiel bei einer Unterredung mit dem Dezernatsleiter.

Mit seiner rutschenden Leihhose tat sich Aaron schwer dem Tempo zu folgen. Aber ansonsten empfand er nur Genugtuung. Innerlich strahlte er. Endlich hatte er genügend Überzeugungsarbeit geleistet. Zweieinhalb Stunden Wimmern, Jammern und Weinen hatten ein Ende. Äußerlich rang er sich weiter, die Parzellierung seines archivierten Kummers glaubwürdig dosiert, abzurufen. Keiner würde ihn nun mehr aufhalten Frieden und Ruhe zu finden. Und schon gar nicht mehr die Polizei.

„Krings, bitte händigen Sie Herrn Röttgers die Sachen aus“, bat der aufgekratzte Rasch die Spurensucherin.

Er vermittelte dem Kronzeugen das Gefühl, dass er ihn so schnell und so weit weg wie möglich vom Morddezernat schaffen wollte.

Bis auf seine Kleidungsstücke, welche noch für weitere Untersuchungen in der Gerichtsmedizin verbleiben mussten, konnte er seinen blau-weiß karierten Rucksack, sein Mobiltelefon, seine Geldbörse, seine Ausweiskarten und seine Schlüssel mitnehmen.

„Auch die Schuhe können wir nicht mitgeben“, stellte Isabella Krings in entschuldigendem Wortlaut klar, „wollen Sie uns nicht zeigen, was Sie in ihrem Rucksack haben?“

Der sich nun nicht mehr als dringend Tatverdächtiger Betrachtende, sah darin keinerlei Problem und zog freiwillig die Zips der beiden Rucksacktaschen von einer Seite auf die andere.

„In der hinteren Tasche habe ich Taschentücher, einen Schal und Winterhandschuhe. In der vorderen einen Regenschirmknirps, die heutige Zeitung, ein Plastiksäckchen mit getrockneten Cranberrys und eine Wechselunterhose.“

„Eine Wechselunterhose?“, fragte die Forensikerin erstaunt.

„Ja, man weiß ja nie“, grinste Aaron kleinlaut, um sich dann wieder hinter seiner weinerlichen Fassade zu verstecken.

„Ach Krings, lassen wir den armen Mann doch endlich in Ruhe!“ forderte der unruhige Oberkommissar seine spurensuchende Kollegin auf, ihm endlich seine Sachen auszuhändigen.

„In der kleinen Vortasche habe ich noch Kopfhörer und feuchtes Reiseklopapier“, legte der Zeuge mit dem unruhigen Darm nach.

Um das Prozedere endlich beenden und nach dem Abgang des indisponierten Kronzeugen, die Scherben aufräumen zu können, riss Rasch den Rucksack an sich, stocherte mit seiner linken Hand darin herum und warf einige kurzweilige Blicke hinein.

„Okay, wir verstehen, das ist alles nicht tatrelevant. Damit ist auch das geklärt. Krings, notieren. Durchsucht und nichts gefunden. Bitte geben Sie noch Ihre und die Kontaktnummer Ihres Chefs an. Aja, und die Adresse, wo Sie jetzt hinfahren“, skizzierte der gebürtige Bergländer die weitere Vorgehensweise.

Währenddessen Krings die benötigten Daten von Aaron aufnahm, späte der ambitionierte Karrierist mit einem scharfen, tief-erzürnten Gesichtsausdruck quer durch das gesamte Großraumbüro auf den Hinterkopf des rauborstigen Kommissars, welcher sich wieder an sein Aktenstudium machte, als wäre nichts passiert.

„Herr Oberkommissar? Was machen wir mit den fehlenden Schuhen und glauben Sie, der Zeuge holt sich ohne Jacke, bei diesem nasskaltem Wetter, nicht den Tod?“, unterbrach sie, nach getaner Arbeit, ihren Vorgesetzten beim Starren.

Geistig war Rasch schon in Vorbereitung ein Feuerwerk der Zurechtweisung loszulassen.

„Was? Aja. Wohin fahren Sie nun Herr Röttgers?“, fragte er ihn, wie ein überfreundlicher Gebrauchtwagenverkäufer seinen einzigen Kunden.

Lange musste Aaron nicht überlegen. Er wollte einfach weg aus dieser großen Stadt und seiner Einsamkeit und der panikmachenden Angst, der Mörder könnte auch noch ihn aufsuchen und liquidieren.

„Bahnhof. Nordbahnhof. Ich fahre gleich zu meinem Vetter. Die Adresse haben Sie ja nun.“

„Wenn eine Streife Sie hinfährt, reichen die Pantoffeln? Und keine Jacke?“, bot ihm der wohlerzogene Akademikersohn den Shuttleservice zum Bahnhof anzunehmen, um weitere Unannehmlichkeiten zu verhindern und war hocherfreut, als der Zeuge nickte.

„Weiters organisieren wir Ihnen noch Beistand aus dem Notfallpsychologischen Dienst für Traumabewältigung. Es wird sich jemand bei Ihnen melden.“

„Nein, bitte nicht, ich brauch keinen. Ich brauche niemanden außer Ruhe!“

Oberkommissar Mag. Jakob Rasch reichte Aaron Röttgers die Hand, entschuldigte sich bei ihm für die Unannehmlichkeiten und verwies ihn an die beiden herbeigeeilten Streifenpolizisten, die ihn zum Bahnhof kutschieren sollten.

Sowie der Zeuge mit den beiden Beamten, vorbei am Empfang und durch die Milchglastür verschwunden war, richtete er den doppelten Windsorknoten an seiner schwarz-rot gestreiften Seidenkrawatte und stampfte zurück in das Großraumbüro.

„Magnin!“, rief er eine Kommissarin herbei, „hier die Kontaktdaten des Geschäftsführers. Checken Sie alles über ihn. Er muss kommen. Und hier die Adresse, wo unser Zeuge jetzt hinfährt. Rufen Sie bei der Kreisstadtpolizei an. Die sollen morgen eine Streife vorbeischicken und nach dem Rechten sehen. Und wenn noch Zeit bleibt, fordern Sie psychologische Betreuung für den traumatisierten Mann an.“

„Ja, Herr Oberkommissar. Und wie geht es dann weiter?“, fragte die junge Kommissarin.

„Ich weiß es nicht Magnin. Ich weiß es noch nicht. Aber eines weiß ich. Von unseren achtundvierzig Stunden sind schon fast zwölf vergangen. Das werden lange Nächte. Nachdem Sie die Anrufe getätigt haben, trommeln Sie alle zusammen! Ich unterhalte mich einstweilen mit unserem hochdekorierten lahmen Gaul.“

Stadtflucht

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