Читать книгу Lenesias letzte Reise - Stephanie Grün - Страница 10
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ОглавлениеIm November fing es zeitig an zu schneien; es wurde kalt, und unter dem Schnee verschwanden endgültig die wenigen Kastanien, die die Mädchen im Herbst übersehen hatten. Die Zeit des Wartens war zermürbend zäh. Sie verstrich ohne ein weiteres Wort über Deutschland zu verlieren. Das Ziel durfte nicht beim Namen genannt werden, und obwohl noch so fern und unerreichbar, war es dennoch in jeder Sekunde gedanklich präsent. Die Schwestern hatten ihre beiden kleinen Lackköfferchen hervorgeholt, mit denen sie nun ständig spielten und die sie mit sich herumtrugen. Ewa sortierte Wäsche, stopfte Socken, flickte Hemden. Das Reisefieber war ausgebrochen, dabei sollte der tägliche Routineablauf beibehalten werden und die Pläne und Hoffnungen verbergen. Aber die Anspannung lag knisternd in der Luft und lud sie zu einem explosiven Gemisch auf, das die Nerven reizte und vor allem bei Ewa eine ungesunde Nervosität hervorrief, die ihr psychisches Gleichgewicht empfindlich störte. Die Eltern rauchten viel, mehr als sonst.
Pater Weisz, der sich seit ihrem Besuch in Warschau um die Angelegenheit der Familie Zjawa kümmerte, hatte für Magdalena ein Ersatzmedikament besorgt, dass ihren Herzrhythmus regulieren und der Herzschwäche entgegenwirken sollte. Es war aber nicht dasselbe wie die Lanitoptropfen, die man vorsichtig dosiert auf ein kleines Kinderherz abstimmen konnte, und man musste es schnell wieder absetzen, als das Mädchen zweimal hintereinander umgekippt war. Pater Weisz gab sich alle Mühe, doch noch die richtige Medizin für das herzkranke Kind zu bekommen und gleichzeitig an der Ausreise der Familie zu arbeiten.
Der Dezember begann weiß wie der Schädel und die gekreuzten Knochen auf einer schwarzen Piratenflagge. Vier kleine Piratenmädchen schlichen zwischen kahlen, kohlefarbenen Baumstämmen bis zu einem freiliegenden Abhang, der sich schneebedeckt wie eine von weißer Gischt gekrönte Welle ins Tal hinabstürzte. Die Schwestern und ihre beiden Freundinnen Ala und Jana gaben Acht wie die Luchse, nicht entdeckt zu werden, was gar nicht leicht war, denn sie steckten alle vier in blauen und roten Schneeanzügen, die in der farblosen Winterlandschaft wie Leuchtkugeln brannten. Der erste Feuerball rollte den Hügel hinab; Helene rutschte auf dem glatten Nylonstoff ihres Hosenbodens den Berg hinunter. Die anderen Mädchen folgten. Sie hatten die Schneeburg der Jungen im Visier, die diese auf der Eisfläche des zugefrorenen Weihers errichtet hatten. Gelb müsste der Schneeanzug jetzt sein! Magdalena wäre wie ein Feuerpfeil auf die Burg zugeschossen. Sie hatte sich einen gelben Schneeanzug gewünscht, aber nicht einmal Babcia Anna hatte ihn auftreiben können. Nur einen roten Anzug hatte es in der Kleidersammlung gegeben. Den konnte ihretwegen Helene tragen, mochte er auch beinahe neu sein. Wenn nicht gelb, dann konnte sie ebenso gut den abgetragenen blauen Anzug von Andrzej anziehen, egal. Im Gegenteil, Magdalena gefiel sich in der Rolle des armen Aschenputtel mit seinen abgenutzten, zerschlissenen Kleidern! Andrzej hatte den Schneeanzug schon durch mehrere Winter getragen, so dass der Stoff an bestimmten Stellen dünn geworden war. Das war der Nachteil; Magdalenas Hintern war in kürzester Zeit zu einem Eisblock gefroren. Sie würde mal keine Kinder bekommen können! Mamusia hatte das gesagt: Wenn sie sich immer auf den kalten Boden setzten, würden sie mal keine Kinder bekommen können.
Der erste Schneeball sauste hinter der weißen Wand hervor, die auf der spiegelglatten Eisfläche bis zu den Nasenspitzen von drei Jungen hochragte. Er traf Jana. Mit wütendem Gebrüll feuerte sie ihrerseits ein Geschoss ab, gezielt auf die Bommelmütze ihres Attentäters. Sie traf etwas tiefer die Schneemauer, eine Zinne brach ab. Weiß gefrorenes Mauerwerk bröckelte nach. Mit lautem Jubelgeschrei freuten sich die Mädchen über den Triumph. Nur Magdalena verfiel nicht in Siegestaumel. Ein harter Wurf, der sie auf ihrem Brustbein getroffen hatte, hatte ihr schlagartig die Lust am Piratenspiel geraubt. Sie sah sich nach den Schlitten um, die oben am Hügel hinter Bäumen versteckt waren. Brave Tiere! Sie entschied, dass der Dezember ab sofort nicht mehr piraten-, sondern schimmelweiß war. Und die Schlitten waren nicht mehr länger Schiffe und Flöße, sie waren nun Pferde, die geduldig auf sie warteten, um sie auf ihren starken Rücken nach Hause zu tragen. Magdalena dachte an den Schimmel, den sie an jenem Spätsommertag im Wald am Großen Stein gesehen hatte. In ihren Träumen war sie beinahe jeden Tag auf ihm geritten; zwischen goldenen Ährenfeldern, ein wenig später durch das bunte Herbstlaub. Jetzt war der Tag schimmelweiß, und die Hufe würden über die unberührten Schneefelder unterhalb der Kalksteinfelsen fliegen und ihr Haar im Wind flattern. Sehnsüchtig sah Magdalena zu den Schlitten hinauf, den Winterpferden, die dort oben geduldig warteten. Sie seufzte, atmete noch einmal tief durch und machte sich auf den Weg nach oben. Wie dumm Jungs doch sein konnten! Sie hatten ihre Burg nicht auf die Spitze des Hügels gebaut, sondern am Fuß des Abhangs! Entweder sie nahmen es nicht wirklich ernst, oder sie waren dumm. Andrzej nicht, er war klug. Zumindest sagte das Mamusia, und Mamusia war Lehrerin, sie konnte es beurteilen. Wahrscheinlich war er von seinen Freunden bei der Planung übergangen worden. Wahrscheinlich hatten sie nicht bedacht, dass Piraten sie überfallen könnten. Und wahrscheinlich hatten sie nicht mit vier kühnen Reiterinnen gerechnet. Magdalena kam der Gedanke, dass die um ein paar Jahre älteren Jungen gar nicht vorgehabt hatten, mit ihnen zu spielen. Sie blieb stehen und wartete, bis sich das Züngeln zwischen ihren Rippen beruhigte. Aber mit dem nächsten Schritt schreckte die Flamme sogleich wieder auf. Mit größter Kraftanstrengung zog sie ihre Stiefel aus dem Schnee, der so hoch war, dass kalte Brocken in das Stiefelinnere hineinrutschten. Das helle Wildleder sog die Feuchtigkeit auf wie ein Schwamm. Die Bommel, die an Schnüren herabhingen, waren zu kleinen Schneebällen gefroren, die immer schwerfälliger im Takt der Schritte tanzten. Es ging den Berg hinauf. Warum gab ihr niemand ein Mittel, durch das sie Berge mit derselben Leichtigkeit besteigen wie hinabgehen konnte? Magdalena dachte dabei an eine Art Wünschelrute. Sie würde damit an jeden Berg tippen, damit er kippen würde und für den Moment, den sie ihn begehen wollte, abschüssig wäre. Nur für diesen Moment, bis sie oben angelangt sein würde. Die Stelle, wo sie der Schneeball getroffen hatte, schmerzte wie eine offene Wunde. Hätte sie nur eine Gladiolenzwiebel um den Hals getragen, dann wäre sie unverwundbar gewesen! Weder Wünschelrute noch Gladiolenzwiebel hatte sie zur Verfügung. Oben angekommen ließ sich Magdalena mit dem Gefühl, schwer verletzt zu sein, auf ihren Schlitten sinken. Ihr Herz hämmerte taktlos und verwirrt in ihrer Brust, wild wie eine verzweifelte Wespe, der man ein Glas übergestülpt hatte. Ohne die Magie der Naparstnica-Pflanze, die in ihrer Medizin steckte, ging es ihr schon seit einiger Zeit nicht mehr so gut, und ihr Herzschlag war sprunghaft wie ein junges Fohlen, galoppierte manchmal ohne Vorwarnung los, bis Magdalena übel wurde, oder ließ sich dann wieder viel Zeit, nahm sich Pausen, so dass sie Angst bekam, es könnte ganz aufhören zu schlagen. Mamusia hatte gesagt, dass Lanitop aus Naparstnica gewonnen würde, aus einer ganz winzigen Menge, denn eigentlich sei Naparstnica eine sehr giftige Pflanze. Magdalena starrte auf den zertretenen Schnee. Reglos saß sie auf dem Schlitten und wartete, dass man sie auflesen und heimbringen würde. Sie war sogar zu erschöpft, um davon zu träumen, wie sie auf ihrem Schimmel den Berg hinunter preschen würde, die in Not geratene Helene um die Taille packen und zu sich auf das Pferd hinaufziehen würde. Geschickt würde sie das Tier zwischen den fliegenden Pfeilen hindurch lenken, so könnten sie vor den hinterherstürmenden Reitern fliehen. König Andrzej ließ sie mit seinen besten Männern verfolgen!
Nein, die Kraft der Träume hatte der kniehohe Schnee aufgesogen. Magdalena saß mit rundem Rücken da, Kopf, Arme und Hände waren der Erdanziehungskraft ausgeliefert, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Erst als sie Stimmen hörte, merkte sie, dass auch die Augenlider schwer geworden waren.
„Lene, ziehst du mich heim?“, fragte sie leise; ihre Stimmbänder waren ebenfalls matt und kraftlos geworden. Helene knüpfte ergeben die beiden Schlitten aneinander. Ala, die kleine, etwas pummelige Ala mit einer dicken Brille auf der runden Nase, und Jana kamen nun auch zum Rastplatz der Schlittentiere.
„Was ist los? Geht ihr schon nach Hause?“ Jana war die größte der vier. Sie hatte beneidenswert lange Locken. Jetzt klebten die dunkelblonden nassen Haarspitzen auf dem Nylonstoff und wellten sich noch stärker als sonst.
„Ich bin … von einem Pfeil getroffen worden. Die Mongolen verstecken sich hier irgendwo“, sagte Magdalena kaum vernehmbar.
„Du mit deinen Mongolen! Du verdirbst uns jedes Spiel!“ Jana verdrehte die Augen.
Magdalena sah ein, dass die Mongolen in einer Piratenschlacht auf hoher See gar nicht vorkommen konnten, zumal sie in einer anderen Epoche angesiedelt waren. Aber was machte das schon in Zeiten wie diesen, wo nichts mehr zu passen schien? Gestern war Tatuś mit grauem Gesicht nach Hause gekommen, obwohl er doch zu keiner Arbeit mehr das Haus verlassen müsste. Mamusia hätte ihre Kinder am liebsten nicht auf die Straße gelassen, und Andrzej hatte sie eingeschärft, sofort mit seinen beiden Schwestern heimzukehren, wenn er Milizionäre sehen würde. Sie konnten überall sein! Bei den Wiesen unter den Kalksteinfelsen oder im Wald. Mit Sicherheit verschanzten sie sich in dem Sommerhäuschen im Wald, das jetzt unbenutzt war. Die Mongolen, kam Magdalena in den Sinn, hatten angeblich die Pest mitgebracht, und der schwarze Tod kroch über das Land und bohrte seine Tentakel unter jeden Stein.
Plötzlich machte es einen kräftigen Ruck, das Gefährt geriet ins Stocken. Jana hatte sich auf Helenes leeren Schlitten gesetzt, der hinten angebunden war.
„Geh da runter!“, rief Magdalena. Ihre Stimme war immer noch zu dünn, um sich den nötigen Respekt zu verschaffen.
„Warum? Seit wann darf sich nur das Prinzesschen Magdalena ziehen lassen?“
„Geh sofort runter! Helene, du ziehst sie nicht!“
Helene stemmte sich nach vorne.
„Ich schaffe es nicht. Ala, hilf mir“, stöhnte sie. Ala beeilte sich, mit ihrem Schlitten die kurze Karawane zu überholen.
„Nein! Das ist gemein, Jana! Geh runter!“
Jana stieg murrend ab. Sie verstand, dass Magdalena nicht mehr spielte und zog ihren Schlitten auf Höhe von Ala und Helene, die wie zwei Zugtiere vorgespannt waren.
„Ala, ziehst du mich?“, fragte sie frech. Ala schüttelte den Kopf und packte bei Helene mit an, die sich schweigend mit gesenktem Kopf durch den Schnee pflügte. Ihr Arm war durch die schwere Last nach hinten abgewinkelt, aber durch Alas Hilfe verringerte sich der Zug. Arme Helene! Magdalena wusste, wie sich ihre kleine Schwester jetzt fühlte und wie sie in Gedanken nun ihrerseits ihre Rolle des armen Aschenbrödels ausstaffierte. Tapfer und ohne Wehklagen verrichtete sie ihre schwere Arbeit. Jana warf ihre Locken nach hinten und stöhnte laut auf, hängte dann ihren Schlitten an Alas und schob Magdalena von hinten an. So kamen sie schnell voran.
Dumpfe Rufe wehten über die ersten Häuserreihen der Ortschaft zu ihnen herüber. Im Stakkato schrien Männerstimmen; sie kamen vom Wald. Die Mädchen erschraken. In der Ortschaft trennten sie sich, Ala und Jana liefen schnurstracks nach Hause. Helene musste die beiden Schlitten mit ihrer blaugefrorenen Last wieder alleine ziehen. Sie versuchte schneller voranzukommen, sie keuchte, und Magdalena umklammerte mit ihren dicken Fäustlingen die Holzstreben des Schlittens, um nicht hinunterzufallen.
„Das ist König Herle!“
„Hör auf damit!“
„Lenailene!“ Helle Stimmen durchbrachen die bedrohlichen Laute, die wie Tiergebrüll klangen oder wie grausame Schlachtrufe eines unheimlichen Kriegervolkes und von überall her zu kommen schienen. Die drei Jungen hatten ihre Schneefestung aufgegeben, jetzt tauchten sie am Horizont hinter den Schwestern auf und riefen ihnen zu. Dann stoben sie in verschiedene Richtungen auseinander.
„Lenailene!“ Andrzej rannte zu seinen Schwestern und packte an dem Zugseil an. „Schnell nach Hause! Die ZOMOs sind unterwegs!“
Sie lauerten an den Straßenkreuzungen und an den Wald-rändern, ZOMO-Krieger, König Herles Truppen, Verdammte, Ausgeburten der Hölle. Bekannt für Willkür und Brutalität, ihres Verstandes beraubt, waren sie ausgeschickt worden, um auf die Welt einzuprügeln, auf Mensch, Tier, Baum, egal, auf alles, was aufbegehren wollte. In Polen begehrte derzeit alles auf.
Die Kinder erreichten ihr zu Hause. Sie zogen die Schlitten unter den Dachvorsprung, unter dem im Sommer die Fahrräder standen. Helene stellte ihren auf und packte Magdalenas Schlitten an der vorderen Stange, an der das Seil angeknüpft war, aber Magdalena machte keine Anstalten sich zu erheben. Wie eine Ladung Mehl in einem blauen Nylonsack blieb sie unbeweglich sitzen.
„Komm schon! Steh auf!“ Helene zerrte an dem Schneeanzug. Andrzej drehte sich an der Haustür um, erkannte das Problem und kam zurück. Er packte die kranke Schwester über seine Schulter und schleppte sie ins Haus. Zum Glück war Magdalena so schmächtig. Andrzej hinterließ nasse schmutzige Spuren auf dem rauen Ocker des Wohnzimmerteppichs. Helenes Spuren gesellten sich dazu. Nur Magdalena hinterließ keinen Dreck. Im Wohnzimmer ließ Andrzej sie mit letzter Kraft auf die Couch gleiten. Ewa stürzte hinterdrein. Sie schälte ihrer Tochter schnell die nassen Kleider vom Leib und wickelte sie in eine Decke. Sie sah die blauen Lippen und befühlte Magdalenas kaltes Gesicht.
„Andrzej, ruf Doktor Nowak an!“
„Mama, besorge mir eine Gladiolenzwiebel“, bat Magdalena wimmernd ihre Mutter.
„Was sagst du?“
„Das Telefon funktioniert nicht, die Leitung ist tot!“, schrie Andrzej aus dem Flur.
„Was?“
„Die Leitung ist tot!“
„Dann lauf und hol ihn!“, rief Ewa ihm zu.
„Ich soll …“ Andrzej war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Er sah auf und blickte in Helenes erschrockenes Gesicht. Sie stand im Türrahmen.
„Aber die ZOMOs sind da draußen“, sagte Andrzej.
„Die ZOMOs!“, wiederholte Helene an ihre Mutter gewandt.
„Beeil dich!“
Nach einem kurzen Moment Stille krachte die Haustür ins Schloss. Ewa fuhr zusammen.
Eine halbe Stunde später diagnostizierte der Arzt bei dem kranken Mädchen Hunger.
„Hunger?“ Verzweiflung und Wut leuchteten in Ewas dunkelgrünen Augen auf.