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IIst der universalisierende Intellektuelle passé? / Verrat der Intellektuellen?

Begriffe wie »Intellektueller« und »Moral« (oder auch »Gewissen«) haben bei etlichen Intellektuellen und geistigen Funktionsträgern in Redaktionsstuben und Universitätsseminaren keinen guten Klang. In den Feuilletons überregionaler Zeitungen wie der »Welt«, »FAZ«, »Süddeutschen«, selbst auch der »taz« und der »Frankfurter Rundschau« – die ehemals mit Kopf und Herz zuvörderst das nicht immer leicht zu intonierende Hohe Lied der Aufklärung sangen – erregen sich jüngere Redakteure und ehrgeizige Beiträger. So befindet Harry Nutt im vor Jahren neoliberal gewendeten Feuilleton der »FR«: »Man hält ihn noch im Spiel, den Intellektuellen, aber die Frage, wofür er noch gebraucht wird, ist kaum mehr zu beantworten … Der Typus des Intellektuellen wird immer häufiger zum Gegenstand einer Kasuistik seines eigenen Zerfalls.«1 Das Beispiel des heute 80-jährigen Günter Grass – einer der nach Bölls Tod wenigen ›klassischen‹ Intellektuellen der Bundesrepublik – schien erneut Stoff für diese Toterklärung zu geben. Grass, der immer eingeräumt hatte, als Flakhelfer und Schülersoldat ein glühender Jungnazi gewesen zu sein und dessen ganzes literarisches und publizistisches Werk auf eine Korrektur ebendieser Jugendsünde hinausläuft, hatte die Mitteilung über seine Zugehörigkeit kurz vor Kriegsende zur Waffen-SS-Division »Frundsberg« erst 2006 als 79-Jähriger, im Rahmen der Werbe-Kampagne zu seiner gerade erscheinenden Biographie »Beim Häuten der Zwiebel«, gewissermaßen offiziell bekannt gemacht.2 Gewiß kein Ruhmesblatt, abgesehen von der Merkwürdigkeit, daß er ausgerechnet der »FAZ«, die ihn 1998 anläßlich seiner Friedenspreisrede für den türkischen Schriftsteller Yasar Kemal als falschen Moralapostel geschmäht und die ihm auch den Nobelpreis nicht so recht gegönnt hatte, dies anvertraute – statt dem notleidenden SPD-Organ »Vorwärts« oder – warum nicht? – der »taz«. Aber welche Heuchelei folgte dem nun auf dem Fuß. Für diejenigen, denen Grass‘ politische Zeitkommentare schon lange mißfielen, war dies Anlaß zur Maßregelung: War dieser Grass nicht seinerseits ein Heuchler? Anderen Moral predigen – und selber? Und bestätigte das nicht ihre tiefe Skepsis, die sie schon immer gegen die Figur des Intellektuellen gehegt hatten? »FR«-Feuilletonredakteur Christian Schlüter3 rügte die angeblich »zumeist im hocherregt und überdreht hohen Ton der Moral vorgetragenen Statements« von Günter Grass und warf gleich die öffentliche Figur des Intellektuellen sowie die ganze Generation der Achtundsechziger in den Orkus. Und dekretierte in scharfem Tonfall: »Es gibt gar keine Generation zu verabschieden, weil sie längst verabschiedet worden ist.« »FR«-Kollege Christian Thomas glaubte gar die ganze Nachhitlerzeit mit dem Begriff der »Hypermoral« des konservativen Soziologen und Adorno-Antipoden Arnold Gehlen – für den in seiner Monographie »Moral und Hypermoral« humanistische Moral Überforderung und »Gesinnungsterror« bedeutete – erklären zu können: »Der nazistische Nihilismus, die radikale Aufkündigung traditioneller Normen und Werte in der NS-Ideologie, verlangte zwingend nach einem Gegenentwurf. Aus ihm entwickelte sich eine Gesinnungsstärke, bei mancher Gelegenheit in der Auseinandersetzung mit der westdeutschen Restauration aber auch ein Gesinnungsüberschuß, der sich schließlich den Vorwurf der Hypermoral einhandelte«4. Thomas‘ methodisches Vorgehen ist charakteristisch für etliche der jüngeren Feuilleton-Intellektuellen: Sie verflüchtigen moralische Grundkategorien und formalisieren ihr Denken funktional-technokratisch, indem sie psychologisieren. Ihnen geht es bloß nur noch um »Moral-Wettkämpfe«, »Gesinnungsstärke«, »Hypermoral«, also um Deutungshoheit. Inhalte und deren moralische Qualitäten interessieren weniger als vielmehr Macht und Machtkämpfe. Bedurfte es aber nicht gerade einer neuen Moral und »Gesinnungsstärke«, um der rassisch-völkischen NS-Gesinnung mit ihrem mörderischen Sozialdarwinismus den mentalen Boden zu entziehen? Was kann überall und zu jeder Zeit anzutreffendes Fehlverhalten ausrichten gegen das Recht, eine Moral und Gesinnung zu behaupten, die sich gegen die Wiederholung der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer entsetzlichen Minderheitenverfolgung zur Wehr setzt? Geht es kleinteiliger und selbstgerechter? Während Christian Thomas noch mithilfe der Psychologie um Verständnis rang, entrüstete sich in der »Zeit« regelrecht ihr Altredakteur Ulrich Greiner.5 Empört rief er dem »Moraltrompeter Grass« ein »Es ist nun wirklich genug!« hinterher: Genug des »eitlen Gedröhnes«, der »unerträglichen Selbstgerechtigkeit« der Flakhelfer-Generation, des Moralismus des »Renegatentums« der Grass und Jens. Offenbar lang angestaute Zurücksetzung brach sich bei Greiner sturzartig Bahn: Durch Jahrzehnte habe, zürnte er, die »ewige Rechthaberei der Flakhelfer« »viele Sendestunden und viele Feuilletonseiten« in Anspruch genommen, ohne daß dies von »geistigem Nutzen für die Nation« gewesen sei. Statt temperiert mit dem Krieg als Geburtshelfer der bundesdeutschen Demokratie umzugehen, hätten die Grass und Jens renegatischen Moralismus praktiziert. Daher, so Greiner, wurde der Krieg zum »Vater eines rigorosen Moralismus. Er kam nicht selten aus den Reihen jener, die selber in unterschiedlichem Maß Anteil hatten an Verblendung und Verbrechen.« »Renegatischer«, also »rigoroser Moralismus«, was soll das bedeuten? Wohl doch: Moral darf sein, aber nur ein bißchen. Aber darf – muß – Krieg nicht immer wieder Anlaß sein zu analytischer, also auch moralischer Gesamtbetrachtung? Seien es die 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges oder die 200 000 Toten des Afghanistankrieges 2002 oder die unzähligen – die Zahlenangaben schwanken zwischen 151 000 und 655 000 – Toten des zweiten Irakkrieges (darunter seit März 2003 bis 2008 4000 US-Soldaten) oder die 1500 toten Libanesen sowie die 150 toten Israelis des Libanonkrieges 2006? Für die Schlüter und Greiner ist das nervtötender renegatischer Moralismus des Grass, der Intellektuellen, der achtundsechziger Generation. Ist es so – nervtötender Moralismus? Und wenn »FAZ«-Redakteur Henning Ritter in verquaster Diktion den konservativen Soziologen und rechten Netzwerker Arnold Gehlen hochpreist zum »aktuellen Denker für Deutschland«, weil der eben die »humanitaristische Gesinnungsethik«, diesen »herrschenden allzuständigen Moralismus« (der, so Ritter, Linken Adorno und Habermas), abtut als Ethik der »Zuschauenden und Kritisierenden, die für die Folgen des Handelns nicht aufzukommen brauchen«6, dann ist das rechter Zeitgeist-Stammtisch – mit peinlich-schalem Dunst. Moral – ist sie von Natur aus hypertroph? Lassen sich Vernunft und Moral nur denken als partikular und regional, wie Henning Ritter in der Nachfolge Ernst Jüngers und Arnold Gehlens plötzlich wieder glauben machen will?7

Ist also der universalisierende »Intellektuelle« passé? Wer ist das überhaupt, der Intellektuelle? Der Schriftsteller und frühere Jusovorsitzende Johano Strasser, heute PEN-Vorsitzender, hat in seiner Streitschrift »Kopf oder Zahl« (2005) eine Lanze gebrochen für die Figur des Intellektuellen. Der Intellektuelle ist jemand, so Strasser in einem Rundfunkinterview, »der privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit hat und diesen privilegierten Zugang als Verantwortung begreift, um für diejenigen zu sprechen, die diesen Zugang zur Öffentlichkeit nicht haben«8. Und Strasser fügte hinzu, daß ein Intellektueller »nichts andres ist als ein paradigmatischer Citoyen, der öffentlich vorführt, was in der Demokratie Sache des Bürgers ist«. Sodann zog Strasser die fällige historische Parallele zur Dreyfusaffäre. Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus, einziger Jude im französischen Generalstab, war ein Opfer des Antisemitismus geworden und wegen angeblicher Spionage für Deutschland lebenslang auf die Sträflingsinsel Cayenne verbannt worden. Erst öffentlicher Protest rettete ihn. »J‘accuse« – mit diesem an den französischen Staatspräsidenten adressierten Offenen Brief forderte der Schriftsteller Émile Zola Gerechtigkeit für Dreyfus. Zolas Brief schlossen sich in einem »Manifest der Intellektuellen« mehr als 2000 Franzosen unterschiedlichster Berufe an – unter ihnen Schriftsteller, Künstler, Publizisten, Wissenschaftler, Studenten. Dennoch: Das »J‘accuse« des damals berühmtesten Schriftstellers Frankreichs trug ihm sofort einen Schauprozeß vor dem Pariser Schwurgericht ein. »Tod für Zola« riefen dabei vor dem Gerichtsgebäude fanatisierte Demonstranten. Das Gericht verurteilte ihn wegen Beleidigung des Kriegsgerichtes zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 3000 Francs. Zola und seine Familie wurden bedroht; der Schriftsteller floh nach London.

Dem Vergessenwerden auf der Sträflingsinsel entkam Dreyfus allein deshalb, weil Zola neben Mut und Zivilcourage auch Durchstehvermögen bewies. »Mut« – der »Wahlspruch der Aufklärung« lautet in Kants 1783 publizierter »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«9 – ist eine Grundtugend des Intellektuellen. Ihrer bedurften – mehr noch als der berühmte Zola – viele der weit weniger bekannten Petenten. Etliche der Unbekannten setzten ihre Karriere aufs Spiel. Erst nach jahrelangem Kampf brach das Lügengebäude von Generalstab und Geheimdienst zusammen. Und erst 1906, vier Jahre nach Zolas Tod, wurde Dreyfus rehabilitiert. Der ihn belastende Brief wurde schließlich als Fälschung entlarvt. Zola wurde zur Vaterfigur des Intellektuellen, »J‘accuse« seine Geburtsurkunde. Mit dem sogenannten »Manifest der Intellektuellen« von 1898 in Umlauf gesetzt wurde auch der Begriff des Intellektuellen.10 Fortan, nach 1898, wurde der Begriff des Intellektuellen in negativem wie positivem Sinne gebraucht. Der »Bloc républicain« – die Befürworter von Republik, Demokratie und Öffentlichkeit – bedienten sich seiner als Ehrentitel – und begründeten für das moderne Frankreich die »Institution« der intervenierenden Intellektuellen. Die antisemitische »Action française« – Gegner der Demokratie wie Charles Maurras und Maurice Barrès – machten das Wort »Intellektueller« dagegen zum Schimpfwort. Denn da meldeten sich, so ihr Vorwurf, Leute ohne gesetzliches Mandat öffentlich zu Wort in einer Angelegenheit, die allein Sache der Zuständigen, der Fachleute, der Experten, im Falle Dreyfus der Militärgerichtsbarkeit, sei. Und Barrès fügte hinzu: Es sei nicht zulässig, Begriffe wie »Wahrheit«, »Gerechtigkeit«, Vernunft zu verallgemeinern, zu universalisieren, schließlich gebe es immer nur eine konkrete Wahrheit, und zwar in diesem Falle die, die der Sache Frankreichs, seinem Blut, seiner Rasse und Nation, dienlich sei. Wer wie diese sogenannten Intellektuellen den abstrakten Wertekanon von Wahrheit und Gerechtigkeit über die Nation und den »Instinkt der einfachen Leute« stelle, erweise sich als ein besserwisserischer Haufe von »Entwurzelten«, ein Haufe, der Volk und Vaterland verrate. Barrés‘ die Figur des Intellektuellen negierende Argumentation ist bis heute ganz unvermindert in Gebrauch. In Frankreich beruft sich die »Neue Rechte« bis hin zu Le Pen auf ihr Vorbild »Action française«11. In Deutschland polemisiert der rechte Soziologe Helmut Schelsky 1975 in seinem konservativen, diffamierenden Pamphlet »Die Arbeit tun die anderen« gegen die angeblich klassenkämpferische »Priesterherrschaft der Intellektuellen«; und ebensolches kolportiert 2002 der konservative Soziologe Wolfgang Sofsky: Leute ohne Mandat redeten da über Dinge, von denen sie im Grunde nichts verstünden.

Am aggressivsten wurden Wort und Begriff des Intellektuellen im »Dritten Reich« diskriminiert. Intellektueller wurde zur Totschlagvokabel. Die »Deutsche Drogistenzeitung« druckte 1934 den seit 1928 populären Vers ab: »Hinweg mit diesem Wort, dem bösen, / Mit seinem jüdisch grellen Schein! / Wie kann ein Mann von deutschem Wesen / Ein Intellektueller sein!«12 Der Intellektuelle wurde in der NS-Ideologie nicht nur gleichgesetzt mit kapitalistischen Plutokraten, sondern auch mit dem sogenannten jüdischen Bolschewisten oder bolschewistischen Juden. Die aus Leitbegriffen wie Rasse, Volk, Blut und Boden, Nation, Reich, Führer kompilierte NS-Weltanschauung stand in unmittelbarem Gegensatz zum Universalismus von Aufklärung, Humanismus, Menschenrechtsdenken. Deren verachtenswerter Agent war in den Augen der NS-Bewegung sowohl der US-Dollar-Plutokrat als auch der bolschewistische Intellektuelle. Auch heute sind in Diktaturen, zumal in Theokratien, Intellektuelle nur dann willkommen, wenn sie der herrschenden Ideologie/Weltanschauung/Religion Beifall zollen. Andernfalls werden sie ausgegrenzt, marginalisiert, sodann kriminalisiert, verfolgt und mit dem Tode bedroht.

In Demokratien ist es anders. Intellektuelle stellen in ihnen so etwas dar wie eine Form der Bürgerinitiative – wobei sie oft, aber keineswegs immer willkommen sind. Die Wertschätzung oder Mißachtung, die sie erfahren, wird beeinflußt von der Stimmung des Zeitgeistes; sie erweist sich als abhängig von der jeweiligen politisch-ökonomisch-ideellen Interessenlage. Uwe Justus Wenzel, Redakteur für Geisteswissenschaften der »Neuen Zürcher Zeitung«, hat 2002 fünfzehn Autoren – die meisten von ihnen Professoren der Soziologie – Fragen gestellt wie: Was ist die zeitgemäße Form eines Intellektuellen, über welche Eigenschaften sollte er verfügen? Stellt er heute überhaupt noch eine Bereicherung des öffentlichen Lebens dar? Keinerlei Bereicherung, erklärte der 1952 geborene Soziologe Wolfgang Sofsky, weil Intellektuelle nicht mehr als Geldschneider und Aufmerksamkeitsjäger seien. Auf geradezu frappierende Weise wiederholte Sofsky damit in seinem »Illusionslose Beobachtung« überschriebenen Beitrag alle gängigen Klischees und Ressentiments – wie sie schon Schelsky in seiner inquisitorischen Intellektuellenfeindschaft vor nahezu 30 Jahren strapaziert hat – gegen Intellektuelle: Wohlfeil produzierten sie als »selbsternannte Moralwächter« Meinungsware für »Einrichtungen«, die allein durch öffentliche Kontroversen »Gewinn erzielten«13. Als »Gewissen der Menschheit« spielten sie sich auf und gäben vor, im Namen höherer Werte zu sprechen: »Sie schweben frei dahin, wo die Worte und Loyalitäten flüchtig, die Verantwortung gering, das Gedächtnis kurz« ist. Also lauter Schwätzer und Schluris. Auch der emeritierte Literaturwissenschaftler und Herausgeber des »Merkur« Karl Heinz Bohrer hielt ebenso wie der Publizist Claus Koch in diesem Sammelband die Figur des gesellschaftskritischen Kopfarbeiters für »abgelebt«. Beider Argument: Der Prozeß politischer Zivilisierung sei in den westlichen Demokratien vollzogen. Bohrer nannte als Beispiele: »Abschaffung der Todesstrafe, Sozialgesetzgebung für die weniger begüterten Schichten, absoluter Vorrang des Rechts vor der jeweiligen Exekutive«14. Darum hätten Gesellschaftskritiker nichts mehr zu tun und zu sagen. Nur vom »phänomenologisch begabten Blick«15 kulturkritischer Schriftsteller wie Botho Strauß könnte zukünftige Gesellschaftskritik noch etwas lernen. Gewiß, gibt Sighard Neckel, zu dieser Zeit Leitungsmitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Bohrer im selben Sammelband mit Recht zur Antwort, ist originelle literarische Kulturkritik von diagnostischem Wert, aber macht sie, fragt er, gleich den mitdenkenden und mitfühlenden Staatsbürger, den gesellschaftskritischen Zeitgenossen, überflüssig? Begründet permanenter gesellschaftlicher und sozialer Wandel nicht immer wieder aufs neue die Notwendigkeit, die mit diesem Wandel verbundenen Veränderungen zu beobachten, zu beschreiben und zu bewerten – und damit gesellschaftliche Begriffskämpfe zu führen, die zugleich auch Machtkämpfe sind unter dem Aspekt der Deutungshoheit? Etwa über den Wert von Bürgerrechten? Oder neuer sozialer oder ökologischer Herausforderungen? Müssen gesellschaftliche Grundwertvorstellungen – von Zeit zu Zeit – nicht immer wieder aufs Neue bestätigt werden? Der »kritische Blick« also ist unverzichtbar. Um ihn aber überhaupt erst möglich zu machen (so betont zum Beispiel der amerikanische Sozialwissenschaftler Michael Walzer, seit Jahrzehnten einer der Vordenker der amerikanischen Linken, im ersten und wichtigsten Essay dieses Bandes) bedarf es solcher »moralischer« Tugenden wie der des »Mitleids«, des »Muts« und des »guten Auges«, des »Augenmaßes«.16 Erst durch Mitgefühl, das heißt durch Einfühlung in die Situation anderer, entsteht Wahrnehmungsfähigkeit für Opfer- und Ungerechtigkeitsverhältnisse sowie Identifikationsbereitschaft mit dem Leid anderer. Das geht weder ohne Ernst Jüngers Kaltnadeltechnik der »désinvolture« (die zur Beurteilung notwendige Fähigkeit, Emotion im Zaum halten zu können), noch ohne genaues Hinsehen und Beobachten, noch ohne »moralische« Tugenden, also nicht ohne die von Luhmännern, Funktionalisten, Strukturalisten, Apokalyptikern und Dekonstruktivisten so vielfach geschmähten Humanisierungsfermente wie Moral, Gesinnung, Gewissen. Bloße moralinsaure Moral ist leer, ohne Moral aber ist alles nichts, zum Beispiel weil Moral zwangsläufig sich bildet bei Abwesenheit von Moral – durch Gewissen.

Um Kritik zu üben an Unrecht und »Ausbeutung« – »Menschen zu schinden ist falsch … und Ausbeutung ist … exakt in der gleichen Weise falsch«, so Michael Walzer17 –, dazu bedarf es auch in Demokratien des Muts und der Zivilcourage. In Diktaturen ist davon ungleich mehr vonnöten, aber eben auch in Demokratien erfordert es Mut und braucht es Zivilcourage, sich Mehrheitsmeinungen entgegenzustellen. Wie sehr das der Fall sein kann, zeigt das Beispiel des 11. September 2001 und seine Folgen.18

Um Unrecht zu erkennen, ist nicht so sehr Theorie erforderlich, betont Michael Walzer in seinem Beitrag »Die Tugend des Augenmaßes«, sondern von Mitleid und Mut getragene moralische Sensibilität. Ist es nicht so? Es ist so – und diese Sensibilität ist zeitlos, erklärt Julien Benda in seiner 1978 von Jean Améry neuherausgegebenen Streitschrift »Der Verrat der Intellektuellen«. Das Gefühl für Unrecht, moralische Empfindsamkeit für ungerechte Herrschaft von Menschen über Menschen, ist zu allen Zeiten existent, unabhängig von der jeweiligen Herrschafts- und Hierarchieform. Benda: »Ich kann mir durchaus vorstellen, daß die Völker, die Nebukadnezar an Nasenringen die Landstraße nach Chaldäa entlangzerren ließ, daß der Unglückliche, der von seinem mittelalterlichen Seigneur an den Mühlstein gebunden … wurde, daß der Jüngling, den Colbert lebenslänglich an die Galeerenbank ketten ließ: daß sie alle sehr wohl der Ansicht waren, man verletzte an ihnen ein ewiges – statisches – Prinzip der Gerechtigkeit.«19 Das Universelle ist in diesem Fall mehr als das Partikulare. Intellektueller ist, so beschreibt es auch Jean-Paul Sartre in diesem Sinne in seinen im Herbst 1965 in Japan gehaltenen Vorträgen »Plädoyer für die Intellektuellen«, wer einen universellen Anspruch behauptet und sich weigert, ihn in den Dienst partikularer Zwecke, das heißt der oder des jeweils Herrschenden, zu stellen: »Der Intellektuelle ist also der Mensch, der sich bewußt wird, daß es in ihm und in der Gesellschaft einen Gegensatz gibt zwischen der Suche nach der praktischen Wahrheit (mit allen Normen, die sie impliziert) und der herrschenden Ideologie (mit ihrem System traditioneller Werte).«20 Der Geistesarbeiter soll nicht als »falscher Intellektueller« »Wachhund« der »herrschenden Klasse« sein und ihre »partikularistischen« Interessen verteidigen, sondern sich einsetzen für »die Universalisierung, das heißt gegen die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Entfremdung, die Ungleichheiten«21. Diese Worte klingen in heutigen neoliberalen Juste-Milieu-Ohren unerlaubt aufrührerisch, sie markieren indes nur die Differenz zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen der Reduktion auf das jeweils Besondere und dessen Abstraktion ins universell Allgemeine. Beider Dialektik aber ist für das Verständnis von Unterdrückung und Entfremdung sowie Versuchen ihrer Aufhebung unveräußerlich. So notwendig wie das stets vorhandene und in allen Generationen nachwachsende Gerechtigkeitsgefühl.

Auf eben diesen ebenso universalistisch-abstrakten wie ins Konkrete immer wieder übersetzbaren Grundwert der Gerechtigkeit bezieht sich in Wenzels Intellektuellen-Anthologie auch Ralf Dahrendorf, ehemaliger Europa-Kommissar und Direktor der »London School of Economics«. Intellektuelle, so die Empfehlung des (seit 1993) englischen Oberhaus-Lords, sollten zum Beispiel ineins mit den Grundprinzipien der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – den gesellschaftlich »wichtigsten Wertekonflikt«22 kritisch im Auge behalten: nämlich inwieweit es gerecht zugeht im Verhältnis der miteinander konkurrierenden Werte Gleichheit und Freiheit. Daß nämlich zum Beispiel Freiheit – ohne von Solidarität getragene Bereitschaft (wenigstens) zur Gleichheit der Chancen – für Schwächere eine Illusion ist.

Indem auch Benda das urdemokratische Prinzip der Gleichheit hervorhebt – daß alle Menschen frei und an Rechten gleich geboren sind –, behauptet er nicht, was die »Rechte« wiederum der »Linken« zum Vorwurf macht, ›Gleichmacherei‹ des Ungleichen. Benda weist diesen bis heute praktizierten Trick zurück: »Der Trick besteht darin, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß die Demokratie nur die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und im Zugang zu öffentlichen Ämtern zum Beispiel postuliert, während ihre Position in allen übrigen Fragen durch jenes Diktum des englischen Philosophen Grant Allen definiert wird, demzufolge ›Alle Menschen frei und ungleich geboren sind‹ und es ›das Ziel des Sozialismus ist, diese natürliche Ungleichheit zu erhalten und das beste daraus zu machen oder auch durch jenes andere des französischen Demokraten Louis Blank, demzufolge die wahre Gleichheit in der ›Verhältnismäßigkeit‹ liegt und für alle Menschen in der ›gleichen Entfaltung ihrer ungleichen Fähigkeiten‹ besteht – zwei Formulierungen, die beide zurückgehen auf den Gedanken Voltaires: ›Wir sind alle Menschen in gleicher Weise, aber nicht gleiche Mitglieder der Gesellschaft.‹«23 Nochmals (weil dies das wichtigste Kampfargument der alten Wirtschaftsliberalen bis hin zu den heutigen marktradikalen Liberalen, auch in der SPD, geworden ist): Der Trick besteht darin, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß (soziale) Demokratie nur die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, beim Zugang zu öffentlichen Ämtern sowie Gleichheit der Chancen, der Ausgangsbedingungen, postuliert. Daß Menschen nicht gleich sind, sondern höchst unterschiedlich, ist offensichtlich. Chancengleichheit verlangt Gleichheit der Ausgangsbedingungen, akzeptiert aber, daß »ungleiche Menschen aus gleichen Chancen Verschiedenes machen«24.

Anders als Sofsky, für den Intellektuelle bezahlte Schreibsöldner und Meinungs-Bubis sind, und Bohrer, der die Bundesrepublik bereits für »auszivilisiert« erklärt, hält es zum Beispiel eine so ungewöhnliche Allianz wie die von Michael Walzer, Ralf Dahrendorf und Johano Strasser durchaus für unklug, auf die Figur des sich öffentlich erklärenden Intellektuellen zu verzichten. Denn können jene, denen Wohl und Wehe des Ganzen nicht gleichgültig ist, nicht helfen, die Transparenz einer offenen, lernfähigen Gesellschaft aufrechtzuerhalten? Fügen sie damit der Gesellschaft Schaden zu? Im Gegenteil. Sie versuchen Schäden zu verhindern. Für den Sozialphilosophen Jürgen Habermas25 ist Intellektueller, wer sich, während andere noch Business-as-usual betreiben, über »kritische Entwicklungen aufregen« und diese Aufregung mit politischer Urteilskraft verbinden kann. Dazu bedarf es, so Habermas, links-liberaler intellektueller Begleiter der Bundesrepublik, »unheroischer Tugenden« wie »einer argwöhnischen Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens, die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen, der Sinn für das, was fehlt und ›anders sein könnte‹, ein bißchen Phantasie für den Entwurf von Alternativen, und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet«.

»Ein wenig Mut« zu Polarisierung und Erregung von Anstoß ist – wie gesagt – auch in Demokratien vonnöten, ungleich mehr davon natürlich in Diktaturen. Und war erforderlich in der geschlossenen Feudalgesellschaft des Mittelalters. Wer wie der Dominikanermönch Giordano Bruno Ende des 16. Jahrhunderts der katholischen Lehre widersprach, riskierte sein Leben. Für die Kirche kreiste die Sonne um den Weltmittelpunkt Erde, für Bruno die Erde um die Sonne. Und mit der Unendlichkeit des Weltraums hatte er zugleich die Personalität Gottes in Frage gestellt. Der Ketzerei angeklagt, hielt er an seiner angeblichen Irrlehre fest, statt ihr abzuschwören. Bruno verweigerte den Verrat der Wahrheit. Am 17. Februar 1600 wurde er dafür in Rom auf dem Campo dei Fiori verbrannt. Ein Denkmal an der Stelle des Scheiterhaufens erinnert noch heute an ihn, an seinen Todesmut. Hätte man es Giordano Bruno angesichts der Todesandrohung übelnehmen können, wenn er, um sein Leben zu retten, widerrufen, also intellektuellen Verrat begangen hätte?

Bertolt Brecht hat eben das zum Thema gemacht in seinem Stück »Leben des Galilei«. Galileis – ebenso wie Brunos – Erkenntnis, daß die Erde nicht – wie die Katholische Kirche behauptete – Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern sich um die Sonne dreht, brachte die Inquisition ins Spiel. Von ihr angeklagt, beugte sich der historische – lebens- und sinnenfreudige – Galilei der Gewalt und widerrief: »Ich schwöre ab, was ich gelehrt habe, daß die Sonne das Zentrum der Welt ist«. Wider besseres Wissen, aus Angst vor der Folterkammer der Inquisition, leugnete Galilei, ein Freund der »Fleischtöpfe«, die Wahrheit. Die Kirche war‘s zufrieden, sie gewährte ihm einen geruhsamen Lebensabend: Bis zu seinem Tod 1642 lebte er in einem Landhaus bei Florenz – allerdings von Mönchen überwacht, in Schutzhaft der Kirche. Ein klassischer Fall von Selbstverrat, von intellektuellem Verrat? In Brechts erster, Dänischer Fassung des »Leben des Galilei« (1938/39, uraufgeführt in Zürich mit Leonard Steckel) ist Galilei ein anpasserischer Opportunist. Er opfert die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft dem eigenen Vorteil. Macht zweckfreie Wissenschaft manipulierbar? Alles ist Galilei gerade recht, sofern es Mittel zum Zweck ist. Brecht schrieb dieses Stück in Dänemark im Exil, erschrocken darüber, daß inzwischen deutschen Physikern im »Dritten Reich« die Spaltung des Uranatoms gelungen war. Also fragte Brecht besorgt nach der Verantwortung des Wissenschaftlers. In der zweiten Fassung »Galileo« (1945/47: Entstehungs- und Aufführungsort USA mit Charles Laughton), die Brecht unter dem Eindruck der im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben – was Brecht für ein Verbrechen hielt – verfaßt hat, sowie in der dritten Fassung »Leben des Galilei« (1955/56 für das »Berliner Ensemble« überarbeitet, mit Ernst Busch als Galilei) verwirft Brecht den Widerruf als soziales Verbrechen. Und läßt dabei Galilei mit sich selbst ins Gericht gehen: »Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden … Ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, ganz wie es ihren Zwecken diente. Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden.«26 Ist es schon ein »soziales Verbrechen«, wer wie Galilei, um sein Leben zu retten, die Wahrheit verrät? Verrat ist es allerdings schon.

Ende des 16. Jahrhunderts begann der Philosoph Michel de Montaigne das 1. Kapitel des 2. Buches seiner wunderbar flirrenden, biegsamen Essays mit einer Betrachtung »Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns«. Er sprach von der »naturgegebenen Unbeständigkeit unserer Verhaltensweisen und Meinungen«27 und verglich den Menschen mit »jenem Tier, das die Farbe des Ortes annimmt, an den man es jeweils versetzt«28 (das Chamäleon). Und er fügte hinzu, daß in der »Kunst zu fliehen« natürlich etwas Sinnvolles liege. Keinen Zweifel ließ Montaigne aber daran: »Man sollte es für etwas wahrhaft Großes halten, wenn einer stets als ein und derselbe auftritt«29, das heißt sich leiten läßt von Standfestigkeit und Selbsttreue. Ist aber, wer in seinen Meinungen, Ansichten und Handlungen »stets als ein und derselbe auftritt«, immer und vorbehaltlos »wahrhaft groß«? Nicht immer. Zum Beispiel, wenn er sich geirrt hat – falschen Propheten gefolgt ist oder noch folgt. »Groß« ist dann eher der, der seine Irrtümer erkennt und korrigiert. Zu allen Zeiten und nahezu in allen Problemlagen gibt es dafür Beispiele. Beschränken wir uns hier auf die Zeit nach dem 30. Januar 1933. Etliche, die anfangs der NS-Ideologie des »Dritten Reiches« gefolgt waren, lösten sich im Laufe der zwölf Jahre NS-Diktatur von ihr. Einige wurden Widerstandskämpfer. In den Augen des NS-Regimes »Verräter«, waren sie nach Kriegsende Lichtgestalten, an denen sich alle aufrichten konnten: Frauen und Männer der »Roten Kapelle«, die sich auch an Zwangsarbeiter gewandt hatten, die Geschwister Sophie und Hans Scholl, Männer und Frauen des Kreisauer Kreises und zahlreiche Verschwörer des 20. Juli. Was aber, wenn jemand sein Hemd mehrfach wechselt? Ist es begründbar oder erfolgt es je nach Lage, Lust und Laune? Wie zum Beispiel ist der Fall des Schriftstellers Arnolt Bronnen zu beurteilen?

Der Marxist und enge Brechtvertraute Arnolt Bronnen mutierte Mitte der Zwanziger Jahre zum Freund des aufstrebenden Berliner Gauleiters Joseph Goebbels und zum »Faschismusphilen«30. Doch der völkische Nationalsozialist tauschte sein geistig-politisches Kategoriengerüst erneut aus, als das »Dritte Reich« auf den Untergang zusteuerte. Bronnen wurde nun wieder Kommunist und Mitglied der KPÖ.31 Wie schon 1925/26 wechselte er erneut seine Wertvorstellungen: An die Stelle des partikularistischen NS-Leitbegriffes des germanischen Volkes trat der universalistische »Kampf für die Menschheit«. Und er verklärte – Marxens historischen Materialismus kopierend – den »Arbeiter« zum revolutionären Subjekt der Geschichte: »Die Arbeiter waren immer überlegen … Sie waren die Vorhut der Menschheit. Ich mußte mich unterordnen. Und diese Unterordnung war schön.«32 – »Ich stand in den Reihen der kämpfenden Arbeiter, bereit, den Ausgebeuteten und Entrechteten zu dienen.«33

Bronnen, der Intellektuelle, verrät den Intellektuellen, indem er seine Autonomie als Intellektueller preisgibt. In seinem Selbstverhör »Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll« beschreibt Bronnen eindrucksvoll seinen mehrfachen Meinungs- und Gesinnungswechsel. Dabei fragt er nach den Gründen. Bronnens Selbstdiagnose: Er sieht sich als gespaltene Persönlichkeit, als »zutiefst unmoralischen egoistischen Menschen«34. Als Narziß also, dem wichtiger als seine Meinungen und Ansichten er selbst ist. In diese seelische Lage gebracht habe ihn, so stellt er es dar, seine Sozialisation: Früh beginnender und lang andauernder »Krieg« mit dem Vater – einem Wiener Dramatiker und Burgtheaterdirektor – habe diese Ambivalenz in ihm ausgeprägt. Was von außen betrachtet, ob zu recht oder zu unrecht, als Verrat gilt, hat in der Innendimension, im Verhalten des »Verräters«, nicht selten familiäre und psychologische Verursachermechanismen – wie bei Bronnen. Durch Sozialisation und Erziehung begünstigte Persönlichkeitsspaltung, Ambivalenz, Doppelgängertum – sie leben sich narzißtisch aus. Der narzißtische Blick in den Spiegel zeigt ein Doppelgesicht, zum Beispiel das von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Publizistin Margret Boveri spricht angesichts dieses Doppelspiels, das sie auch an sich beobachtet hat, von »Koinzidenz der Gegensätze in mir«. Margret Boveri: »Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem zu seinem Recht zu verhelfen. Der Preis dafür ist, daß ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Die Koinzidenz der Gegensätze ist mir als eine immer neu zu bewältigende Aufgabe klargeworden. Wenn ich mich zu einer Partei bekennen soll, dann zu der, die nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-Als-auch bejaht. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, daß wir im Ausharren der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand aufzulösen ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.«35 Diese Ambivalenz Margret Boveris oder der narzißtisch grundierte, chamäleonartige Gesinnungs-Wechsel von Arnolt Bronnen sind zu allen Zeiten anzutreffen. Ambivalenz und Ambiguität indes ermöglichen auch Verstehen des Widersprüchlichen. Martin Walser kleidet das lapidar-nonchalant in seinen Aphorismenstenogrammen »Meßmers Reisen« in das elegant formulierte Aperçu: »Mehr Erfahrung als auf einen Standpunkt geht, macht man schnell.«36 Nur: sind nicht auch Entscheidungen notwendig? Damit nicht alles zur ewigen Nichtfestlegung und ständigen Wechselbereitschaft erstarrt?

Ist andererseits, wer in seinen Meinungen, Ansichten und Handlungen »stets als ein und derselbe auftritt«, immer und vorbehaltlos »wahrhaft groß«? Zum Beispiel in der ehemaligen DDR? Viele hofften zu Anfang auf einen gesellschaftlichen Neubeginn. Endlich etwas anderes, als bewußter Gegenentwurf zum Nationalsozialismus: eine sozialistische Demokratie, in der die Macht der wirtschaftlich Stärksten und Größten (wie in den Westzonen ebenso 1947 im Ahlener CDU-Programm formuliert) gebrochen wird. Aus der Emigration zurück kamen deshalb etliche nicht in die Bundesrepublik – Adenauer zeigte kein Interesse an den Exilanten und ließ keine einzige Aufforderung zur Rückkehr ergehen –, sondern in die »Ostzone«/DDR: Bert Brecht, Paul Dessau, Ernst Bloch, Stephan Hermlin, Hans Mayer, Anna Seghers, Arnold Zweig et alii. Auch der 1933 geborene Reiner Kunze, von 1955 bis 1959 wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig, erklärte sich vehement für das neue Gesellschaftsmodell DDR. Kunze entpuppte sich schließlich als fanatischer Stalinist. So daß Wolf Biermann in der »Zeit« feststellte: »Kunze wurde als brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet.«37

Aber dann korrigierte sich Kunze. Seinen ›Gesinnungswechsel‹ dokumentierte er selbst in seinem 1993 veröffentlichten Tagebuch »Am Sonnenhang«, indem er aus seiner Stasiakte zitierte: »In dieser Zeit« (1955 bis 1959) »vollzog sich bei Kunze eine politisch-ideologische Wandlung und eine Abkehr vom Marxismus-Leninismus.«38 Dergleichen Wechsel von Meinungen, Ansichten, Überzeugungen, Weltanschauungen sind in der Regel – handelt es sich um Irrtümer oder dogmatische Weltbilder – aller Ehren wert. Korrektur also von falschen Dogmen, Fanatismen, Fehlansichten ist kein Verrat.

Auch in der (westdeutschen) Demokratie war und ist Meinungs-Korrektur keineswegs von vornherein Verrat. Wenn zum Beispiel Franz Xaver Kroetz, 1946 in München geboren, 1972 als Sechsundzwanzigjähriger der DKP beitritt, im Landesvorstand seiner Partei sich in die Programm-Kommission wählen läßt und 1980 wieder austritt, ist das zwar in den Augen seiner Genossen Verrat. Tatsächlich aber ist es bessere Einsicht. Warum wurde der »bekannteste Kommunist Bayerns« DKP-Mitglied? Kroetz, dessen Vater Nazi war: »Ich hätte meine Eltern mit zwei Sachen treffen können: Wenn ich schwul geworden wäre oder Kommunist. Schwul ging nicht, also wurde ich Kommunist. Sicher aus Protest.«39 – Wie aber ist der Fall des Hamburger Schriftstellers Peter Schütt zu beurteilen, der 1968 in Hamburg die DKP mitbegründete, Mitglied des DKP-Parteivorstandes und Bundessekretär des DKP-nahen »Demokratischen Kulturbundes« wurde? Als Schütt, der »DKP-Hofdichter«, sich zu Gorbatschows Reformkurs bekannte, schloß ihn die DKP-Spitze im September 1988 aus dem Parteivorstand aus, woraufhin er kurz darauf aus der Partei austrat. Verrat oder bessere Einsicht? Bessere Einsicht. Aber war dem nicht auch ein Anflug von Renegatentum beigemischt, wenn Schütt sich nun als Forum für seinen Wechsel-Bericht ausgerechnet die »FAZ« aussuchte? Und dort sein Wechselbekenntnis drucken ließ: »Ich wurde nach Vietnam eingeladen und schrieb daraufhin mein erstes richtiges Buch. Die Schreckensbilder dieses Krieges haben lange nachgewirkt und mich in jenem Schwarzweißdenken bestärkt, das mich so lange blind gemacht hat gegenüber der Verbrechensgeschichte des eigenen Lagers. Für mich war der Kapitalismus das Reich des Bösen, verantwortlich für Auschwitz und My Lai, und im Kommunismus sah ich den einzigen Weg, die Menschheit von allen Weltübeln zu erlösen. In den kalten Zeiten des Ost-West-Konflikts gab mir die Partei zugleich Nestwärme und das stolze Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, komme, was da kommen mag. Eine Zeitlang war ich so etwas wie der Liebling der Partei, und ich habe den Beifall der Genossen auch genossen.«40 Einfachaufteilung der Welt in Schwarz und Weiß und Suche nach Nestwärme aus Naivität und Narzißmus – ein intellektuelles Verratssyndrom?

Auch der Wechsel der Mitgliedschaft in einer Partei – obwohl auch hier die Vokabel »Verrat« schnell auf der Zunge liegt – ist nicht von vornherein Verrat. Wenn zum Beispiel »Grünen«-Mitgründer Otto Schily sein Parteibuch zurückgibt und zur SPD wechselt, ist das nicht Verrat. Darf nicht gewechselt werden in eine andere Partei – so wie es etliche getan haben – Wehner, Brandt, Heinemann, Lafontaine (dem Müntefering ein sattes »Verräter« nachrief)? Aber riecht es nicht doch nach Gedanken-Verrat, wenn der grüne »Überläufer« Otto Schily sich als Innenminister der neoliberalen Schröder-SPD von 1998 bis 2005 in seine neue Rolle geradezu hineinsteigert: nämlich den unbeugsamen Sheriff spielt, mit grimmiger Miene und vor Entschlossenheit schneidender Befehls-Stimme? Und dabei gewöhnungsbedürftige Unionshardliner wie Bayerns damaligen Innenminister Günther Beckstein noch rechts überholt? Nach dem 11. September gab Otto Schily markige Worte am Fließband von sich. Ihr Tenor: Staat und Safety first. In seltener Militanz forderte Schily bei der Abwehr des Terrorismus die vorbeugende Sicherheitshaft ohne Tatverdacht und sogar das Recht auf präventive Tötung: »Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben.«41 Verlangte Auffanglager für nordafrikanische Flüchtlinge in Nordafrika. Drängte auf ein Luftsicherheitsgesetz, damit der Staat, in der Hoffnung, andere zu retten, unschuldige Bürger in einem entführten Flugzeug abschießen dürfe. Bis das Bundesverfassungsgericht den geplanten Abschußparagraphen für nichtig erklärte und Schily auf die Verfassung verwies, auf den Kantischen Grundsatz der Menschenwürde: Nie dürfe der Mensch Mittel zum Zweck sein, auch wenn der Zweck als gut erscheint: »So entsetzlich die Bedrohung auch sei, wie heftig al-Quaida auch an der gewohnten Weltordnung rüttele, Verfassung bleibe Verfassung«, kommentierte die »Zeit«42. Der in seinem Innen-Ministerium wegen seines Führungsstils als cholerischer »Kotzbrocken«43 Titulierte absolvierte eine verblüffende Verratskarriere: vom linken Radikaldemokraten zum rechten Law-and-order-Apostel. Kein Verrat? Nur intelligentes Gegensteuern aus besserer Einsicht? Oder ganz gewöhnlicher Opportunismus sowie notwendige politische Überlebensflexibilität?

Und ist es nicht doch auch Verrat, wenn der ehemalige Sozialist Manès Sperber44 1983 in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zur atomaren Selbstverteidigung des freien Europa gegen die Sowjetunion aufruft – gegen das »Reich des Bösen«? Atomar? War, ist das besonnen oder gar klug? Und Sperbers Rundumschimpfe auf die Achtundsechziger als fünfter Kolonne Moskaus – war das »groß« und fair? Sperber zeigte sich dabei, wie ihm der Freiburger Publizist Ludger Lütkehaus zu Recht entgegnete45, in »selbstgewählter Verblendung« als »Prototyp eines Renegaten«. War das nicht intellektueller Verrat, wenn Sperber erklärte: »Wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren«? Gefährlich werden mit dem Einsatz von Atomwaffen? Die um ein Mehrfaches grausamer sind als die von Hiroshima und Nagasaki? Sperber heizte emotional an, statt Gebrauch von seiner Vernunft zu machen.

Verrat liegt auch vor, wenn der einst enge Weggefährte und Freund Dutschkes Bernd Rabehl, Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, sich in einem Interview mit der NPD-Zeitung »Deutsche Stimme« zur NPD und zu deren völkisch-nationalistischen Gedanken bekennt.46 Oder schlimmer Verrat ist es auch, wenn Horst Mahler, einst als irrender leninistischer Kader ideologischer Scharfmacher und danach Mitbegründer der RAF, überwechselt auf den rechten Außenrand und Vordenker der »Freien Kameradschaften« und der NPD sowie deren Anwalt wird.

Noch immer hat das Wort »Verrat« einen scharfen Beiklang. Es dient als Totschlagvokabel. Mit einem Wort ist scheinbar alles gesagt. So stellen heute Neonazis wieder »Verräter-Listen« ins Netz. Und noch immer sieht selbst ein Demokrat wie Helmut Kohl, sozialisiert im rauhen Klima des Kalten Krieges an der Hand des groben Überlebensrasters vom Freund-Feind-Denken, gleichsam »Verrat« am Werk, wenn er im Vollzug der Mehrheitsmeinungsbildung demokratischer Kritik an seiner Person ausgesetzt ist. Aber ist es wirklich Verrat, wenn Kohl seinem langjährigen Arbeitsminister Norbert Blüm quasi »Verrat« vorwirft, nur weil der nicht akzeptierte, daß Kohl sein »Ehrenwort« gegenüber anonymen Spendern über Recht und Gesetz stellte? Oder wenn Kohl Richard von Weizsäcker mit dem Geruch des Verräters stigmatisiert, nur weil er als Bundespräsident – der er dank Kohls Hilfe geworden war (Kohl hatte sich seiner Nominierung nicht widersetzt) – das »System Kohl« des »Aussitzens« gegen Ende der achtziger Jahre kritisierte? Kohl über Weizsäcker im zweiten Band seiner »Erinnerungen«: »Richard von Weizsäcker hielt es für notwendig, mich aus dem Amt zu entfernen … Natürlich wagte er es nicht, dies in irgendeiner Form offen zu bekennen … Doch am wärmenden offenen Kamin im Bundespräsidialamt war er Ratgeber für diejenigen, denen es um meinen Sturz ging.«47 Ein normaler demokratischer Vorgang wurde stilisiert zur Verschwörung von »Umstürzlern«48 und von Kohl mit der Kapitelüberschrift versehen: »Gescheiterter Putsch«49. Natürlich waren Blüm und Weizsäcker keine Verräter. Sie hatten nur Gebrauch gemacht von ihrem Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen.

Es ist auch kein Verrat, wenn die »New York Times« im Dezember 2005 über gesetzeswidrige Abhöraktionen des US-Geheimdienstes NSA berichtet und Präsident George W. Bush daraufhin diese Enthüllung brandmarkt als »Verrat von Geheimnissen« und »schändliche Tat« der Presse.50 Oder wenn der Pentagon-Mitarbeiter Daniel Ellsberg 1971 die streng geheimen Seiten der »Pentagon Papers« – die intern dokumentierten, daß der Vietnamkrieg für die USA nicht mehr zu gewinnen war – der »New York Times« zuspielt. Ebensowenig wie 1963 der die »Spiegel«-Affäre auslösende Bericht über das »Fallex«-Manöver ein – so Adenauer damals – »Abgrund von Landesverrat« gewesen ist. Im Gegenteil: Die Realisierung der Pressefreiheit durch Veröffentlichung von tatsächlichen oder angeblichen »Geheimnissen« dient in der Regel der Stärkung und Bewahrung der Demokratie. Das gilt auch heute: Es sei, erklärt zum Beispiel der US-Ökonom Daniel Ellsberg, Preisträger des alternativen Nobelpreises 2006, angesichts der US-Pläne hinsichtlich des Einsatzes sogenannter bunkerbrechender A-Bomben, »höchste Zeit, Verrat zu begehen«, und er fordert US-Beamte und Militärs auf, Geheimdokumente zu »verraten«.51

Fälle dieser Art gab und gibt es zahlreiche und wird es immer wieder geben: Eine oder mehrere Personen, eine Behörde, ein Geheimdienst oder eine Regierung brechen Recht aus Fehleinschätzung, Arroganz der Macht, purem Egoismus oder um eines vermeintlich höheren Gutes willen und stigmatisieren den zum Verräter, der Licht ins Dunkel zu bringen versucht. Um Zeit zu gewinnen und fürs erste Entlastung zu schaffen, erst einmal der Gegenangriff. Und dabei das generelle Argumentationsmuster: Schuld hat natürlich der Bote, der Überbringer der schlechten Nachricht, der, der sie mitteilt sowie die Medien, die sie verbreiten, nicht ihr Verursacher. Der oder das Verurteilenswerte sind – so zum Beispiel Martin Walser – nicht die Brandstifter von Hoyerswerda, sondern Fernsehreporter, die solche Bilder zeigen. Oder schädlicher fürs Ansehen als der Skinhead in Brandenburg oder Berlin-Lichtenhagen ist nach Meinung von Innenminister Jörg Schönbohm derjenige, der wie Karsten-Uwe Heye hinweist auf No-go-Areas für Farbige und Türken. Ein Muster, dessen sich heute reflexhaft viele bedienen.52 Dergleichen Spiele mit einer urdemokratischen Institution wie der Presse sind heute gang und gäbe. Abgeladen wird beim vermeintlich Schwächsten: den Medien. Festzuhalten aber bleibt: Am jeweiligen Fall und dem Inhalt der Ansichten entscheidet sich, ob der Verrat begeht, der seine Überzeugungen ändert, oder ob der es tut, der an ihnen festhält. Gleichwohl: Es gibt Grenzen für Gedanken-, Einstellungs- und Gewissenswechsel. Nicht alles ist erlaubt: Ständiger Wechsel – frei von jeder Gesinnung und Moral – riecht nach Opportunismus und Verrat.

Den »Verrat der Intellektuellen« hat Julien Benda in seinem gleichnamigen Schlüsselessay in der ersten Ausgabe von 1927 zunächst für die politische Rechte beschrieben, dann nach den Verbrechen Stalins in der Neuauflage von 1958 auch für die dogmatische Linke. Die größten intellektuellen Verratsformen des 20. Jahrhunderts waren Nationalsozialismus und Faschismus sowie die Regime des dogmatischen totalitären Staatskommunismus. Formen dieses Verrates begeht, so einer der zentralen Sätze Bendas, wer nicht anerkennt, »daß das in der Erklärung der Menschenrechte oder in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergelegte politische Ideal in eminenter Weise ein Ideal ist«53. Das heißt, wer die Ideen von Aufklärung und Französischer Revolution – die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sowie die »Achtung vor der Gerechtigkeit, vor der Person und vor der Wahrheit«54 – geringschätzt oder verachtet. Benda fährt an späterer Stelle fort: Verrat ist »die Verherrlichung« des »totalitären Staates, in dem definitionsgemäß der Begriff der Person und a fortiori der ihrer Rechte verschwindet; des Staates, dessen Seele jene Maxime ausdrückt: Du bist nichts, dein Volk ist alles … Im übrigen ist nicht zu bestreiten, daß die Abschaffung der Rechte des Individuums einen Staat erheblich stärkt. Fragt sich nur, ob es Aufgabe des Intellektuellen ist, einen Staat zu stärken.«55 Das heißt: Diktaturen sind leichter zu »regieren«. Die Anweisung von oben seitens des Diktators – einer Person und/oder einer Partei – ist nach unten hin auszuführen bei Strafe im Nichtbefolgungsfalle. Macht zu begrenzen dagegen ist Kernelement der Demokratie. John Lockes und Montesquieus Teilung der Gewalten, Meinungsfreiheit, Vielfalt der Parteien, das Kontrollsystem der »checks and balances«, Delegation von Macht auf Zeit, periodische Wahlen, Gewerkschaften und Verbände – all diese Vorkehrungen haben den einen Sinn, so führt Johano Strasser Bendas Gedanken weiter, nämlich »den Zugriff der Mächtigen zu limitieren und damit auch die Folgen von Irrtümern und Fehlentscheidungen möglichst gering zu halten«.56 Durch Interessen- und Meinungsstreit zustande gekommene demokratische Entscheidungen erlauben im Widerspruchsfalle (entsprechende finanzielle Ausstattung vorausgesetzt) noch das Anrufen von Gerichten. Im Unterschied zur Diktatur impliziert die Demokratie jedoch auch, so Benda, »gerade kraft ihres Oktroi der individuellen Freiheiten ein Moment der Unordnung«57. Montesquieu hat es so auf die Pointe gebracht: »Wenn Sie in einem Staat keinerlei Lärm von Streitigkeiten vernehmen, so können Sie sicher sein, daß es in ihm keine Freiheit gibt.«58 Eine freie Regierung in einem freien Land dagegen ist »eine ständig in Auseinandersetzungen verwickelte«. Oder, so illustriert selbst Rüdiger Safranski in seinem in der konservativen Programmschrift »Die selbstbewußte Nation« abgedruckten Essay »Destruktion und Lust. Über die Wiederkehr des Bösen« den Sachverhalt: Sie bedarf der »Bürgergesinnung«, denn »Demokratie als Lebensform ist stets gefährdet, weil sie auf schwankendem Grund errichtet werden muß, auf Pluralität, Selbstrelativierung, Kompromiß, wechselseitiger Anerkennung.«59 Daß sie deshalb »Ausnahme« und »Glücksfall« sei, wie Safranski gleichzeitig aussagt, verrät mangelndes Vertrauen in sie. Gleichwohl: Montesquieu, Benda und Strasser lesen jenen in der Bundesrepublik die Leviten, die mit der offenen Gesellschaft auf Kriegsfuß standen und stehen oder sie mißverstehen: wie zum Beispiel der konservative ZDF-Journalist und Theologe Peter Hahne, der in seinem Bestseller »Schluß mit lustig: Das Ende der Spaßgesellschaft« lauthals »unsere feige Kompromißgesellschaft« beklagt.60

Da es im menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben Gegensätze und Widersprüche gibt, die entweder nicht oder nicht ohne weiteres auflösbar sind, müssen sie miteinander vermittelt werden. Zum Beispiel sind die Bedürfnisse des Staates und die Freiheiten des Einzelnen oder Freiheit und Chancengleichheit unter dem Leitbegriff sozialer Gerechtigkeit aufeinander zu beziehen und auszugleichen. Dieses Gegeneinander der unterschiedlichsten Interessen erzeugt in den offenen Gesellschaften der Demokratien Montesquieus »Lärm der Streitigkeiten«61.

Der Berliner Medientheoretiker Norbert Bolz findet für diesen Streit, für diese wechselseitige Einschränkung der Ansprüche adäquate Worte: »Anspruch steht gegen Anspruch, Theorie gegen Theorie. Wer hier Gewißheit behauptet, weckt Zweifel. Wer dagegen zweifelt, schafft Vertrauen. Modern entsteht Freiheit nämlich gerade durch den Widerstreit der Dogmen, durch die wechselseitige Einschränkung der Ansprüche.«62

Streit, Konflikt, Nichtübereinstimmung sind Alltag und Norm rechtsstaatlicher Demokratien. Die normative Grundlage demokratischer, freiheitlicher Ordnung ist, so räumt der konservative Publizist Richard Herzinger in seinem Essay »Republik ohne Mitte« selbstredend ein, der »geregelte, diskursiv und gewaltfrei ausgetragene Konflikt«63. Für Herzinger – in den 7Oer Jahren aktives Mitglied der trotzkistischen Gruppe Internationaler Marxisten – hat die offene westliche Demokratie jedoch einen prinzipiellen Mangel: Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie kein verbindliches Werte- und Sinnzentrum mehr hat. Dort, wo man das »Kraftzentrum« vermutet, von dem aus sich »die politisch-moralische Einheit der Gesellschaft steuern lasse, befindet sich – nichts«64. Ihr »Identitätskern«, ihre Mitte ist »leer«. Denn alle Werte können in ihr »in Frage gestellt werden«65. Aber ist es so, daß die »Mitte«, das »Kraftzentrum«, wirklich ganz »leer« – ohne ideellen und moralischen Kern – ist? Gibt Herzinger – der sonst das Alphabet der Verwestlichung und der repräsentativen Demokratie zu buchstabieren versteht – nicht ohne Not Terrain frei? Gibt es da nicht noch ein Lebenselixier? Die Grundwerte der Verfassung zum Beispiel? Von ihnen oder von Verfassungspatriotismus spricht Herzinger, heute politischer Redakteur der »Welt am Sonntag«, nicht.

Es ist nicht Aufgabe des Intellektuellen, den Staat zu stärken, so führt der Soziologe Ralf Dahrendorf in seiner neuen Studie »Versuchungen der Unfreiheit« die Argumentation Julien Bendas weiter. Es ist nicht seine Aufgabe, sich zum Lautsprecher der jeweils herrschenden Macht zu machen. Doch die Versuchungen dazu sind zeitlos. Zum Beispiel durch Menschlich-Allzumenschliches wie Opportunismus, Karriereehrgeiz. Oder auch indem Ichbehauptung die Form der unkontrollierten Eigenliebe und bloßen Eitelkeit annimmt. Wie in Jerzy Lecs Aphorismus: »Eigenliebe endet nicht selten mit Verrat.« Oder wie in Caesars klugem Spruch: »Im Menschen sitzt ein Verräter, der ›Eitelkeit‹ heißt und die Geheimnisse gegen Schmeichelei preisgibt.« Die unterschiedlichsten Gründe sind denkbar: Nicht nur Eigenliebe, Eitelkeit und Schmeichelei – zählt der Germanist Gert Mattenklott, selbst ein »Gesinnungspendler«, einige auf –, sondern auch Liebe, Eifersucht, Neid, Geldgier, Rachsucht sowie »Feigheit, Angst oder eine beliebige Vorteilsnahme«.66 Verräterische Anpassung an jeweils herrschende Macht wird jedoch nicht nur begünstigt durch Eitelkeit und Schmeichelei Wortmächtiger, sondern auch durch das bloße und blinde Verlangen nach »Bindung und Führung«. Man will geführt, Probleme sollen aus der Hand genommen werden, sei es durch Personen, sei es durch Religionen oder Ideologien. Im »Dritten Reich« wurden Begriffe wie »Nation«, »Volksgemeinschaft«, »Rasse« und »Führer« ideologisch und quasireligiös verklärt. Zum Beispiel auch in Martin Heideggers Rektoratsrede vom 27. Mai 193367 oder in Heideggers programmatischem Satz aus dem »Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens ›Der Alemanne‹«: »Die gesamte deutsche Wirklichkeit ist durch den nationalsozialistischen Staat verändert worden, mit dem Ergebnis, daß unsere ganze vergangene Weise des Verstehens und Denkens ebenfalls anders werden muß.« Eindeutiger läßt sich die Selbstaufgabe des autonomen Subjekts nicht formulieren. Der Philosoph des sich angeblich schicksalshaft entbergenden Seins – am 1. Mai 1933 war er der NSDAP beigetreten mit der Mitgliedsnummer 3 125 894 und ihr bis zum Kriegsende treu geblieben68 – ließ Anfang November 1933 in der »Freiburger Studentenzeitung« keine Zweifel an seiner Bewunderung und schicksalshaften Ergebenheit an den »Führer« Adolf Hitler aufkommen: »Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung. Heil Hitler! Martin Heidegger, Rektor.«69 Was ist das anderes als Selbstaufgabe autonomer intellektueller Existenz? Hat Heidegger nicht – wie Victor Farias in seiner seriösen Studie »Heidegger und der Nationalsozialismus« und der Freiburger Historiker Hugo Ott in seinem ebenso überzeugenden Aufsatz »Martin Heidegger als Rektor …«70 beschrieben haben – wesentlich dazu beigetragen, die ideellen Lebensmaximen des Bildungsbürgertums in Übereinstimmung zu bringen mit der völkisch-nationalen NS-Ideologie? Auch in seiner Vorlesung im Sommersemester 1934 »Natur – Geschichte – Staat«, die Heidegger nach seinem Rücktritt vom Rektorat hielt und deren Nachschrift Victor Farias71 dokumentiert hat, zeichnet Heidegger das Muster des völkischen Aufbruchs weiter und formuliert mit der Parole »Wir sind das Volk« die Aufgabe einer »wurzeltiefen Umerziehung« zu einem »großen Wir«. Erst indem wir »uns aufschließen« und »öffnen« diesem »Geschehnis«, dieser »Eigentlichkeit«, haben wir »Geschichte«. Und Heidegger führt als Beispiel an: Wenn ein Flugzeug den Führer zu Mussolini bringt, dann geschieht »Geschichte«. Andererseits gilt: »Neger … haben keine Geschichte.« Heidegger betrieb Hermeneutik des Seins als Verklärung des Nationalsozialismus und des»Dritten Reiches«: »Unser Sein« »erlangt« »einen anderen Rang, eine andere Schärfe und Klarheit und Einmaligkeit« erst dann, wenn es der »Bestimmung« und dem »Auftrag des Seins« folgt, der »Überantwortung« an die »Unbedingtheit des Dienstes« im NS-»Staat«. Auf Heideggers Philosophie fällt ein brauner Schatten. Emmanuel Fay sieht in seiner Studie »Heideggers Einführung des Nazismus in die Philosophie«72 Heidegger sogar als Chefideologen der Nationalsozialisten, als ›Meisterdenker‹ Hitlers: »Ganz bewußt« habe Heidegger »die Grundlagen des Nazismus und Hitlerismus in die Philosophie« eingeführt, sie philosophisch eingefärbt und damit adaptiert, nämlich die Ideologie des Völkischen, Blut- und Boden-Metaphysik, den Primat des Deutschen und sein Recht auf größeren Lebensraum sowie den Führerkult. Heidegger legte seine ontologischen Begriffe »das Sein« und »das Seiende« als »Volk« und »Staat« an und aus – eben des Nationalsozialismus. Und weil der Nationalsozialismus als Antibolschewismus historisch im Recht gewesen sei, so springt schließlich Ernst Nolte seinem Lehrer Heidegger bei, befinde sich auch der »Faschist« Heidegger historisch nicht im Unrecht.73

Verrat der Intellektuellen

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