Читать книгу Verrat der Intellektuellen - Stephan Reinhardt - Страница 9
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Seit einiger Zeit wird die Legende gepflegt, daß spätestens seit 1998, als Rot-Grün mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer eine neue Regierung stellte, die Achtundsechziger die Geschicke und das geistige Klima der Bundesrepublik bestimmten und prägten. Die Linken, heißt es auf der Rechten, hätten schon lange das Sagen. »Jetzt«, erklärte ganz in diesem Sinne im März 1997 enttäuscht der Schriftsteller Martin Walser in seinem Arbeitszimmer am Ufer des Bodensees drei angereisten Redakteuren der »Frankfurter Rundschau«: »Jetzt sind die 68er die Mächtigen. Das sind Linke.« Und, fügte er hinzu, die »sind hemmungsloser, rücksichtsloser, dogmatischer, polemischer als die früheren«1. Das dürfte, von heute aus betrachtet, eine Übertreibung sein, mehr noch: Ein Irrtum. Denn in Wirklichkeit sind die deutschen Intellektuellen schon lange nicht mehr links. Etliche haben sich parallel zu ihrer Karriere ziemlich bereit- und geldwillig entweder dem Neoliberalismus verschrieben oder sind auf dem Vehikel konservativer Kulturkritik nach rechts geschwenkt, und der Mainstream läßt sich mittlerweile ohnehin den Wind von rechts in den Rücken blasen. Dabei kommt es zu merkwürdigen Konfusionen und Umwertungsanstrengungen. Da vergleicht und setzt nahezu gleich der Büchnerpreisträger Martin Mosebach in seiner Darmstädter Dankesrede am 28. Oktober 2007 Antoine de Saint-Just – einen der blutrünstigen Gefolgsmänner Robespierres in der Französischen Revolution – mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, der in seiner Posener Rede vom Oktober 1943 den Massenmord an den Juden rechtfertigte. Mosebachs reaktionäre Idee fixe: Französische Revolution und die ihr zugrundeliegende Aufklärung markierten einen Irrweg. Die Zeit vor der Aufklärung sei dagegen eine gute Zeit gewesen. Wer aber die »wechselseitigen Grausamkeiten« wie die im Französischen Bürgerkrieg, wendet der Historiker Heinrich August Winkler zu Recht ein, gleichsetzt mit dem rassischen Genocid der Nazis, begeht Geschichtsklitterung2. Und auf Mosebachs bizarr-reaktionärer Refeudalisierung setzt, dem von Fellows und Zeitgeist gefeaturten Büchner-Preisträger zur Seite springend, Alexander Gauland, Herausgeber der »Märkischen Allgemeinen«, im November 2007 in der »Welt« noch eins drauf: die Französische Revolution habe durch ihre »Verachtung von Traditionen und jahrhundertealter Erfahrung«, dekreditiert er, der ganzen Moderne ihre »intolerante, menschenverachtende Richtung« gegeben. Überhaupt: die Moderne sei ein einziger gräßlicher Irrweg, sichtbar heute in Bauhaus-Architektur, Regietheater, Genderstudy und abstrakten Bildern – sie sei eine, so auch der den Essay redaktionell verantwortende Redakteur »MS«, »potentiell terroristische Anmaßung«3. Geht es ideologisch verbiesteter und ästhetisch einfältiger? Oder ein halbes Jahr zuvor: im Mai 2007 erhielt ein leidenschaftlicher Antiaufklärer und hartnäckiger Jüngerianer wie Karl Heinz Bohrer einen Preis, der dem leidenschaftlichen Aufklärer und Antijüngerianer Heinrich Mann gewidmet ist. Oder vor Jahren, 2001, bedachte eine desorientierte Jury den gnadenlosen Lessing-Verächter Botho Strauß mit just dem Gotthold-Ephraim-Lessing-Preis. Verwirrter geht’s nimmer.
Da wir immer mit einem Fuß in der Vergangenheit stehen – sonst stünden wir nicht in der Gegenwart –, haben wir es auch immer mit dieser Vergangenheit zu tun. Oft nehmen wir sie gar nicht mehr wahr, dann wiederum haben wir es fast täglich mit ihr zu tun. Diese Vergangenheitsanteile kommen uns dann wie ein Bleigerüst vor. Die Zeitungen sowie Fernseh- und Rundfunkprogramme sind voll von dem, was man das konservative ideologische Grundgerüst Deutschlands, seinen unter- und oberirdischen konservativen Mainstream nennen könnte: Wert gelegt wird wie eh und je auf ethnische Homogenität, auf nationale, also deutschnationale Verhaftung und, was auch immer das sei, auf deutsche Identität, »Leitkultur«, deutsches Selbstbewußtsein.
Ebendas lebte mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem Scheitern der DDR Ende der achtziger Jahre sowie der Wiedervereinigung der deutschen Teilstaaten 1990 wieder auf. Auch wenn Helmut Kohl, um in diesem Umbruch die ihm in den Schoß gefallene Vereinigung nicht zu gefährden, das deutschnationale Bewußtsein etwa seines damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble europäisch dämpfte, das deutsche Selbstbewußtsein war damit keineswegs erloschen. Wie auch? Endlich war vereint, »was zusammengehörte« (Willy Brandt) – eine historische Zäsur, die freilich die »Linke« zu erheblichen Teilen auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Die fürchtete die Schäubles und Augsteins und war voller Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung. Dafür wurde sie heftig gescholten und auch bestraft. Das einst rote Sachsen zum Beispiel wählte nun tief schwarz. Mit der »Linken« verlor dabei auch die Figur des Intellektuellen an Zustimmung. Sie wurde abgewertet. Und spektakulär wechselten etliche der meinungsführenden Intellektuellen – Martin Walser, Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger – vom linken Meinungsspektrum hinüber zum rechten und rechtsliberalen. Begleitet wurden solche Seitenwechsel in den Feuilletons von der Behauptung, die bis dahin nützliche Unterscheidungshilfe Rechts-links habe ihre Berechtigung verloren. Der Frage sei hier ebenfalls nachgegangen: Hat sie das wirklich? Und gibt es neben völlig plausiblen Überzeugungswechseln aus besserer Einsicht nicht auch Formen intellektuellen Verrats – wie sie zum Beispiel der französische Sozialkritiker Julien Benda in seiner Streitschrift »Der Verrat der Intellektuellen« (deutsch 1978) beschrieben hat? Wenn sich etwa Geistesarbeiter zum Sprachrohr von Rassismus, Nationalismus und Partikularismus machen lassen oder den einzelnen Menschen opfern auf dem Altar eines Kollektivs – einer Nation, eines Staates, einer Region, einer Gruppe – oder einer zum Dogma erstarrten Geschichtsphilosophie? Auch Intellektuelle sind käuflich. Jahrzehntelang zum Beispiel richtete der Schriftsteller Bertolt Brecht sein Augenmerk auf den Mißbrauch des Intellekts durch jene, für die er den Neologismus »Tui« – in der Umkehrung »Tellekt-Uell-In« – prägte. »Tui« war für Brecht ein Journalist, Schriftsteller, Wissenschaftler, der seine Meinungen, Ansichten, Überzeugungen auf dem Meinungsmarkt verkaufte im Sinne des jeweils »gewünschten Ideologie«-Bedarfs4. Dergleichen – daß Geist nach Geld geht – weisen Intellektuelle gewöhnlich weit von sich. Was sie indes für freie Selbstwahl halten, ist oft Selbstpreisgabe, Resultat eingestandener oder uneingestandener Abhängigkeiten, Hierarchien und Machtverhältnisse. Sich dessen bewußt zu werden, daß eben auch Geist abhängig ist von Geld, also erhältlich, darauf verweist der französische Soziologe Pierre Bourdieu in »Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen« (1989) mit dem lapidaren Hinweis: »Es ist gerade die typische Illusion des Intellektuellen, zu glauben, er habe keine Illusionen und es gebe keine Grenzen: Er analysiert ständig die Grenzen der anderen und vergißt darüber seine eigene Grenze, eben die, zu glauben, es gäbe keine.«5 Aber nicht nur Geld setzt Grenzen. Lange Zeit, seit Beginn des 19. Jahrhunderts, hatte sich Deutschland eingegrenzt auf dem Sonderweg des Nationalismus, bis es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Gestalt des Teilstaates Bundesrepublik durch die westlichen Sieger endlich zum Anschluß gezwungen wurde an die Wertewelt der Demokratie und damit auch – rückwärtsgewandt – der Aufklärung. Die von Aufklärung, Humanismus, Pazifismus und Vernunft geprägten Ressourcen und Reserven waren im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik zu schwach, um der stetigen Militarisierung des Denkens durch rassistische und nationale Superioritätsphantasmen etwas entgegenzusetzen. Krieg, lange schon eine ganz natürliche Option, wurde in den zehner Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts herbeigesehnt als metaphyisches Reinigungsgewitter. Vernunft und Denken erstarrten dann unter der Herrschaft der Nationalsozialisten vollends im »Dritten Reich«, das Europa und Teile der Welt mit dem Zweiten Weltkrieg überzog.
Heute ist die Bundesrepublik, zu der 1990 die ehemalige DDR hinzukam, eine Demokratie. Und sie ist – noch immer Exportweltmeister und seit 2006/2007 in der Gunst einer neuen Konjunktur –, scheint es, frei von allen Superioritätsgefühlen. Aber sind die Anfechtungen der Vergangenheit wirklich ein für allemal passé? Die Überbetonung des Deutschnationalen. Wie ist das zu verstehen: Wenn zum Beispiel vermehrt im gesellschaftlichen Spektrum von Mitte-rechts deutsche Identität, »deutsche Leitkultur« gefordert werden oder eine »Erinnerungskultur«, die mit vielerlei rhetorischen Floskeln auf eine Relativierung oder Revision des »Dritten Reiches« und seiner Verbrechen hinausläuft? Wenn so der konservative Historiker Karlheinz Weißmann propagiert, daß an das wiedervereinte Deutschland real- und machtpolitisch der »Rückruf in Geschichte«6 ergangen sei? Oder wenn das Rassismus-Axiom von der ethnischen Homogenität in der bundesdeutschen Migrationspolitik immer wieder aufs neue bestätigt wird durch die fremdenfeindliche Haltung des »Das Boot ist voll«? Hier zeigt sich zum Beispiel, wenn unerbittlich auf dem Deutschnationalen und ethnischer Homogenität bestanden wird, daß die angeblich überflüssige Unterscheidungshilfe Rechts-links durchaus sinnvoll ist. Mitte-rechts argumentiert, geht es um Migration und Deutschnationales, hartleibig konservativ bis reaktionär. Wo es um das Andere, das Fremde, um Minderheiten geht, ist Links dagegen offener und sensibler – ebenso wie in Fragen sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. Wobei im Falle der größeren Parteien CDU/ CSU und SPD deren jeweils linke Flügel in Themen und Thesen einander immer ähnlicher geworden sind und miteinander konkurrieren – vor allem, nachdem die SPD mit »Agenda 2010« und Hartz IV ihr soziales Gewissen auf dem Altar der Marktwirtschaft leichtfertig in Frage stellt. Urteilsfähige Bürger und kritische Begleiter gesellschaftlicher, staatlicher Zustände und Umstände sind deshalb auch heute nicht überflüssig. Im Gegenteil, äußerst nützlich für die Qualität einer Demokratie. Man stelle sich zum Beispiel vor: Als der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger am 11. April 2007 in seiner Trauerrede den früheren Ministerpräsidenten Hans Filbinger wahrheitswidrig in die Nähe des Widerstands gegen Hitler rückte und bemerkte: »Filbinger war kein Nationalsozialist. Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebensowenig entziehen wie Millionen anderer … Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte«, und es hätte keinen Widerspruch gegeben – von Historikern und Intellektuellen und dem »Zentralrat der Juden in Deutschland«? Hätte sich dann ein Technokrat wie Oettinger, der rechten Redenschreibern aus dem Umkreis des 1979 von Filbinger selbst gegründeten stockkonservativen »Think Tanks« »Studienzentrum Weikersheim«7 aufgesessen war, für seinen »Fehler« entschuldigt?8 Auch in diesem Falle zeigte sich: Der innenpolitische Wert des »Zentralrats der Juden in Deutschland« für den Demokratie- und Minderheitenschutz in der Bundesrepublik ist ganz erheblich, seine Verlautbarungen zur Regierungspolitik Israels folgen anderen Interessen. Exemplarisch zum Ausdruck gebracht hat das der Vorsitzende des Zentralrats Paul Spiegel während seines Grußworts auf dem CDU-Parteitag in Frankfurt/Main am 17. Juni 2002: »Wir Juden fühlen uns wohl in diesem Land, das inzwischen für bereits zwei Generationen von Juden zu ihrem Geburtsland geworden ist. Allerdings hat die Shoah Folgen gezeitigt, denen wir Juden uns nicht mehr entziehen können. Wir nehmen nichts mehr als selbstverständlich hin … Als Minorität, die wir seit Jahrtausenden in der Diaspora sind, ist es kein Wunder, daß Juden eine Art sechsten Sinn, eine besondere Sensibilität für Abweichungen, selbst der kleinsten Art im anfälligen und zerbrechlichen Gefüge menschlichen Miteinanders entwickelt haben. Kritiker nennen diesen sechsten Sinn gern Hypersensibilität oder gar Hysterie. Wir sehen das anders. Diese besondere Wachsamkeit, die für uns zur zweiten Natur geworden ist, ja werden mußte, hat uns häufig das Leben gerettet. Seitdem sind wir gewarnt, seitdem wissen wir, daß wir stets auch das Undenkbare mitdenken müssen, wenn es um unsere Sicherheit und die anderer Minderheiten geht.«9 »Sensibilität für Abweichungen«, Mitgefühl für Andere, Fremde, für Minderheiten ist eine menschliche Grundtugend für jede und jeden, auch für Intellektuelle.