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1. Ethnische Homogenität und übersteigertes Selbstwertgefühl

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Der Primat des Deutschen nahm im 19. Jahrhundert die Form des nationalistischen deutschen Sonderwegs an – wie ihn zunächst Hans-Ulrich Wehler in seiner Studie »Nationalsozialismus« skizziert, und dann Volker Ulrich in »Die nervöse Großmacht 1871-1918« weiter ausführt für die Zeit nach der Reichsgründung.1 Statt sich dem Beispiel der westlichen Demokratien – der USA, Frankreichs, Großbritanniens oder der Schweiz – anzuschließen und im Geist der Aufklärung auf eine offene, freiheitliche, Toleranz praktizierende Gesellschaftsordnung zu drängen, konzentrierte sich das von Napoleon besetzte, gedemütigte Deutschland auf das, was es für das unverwechselbar Eigene hielt und selbstversessen verklärte. Das Deutsche wurde nach 1805 zum Antidot gegen die welsche Besatzungsmacht. Begriffe wie deutsche Nation, deutsches Volk, germanische Rasse wurden verabsolutiert. Auf diesem seit der Romantik von vielen betretenen deutschen Sonderweg galt ethnische Homogenität, das heißt rassische, völkische ›Reinheit‹, nun als unverzichtbar. Sie wurde zur Grundvorstellung »deutscher Leitkultur«. Das faszinierende kosmopolitische Weltbild zum Beispiel Lessings sowie der deutschen Klassiker Goethe und Schiller mit ihrer Abwehr jeglicher Xenophobie vermochte à la longue nichts dagegen auszurichten. Im Kaiserreich Wilhelms II. explodierte das deutsche Selbstwertgefühl. Es setzte sich buchstäblich aufs hohe Roß: Wilhelm II. und Bismarck nahmen symbolisch Platz auf zahllosen Reiterdenkmälern. Nach der Reichsgründung 1871 vollzog sich unter den geistigen Eliten – Professoren, Journalisten, Funktionseliten – ein Meinungswechsel: hin von der bis dahin nicht unüblichen – weil auch vom einflußreichen Lebensphilosophen Nietzsche artikulierten – Gesellschafts- und Staatskritik zu Nationalismus, Deutschtümelei und Hurrapatriotismus. Auch der neue Mittelstand, der sich in der wild wuchernden Industriegesellschaft ständig vom sozialen Abstieg bedroht glaubte, verfiel der – so der Publizist und Historiker Johannes Willms – »Deutschen Krankheit« kleinbürgerlicher Fremdenfeindlichkeit, einer Übersteigerung des Selbstwertgefühls aus mangelndem weltbürgerlichem Bewußtsein. In seinem satirischen Roman »Im Schlaraffenland« datierte Heinrich Mann die »deutsche Krankheit«, die neue wilhelminische Mentalität aus Untertanengesinnung und Obrigkeitshörigkeit auf das Jahr 1890, das Jahr der Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II.: »Damals hatten alle einem Bedürfnis der Epoche nachgegeben, sie waren ihren freisinnigen Prinzipalen ein Stückchen Weges nach rechts gefolgt und bekannten sich seither zum Regierungsliberalismus und Hurrapatriotismus.«2 Ein weiterer Beweggrund dieses Meinungswechsels: Durch Industrialisierung und Reichsgründung hatte das zuvor agrarische Deutschland sich entwickelt zur ökonomischen Weltmacht und sogar England und Frankreich überholt, das heißt: Es wollte nun, wovon es glaubte, daß es ihm zustünde: einen »Platz an der Sonne«. Das Mittel dazu: expansive Kolonialund Flottenpolitik – begleitet von einer zunehmend aggressiveren Präsentation des Deutschtums. Die intellektuellen Eliten wußten diesen Nationalismus zu steigern. Der mediokre Kaiser mit seiner Großmannssucht3 wurde idolisiert – etwa von Detlef von Liliencron, der einen Ehrensold von ihm erhielt: »Der Kaiser ist mir ein Abglanz der Heiligkeit, für ihn und mein deutsches Vaterland gebe ich den letzten Atemzug.«4

Nicht zufällig wurde zum Beispiel ein nationalistisches Traktat wie Julius Langbehn‘s »Rembrandt als Erzieher« in Berlin und im Deutschen Reich des Jahres 1890 ein Bestseller: Es lag ganz im geistigen Trend der Zeit, wenn Langbehn Demokratie und Sozialismus als veraltete, typisch westliche und welsche Lebensformen abwertete: »Der französischpolitische Geist ist im Niedersteigen, der deutschpolitische Geist im Aufsteigen.«5 Der antisemitische Kulturkritiker Langbehn prognostizierte: »Der Deutsche beherrscht also, als Aristokrat, bereits Europa; und … es wird vielleicht nicht lange dauern, bis er als Mensch die Welt beherrscht.«6 Indem Langbehn für den völkischen Gedanken warb und Deutschtum über alles stellte, warnte er zugleich vor den Juden: »Dem Streben der heutigen Juden nach geistiger und materieller Herrschaft läßt sich ein einfaches Wort entgegenhalten: Deutschland für die Deutschen.«7 Und er wurde aggressiv: »Die Jugend gegen die Juden.«8 Langbehn wurde zur Chiffre für völkische Erneuerung durch Antisemitismus – wie etliche andere, so auch der Göttinger Orientalistikprofessor Paul de Lagarde, dessen »Deutsche Schriften« nicht nur Hitler und Rosenberg akribisch genau studierten.

Der Deutsche Sonderweg – der später, in den Zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, in der Weimarer Republik, in die »Konservative Revolution« und deren Personal einmündete – wurde vom rechten intellektuellen Mainstream im wilhelminischen Deutschland fortgeführt, von der »Deutschen Bewegung«, den »Alldeutschen« über die Frontkämpfergeneration des Ersten Weltkrieges9 bis hin zu Thomas Manns »Aufzeichnungen im Kriege« (1915) sowie seinen – in fundamentalen Irrtümern befangenen – »Betrachtungen eines Unpolitischen« (1918). Den »Militarismus« verklärte Thomas Mann darin zu einer »Erscheinungsform deutscher Moralität«. Unterwegs auf dem deutschen Sonderweg, hat Thomas Mann in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« sich die Ressentiments des nationalistischen Stammtischs peinlich »geschwätzig« (Harpprecht) zu eigen gemacht. Und wie die de Lagarde, Langbehn, Oswald Spengler et alii geistiges Gift gesprüht gegen den »Unfug« der »Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands«.10

Die von Aufklärung, Humanismus, Pazifismus und Vernunft geprägten Ressourcen und Reserven waren im Deutschen Reich zu schwach, um der Militarisierung des Denkens durch rassistische und nationale Superioritätsphantasmen etwas entgegenzusetzen. Krieg, lange schon eine ganz natürliche Option, wurde in der ersten Dekade des Zwanzigsten Jahrhunderts herbeigesehnt als metaphyisches Reinigungsgewitter. Nicht nur Deutschland, alle europäischen Großmächte wollten es nun mithilfe der Waffen wissen. Vernunft und Denken waren erstarrt. Nicht nur im Deutschen Reich, aber doch besonders hier. In Deutschland manifestierte sich der massive Verrat der Intellektuellen zum Beispiel am 4. Oktober 1914 in der Erklärung »An die Kulturwelt« von 93 Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern. Sie glaubten ihr Land gegen den Vorwurf des Angriffskrieges verteidigen zu müssen und deklarierten eine enge Symbiose von deutscher Kultur und Militarismus: »Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur schon längst vom Erdboden verschwunden.«11 Viele fühlten sich durch dieses Manifest in ihrer Kriegseuphorie bestätigt. Nur wenige waren es, die sich dem kriegerisch erhitzten Nationalempfinden entzogen und besonnen Einspruch erhoben: In Frankreich Romain Rolland zum Beispiel. Seine Maxime: »über den Parteien« (»au-dessus de la melée«) stehen. Um sich vor Anfeindungen zu schützen, hielt er sich während der Kriegsjahre wie die Deutschen Hermann Hesse und René Schickele in der Schweiz auf. Den vernehmbarsten Einspruch erhob in Deutschland Heinrich Mann. Sein Roman »Der Untertan«, Anfang 1914 veröffentlicht, erregte Widerspruch und Empörung. Heinrich Mann widersetzte sich dem chauvinistischen Zeitgeist und demontierte dessen Doppelmoral. Als das Kaiserreich 1918 an seinen eigenen Widersprüchen zerbrach und besiegt wurde, wurde von Mitte-rechts mit der Dolchstoßlegende eine neue Verschwörungstheorie etabliert: Sozialdemokraten, Linke, Pazifisten und Juden wurden für die Niederlage verantwortlich gemacht. Beseitigung der – undeutschen, linken, jüdischen – Weimarer Republik sowie Revision des Versailler Vertrages lauteten nun die politischen Parolen der Rechten. Die mit ihrer Edelfeder Moeller van den Bruck während der Weimarer Republik intellektuell einflußreichste Gruppe der Jungkonservativen sowie Nationalrevolutionäre, bündische Jugend und Landvolk heizten ein chauvinistisches Klima an, das der »Bewegung« der Nationalsozialisten zuarbeitete. Der teutonische Rassismus samt seiner ideologischen Bausteine gipfelte im »Dritten Reich« schließlich im »Wieder Krieg« – des Zweiten Weltkrieges. Wieder Krieg. Was sonst? Wieder war das Resultat eine Weltkatastrophe, diesmal die schlimmste und folgenreichste: Sie mündete im historisch einmaligen – generalstabsmäßig organisierten, fabrikmäßig ausgeführten – Genozid an Juden und anderen Minderheiten. Der Versuch – zum Beispiel von Karlheinz Weismann in seiner Fortschreibung von Armin Mohlers »Die konservative Revolution« (6. Auflage 2005) – heute die Konservative Revolution vom Nationalsozialismus abzugrenzen, wird in der offenkundigen Absicht unternommen, erzkonservative Denkmuster vom Stigma des Nationalsozialismus zu befreien und neu zu aktualisieren. Beide indes, Konservative Revolution und Nationalsozialismus, lassen sich aber nicht voneinander trennen. Ganz zu Recht weist Felix J. Krömer in der »FAZ«12 daraufhin, daß der Nationalsozialismus die »Billigversion« der Konservativen Revolution darstellt, seine, wie Ernst Jünger es formuliert hat, »Münchner Schule«.

Die Abkehr vom konservativen deutschen Sonderweg – dem des völkisch-deutschnationalen, nationalsozialistischen Rassismus, Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus – erzwangen nach der bedingungslosen Kapitulation des »Dritten Reiches« am 8. Mai 1945 die Westalliierten. In Westdeutschland bedeutete das Wiederbelebung der mindestens zweimal – 1848 und am 30. Januar 1933 nach 14 Jahren Weimarer Demokratie – mißglückten Demokratie. Dabei war die Etablierung demokratischer Normalität in der Bundesrepublik immer auch – und ist es bis heute – eine Antwort auf die Frage: Wie wird in der Erinnerung mit der Vergangenheit – »erinnerungspolitisch« – umgegangen, wie also mit dem Holocaust? Und welche Rolle spielen dabei Begriffe wie Nation, ethnische Homogenität, deutsche Leitkultur? Werden sie überhöht oder den demokratisch-republikanischen Verfassungswerten untergeordnet? Hinter diesen Fragen verbirgt sich auch die Besorgnis, daß die »deutsche Krankheit« (Willms) der Selbstüberschätzung und Xenophobie noch immer nicht völlig aus der Welt ist. Wie schon angedeutet: Mit Wende und Vereinigung 1989/90 erhielt sie einen neuen Impuls. Als gesteigerte Fremdenfeindlichkeit machte sie sich vor allem im Ostteil wieder bemerkbar, belebte sich danach erneut auch in der alten Bundesrepublik. Soziologen wie Wilhelm Heitmeyer eruieren seit 2002 die traurige Virulenz des altbekannten fatalen Verhaltensmusters: Angst vor sozialem Abstieg in Zeiten von Globalisierung und Rationalisierung verstärkt die Ablehnung »fremder Kulturen« – das gilt nicht nur für die Unter-, sondern zunehmend auch für die Mittelschicht. Diese Abwehr des Fremden oder Anderen wird begleitet von geistiger Militarisierung und gesteigerter Gewaltbereitschaft. Und zu dieser geistigen Nahrung trug und trägt bei der Schriftsteller Ernst Jünger, der in den achtziger und neunziger Jahren erneut zu einer Ikone der Rechten in der Bundesrepublik wurde. Der notorische Antidemokrat feierte ein »Comeback« als Vordenker der konservativen Wende, eine Tatsache, die sein Biograph Helmuth Kiesel herunterzuspielen versuchte.13

Verrat der Intellektuellen

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