Читать книгу Verrat der Intellektuellen - Stephan Reinhardt - Страница 21
10. Demokratische Offenheit für Sinnangebote wird mißverstanden als orientie rungslose Beliebigkeit: Joachim Fest, Arnulf Baring et alii
ОглавлениеGedankliche Schulterschlüsse mit Ernst Jünger vollzogen und vollziehen nicht nur Ernst Nolte, die Autoren der »Jungen Freiheit« oder Botho Strauß und Karl Heinz Bohrer, sondern auch einflußreiche konservative Historiker und Publizisten wie Joachim Fest und Arnulf Baring. Die prinzipielle Offenheit der westlichen Demokratie für gewaltfreie Sinnangebote und damit die Praktizierung von Toleranz wird von ihnen mißverstanden als orientierungslose Beliebigkeit. Gleichgültigkeit gegenüber der Sinnfrage, so schreibt der einstige »FAZ«-Herausgeber Joachim Fest 1993 in seinem Essay »Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft«, sei das Krebsübel der Demokratie. Und warum? »… es ist der große, gleichsam angeborene Mangel liberaler Gesellschaften, daß sie keinen greifbaren, die Leiden und Ängste der Menschen rechtfertigenden Lebenssinn vermitteln. Auch halten sie keinen mobilisierenden Zukunftsprospekt bereit und werfen den Einzelnen auf lediglich das zurück, was er als individuelle Erfüllung begreift. Jene Postmoderne, die das Lebensgefühl der fortgeschrittenen Industriegesellschaften ausmacht, ist im Grunde nichts anderes als der wiewohl verzerrte Ausdruck der auf den eigenen Begriff gekommenen, ihm jedenfalls nahegerückten offenen Gesellschaft: eine Welt, in der auch die moralischen Horizonte offen sind, wo alles geht und das heißt zugleich, nichts wirklich wichtig ist; in der … eine Generation von Erben mit dem Vermächtnis mühsam erworbener Prinzipien ein fröhlich-verzweifeltes Feuerwerk veranstaltet, dessen Glut die Reichtümer wie die Wahrheiten dahinschmelzen läßt.«1 Fests und Barings altjüngersche, urkonservative Dauerklage: Allgemein verbindliche Normen und Werte schmölzen angeblich dahin, Freiheit werde im Namen der Freiheit überdehnt.
Ausgeblendet wird, daß religiöse, kulturelle Freiheit nicht Relativität der Werte bedeutet. Sie bildet vielmehr einerseits den »Rahmen«, so der Freiburger Politologe Dieter Oberndörfer2 für die »von den Bürgern immer neu zu führende Auseinandersetzung über die maßgeblichen Orientierungen ihres Handelns«3; andererseits sind Rahmen und Inhalte dieser ständigen Auseinandersetzung niedergelegt in den Artikeln der Verfassung, im »normativen Fundament der Republiken«4. Die Verfassung ist Seele, Herz und Kopf der Bundesrepublik. Das Bestehen auf alle tragender und alles einender Ganzheit sowie verbindlicher metaphysischer Sinnstiftung dagegen ist dem Geist der Moderne (und der Deklaration der Menschenrechte sowie der – demokratischen – Verfassung) entgegengesetzt: widerspricht der Toleranz und Akzeptanz des Anderen, des Unterschiedlichen, der Differenz, dem Aushalten von nicht auflösbaren Widersprüchen, dem Klima des Zweifelnkönnens und -sollens. Fests und Barings konservative Kulturkritik ignoriert, daß Gegenstand der Verfassung durchaus »die Reichtümer wie die Wahrheiten« (Dieter Oberndörfer) menschlichen Zusammenlebens sind. Insofern liegt dort, in der Formulierung der Grund- und Menschenrechte, das ideelle Zentrum, das den Einzelnen und die Gesellschaft sinnstiftend zusammenschließt. Dafür fehlt Baring, Fest, Herzinger et alii offenbar jeder Sinn. Oder? Sie blenden aus, daß »Verfassungspatriotismus«, das Praktizieren zum Beispiel des der Aufklärung verpflichteten Menschenrechtskataloges mitsamt seines aufklärerischen Toleranzgebotes, der bessere Patriotismus ist. Besser und humaner allemal als jener, der mit dem andere ausgrenzenden Partikularsystem »deutsche Leitkultur« den (zu Recht) gescheiterten deutschen Sonderweg noch immer in irgendwelchen verdrucksten Restformen im Marschgepäck trägt. Tun das nur noch wenige oder doch eher noch etliche? Und vielleicht noch immer viel zu viele? Susan Sontag hat noch kurz vor ihrem Tod am 28. Dezember 20045 jene, die sich aufgrund ihres Andere und Anderes einschließenden Wahrnehmungsvermögens als »Unruhestifter, als Stimmen des Gewissens« zu erkennen geben, aufgefordert, denen entgegenzutreten, »deren Vorstellung von Erziehung und Kultur auf die Einimpfung von Ideen (›Idealen‹) wie etwa der Liebe zur Nation oder zum eigenen Stamm hinausläuft«. Davon gibt es viele zwischen Flensburg und Freiburg, zwischen Kamenz und Koblenz. Laut und unentwegt rufen sie nach »deutscher Leitkultur«, ohne zu verstehen, daß bereits die Leitwerte der Verfassung die beste kulturelle Anleitung und Leitkultur bilden. Und daß eben »deutsche Leitkultur« »dem Wesen von Kultur widerspricht« (Salomon Korn)6, weil Kultur bedeutet: Vielfalt, Differenz, Pluralismus, Akzeptanz des Fremden und Anderen, Toleranz. Leitkultur indes läuft auf Verpflichtung zur Assimilation und Integration hinaus, Kultur aber bedeutet Anerkennen des Anderen. (Wobei reziprok die Akzeptanz von Verfassung und Sprache der wiederum Anderen selbstverständlich ist.)