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Drei Stunden später hatte sich die Aufregung gelegt. Jurek, der zum Abendessen geblieben war, war inzwischen gegangen. Nur Marek, der Vater, war noch nicht nach Hause gekommen. Ewas Augen waren gerötet, und die Sorge grub eine Furche zwischen ihre Brauen. Sie trug das Geschirr ab und schimpfte über die angeknabberte Scheibe Brot, die auf Magdalenas Teller liegengeblieben war. Jeden Abend dasselbe Lied, seufzte sie. Niemand konnte es sich in diesen Zeiten leisten, Brot zu verschmähen, am allerwenigsten ein herzkrankes Mädchen; es war bereits aktenkundig, dass das Kind unterernährt war. Der Arzt hatte das Mädchen gewogen und dabei die Mutter vorwurfsvoll angesehen. Was sollte sie denn machen? Magdalena war störrisch wie ein Esel und wählerisch wie eine Prinzessin, was das Essen betraf. Sie behauptete sogar, Abendbrot sei nichts für Kinder und ließ es regelmäßig stehen. Helene und Andrzej aßen das Brot doch auch! Die Sonderwünsche ihrer Tochter konnte Ewa nicht mehr erfüllen: Rinderrouladen oder Grießbrei mit Zucker! Es sollte immer das sein, was es ganz sicher nicht geben würde. Das Angebot in den Läden richtete sich nicht nach den Launen einer Achtjährigen! Dass das Fräulein Magdalena Zjawa eventuell nicht genügend im Magen hatte, um das starke Medikament zu verkraften, war nicht das dringlichste Problem in diesen Zeiten. Obwohl die Ärzte Ewa eingeschärft hatten, auf ausreichend Nahrung bei ihrem Kind zu achten. Mit einem zweiten Seufzer, den Magdalena von der Küche bis ins Wohnzimmer hören konnte, schnitt Ewa den angebissenen Rand ab und stopfte sich die Brotkrümel in den Mund. Den Rest der Brotscheibe wickelte sie in Papier, für den nächsten Tag. Sie schob die Gardine etwas zur Seite und lugte auf die dunkle Straße hinaus.

Magdalena fühlte sich an ihre Medizin erinnert, und sie ging in die Küche zum Buffet. Dort stand das Medikament unter dem grünen Hängeschrank mit dem Geschirr. Sie zog eine Schublade auf, nahm einen Teelöffel heraus und hielt das Glasfläschchen senkrecht über den Löffel. Geduldig wartete sie auf den Tropfen, der an dem orangefarbenen Röhrchen hing und den Sprung in das kleine Messingbassin nicht wagen wollte. Magdalena fixierte die durchsichtige Wölbung, bis sie mit ihren Gedanken hindurchgetaucht und bei Kazimierz gelandet war. Sie überlegte, ob er womöglich verletzt war. Wer war der fremde Mann, der ihn aus dem Inferno an der Kaczawa in seinen Sattel gezogen hatte? Das Kreuz auf seinem weißen Mantel war nicht schwarz gewesen wie das der Deutschordensritter, sondern rot. Wie das Kreuz auf der bestickten Decke des Pferdes im Wald! Vielleicht wusste Babcia Anna eine Antwort. Oder Andrzej, der kannte sich gut aus mit Rittern. Magdalenas Aufmerksamkeit kehrte wieder zu ihrer Medizin zurück. Hatte sie ordentlich mitgezählt? Ungeduldig geworden schüttelte sie das Fläschchen, damit der nächste Tropfen endlich in den Teelöffel fallen würde. Es war der fünfte, und sieben Tropfen sollten es werden.

„Magdalena, denk an deine Medizin!“ Ewa drehte sich um und sah erst jetzt ihre Tochter hinter der Tür am Buffet stehen.

Magdalena konnte nicht antworten. Sie hielt den Atem an, um den sechsten Tropfen nicht zu verschrecken, der sich gerade mit einer hauchdünnen Haut aus Flüssigkeit zeigte. Vorsichtig bewegte sie das Fläschchen. Dann klopfte sie ärgerlich auf den Flaschenboden und schüttelte das Glas. Sie streifte den sechsten, nur halben Tropfen auf den Löffel.

„Mamusia!“

„Schrei nicht so! Zeig mir die Schachtel. Hast du auch heute Mittag an die Tropfen gedacht?“ Die Mutter kontrollierte den Aufkleber auf der Schachtel. Ein Kreuz bei r – rano, früh –, eines bei p – południe, mittags. Das Kreuz hinter dem w für wieczorem, abends, und unter dem cz – czwartek, Donnerstag – hatte Magdalena noch nicht eingetragen. Durfte sie es tun bei nur fünfeinhalb Tropfen? Es war schließlich nicht ihre Schuld.

„Es ist leer.“

„Nein, das kann nicht sein!“ Ewa nahm ihrer Tochter das Fläschchen aus der Hand, schüttelte es und hielt es gegen das Licht. Zwischen den Brauen warf sich die noch junge Haut in eine steile Falte. Magdalena sah die Angst in den Augen ihrer Mutter, in denen sich inzwischen ein glasiger Glanz eingebrannt hatte.

„Wir fahren morgen nach Warschau!“

„Ich muss morgen in die Schule gehen.“ Die Sommerferien waren zu Ende gegangen, sie wollte nicht gleich zu Schulbeginn wieder fehlen.

„Morgen nicht. Deine Medizin ist wichtiger.“

Noch wichtiger war es herauszufinden, was Kazimierz in der Zwischenzeit widerfahren war. Magdalena ging zu Andrzejs Zimmer. Seit Babcia bei den Zjawas wohnte, seit sie vor einem halben Jahr krank geworden war, standen in seinem Zimmer zwei Betten. Babcia Anna saß auf der Kante des aufgeschlagenen Feldbettes, die Bibel auf dem Schoß. Sie betete. Magdalena blieb reglos in der Tür stehen und betrachtete die geistig in sich gekehrte und körperlich in sich eingefallene alte Frau. Angstgefühle krochen Krakenarmen gleich aus einem dunklen Versteck zwischen Magdalenas Eingeweiden hervor. Es war die Angst, ihnen beiden würde nicht mehr die Zeit bleiben, Kazimierz´ Geschichte zu Ende zu lesen. Sie legte die Hand, ihren Herzschlag prüfend, auf die Brust. Leise wandte sie sich zum Gehen ab.

„Engelchen?“

Magdalena drehte sich wieder zu ihrer Großmutter um, die sich aufrichtete und sich das Kopfkissen unter die Lenden schob.

„Was hat der Fremde mit Kazimierz vor?“, flüsterte Magdalena.

„Er wird ihn auf seine Burg mitnehmen, oder nicht?“

„Wird er ihn als Diener arbeiten lassen? Oder verkaufen? Was kostet ein Mensch überhaupt?“

Babcia Anna lächelte.

„Aber hast du denn den Falken vergessen, der immer vorangeflogen ist?“

„Den Falken? Du meinst …“

„Schlaf noch mal drüber. Geh jetzt ins Bett, es ist schon spät.“ Babcia Anna streckte Magdalena die Hand entgegen und zog das Mädchen zu sich heran, um ihr einen Gute-Nacht-Kuss zu geben.

Magdalena ging in das Zimmer, das sie mit Helene teilte. Auf dem Weg sah sie den Bruder im Wohnzimmer über ein Heft gebeugt sitzen.

„Andrzej?“

„Was gibt’s?“

Andrzej hob kein einziges Mal seinen Blick, beantwortete aber trotzdem brummig ihre Fragen.

Bevor Magdalena auch von Mama ins Bett geschickt werden würde, wollte sie noch schnell ein Bild malen. Sie wollte das weiße Pferd malen, das sie heute gesehen hatte. Ein weißes Pferd mit prächtigem Sattel auf einer weißen Decke, bestickt mit roten Kreuzen. Den Kreuzen des Templerordens, hatte Andrzej ihr eben mit wissender Miene erklärt, obwohl er etwas genervt war von den Mädchengeschichten seiner kleinen Schwester. Das Pferd sollte am Großen Stein stehen – sie zeichnete mit Bleistift einen Fels in die Mitte des Blattes – und auf sie warten. Am Großen Stein, auf den sie klettern würde, und dann würde sie hinüber in den Sattel steigen. Der Schimmel würde sie mal schnell, mal langsam den Weg entlangtragen, so wie sie es dem Tier mit den Zügeln in der Hand und mit ihren Füßen, die sie in seine Flanken drücken würde, signalisierte. Magdalena würde zu den Kalksteinfelsen reiten, über weite Auen galoppieren, bis nach Jasna Góra, und die Schwarze Madonna um Fürsprache bitten, dass Mamusia wieder glücklich werde. Dass Babcia Anna wieder gesund würde und dass ihr Herz stark sei. Oder sollte sie nicht besser Gott persönlich darum bitten? Denn wenn sie ehrlich war, hatte Magdalena vor der Schwarzen Madonna ein wenig Angst. Sie trieb sich abends auf den Straßen herum und erschreckte die Kinder, die noch nicht nach Hause gegangen waren. Sie biss ihnen die Finger ab! Andrzej hatte ihr das erzählt. Magdalena dachte erstmals daran, ihm nicht mehr alles zu glauben. Schließlich war die Schwarze Madonna niemand Geringeres als Maria, die Mutter Gottes Sohns! Magdalena erschrak. Aber warum hatte die Madonna so ein düsteres Gesicht? Schnell kletterte sie die Holzleiter am Stockbett hoch, schlüpfte unter die Bettdecke und faltete ihre Hände zum Gebet. Was für ein lästerlicher Gedanke, sie würde den Kindern die Finger abbeißen! Fort! Fort mit dieser scheußlichen Idee! Gott würde sie strafen für diesen ketzerischen Gedanken! Ihr könnten zur Strafe die Finger abfallen, einfach so, damit sie lernte, dass so etwas ganz gewiss nicht das Werk der Schwarzen Madonna aus Jasna Góra sein konnte. Fest presste sie ihre beiden Handflächen aneinander, bis die Finger schmerzten.

Aber die Geschichte von den Mongolen, die das Blut ihrer Feinde aus der Hirnschale tranken, die stimmte! Es waren keine Christen, die so etwas taten. Es waren Ungläubige, Heiden! Vielleicht hatten sie das Gesicht der Gottesmutter verbrannt, aus Bosheit, oder um sich zu rächen. Oder aber die vielen Kerzenflammen der Christen hatten mit der Zeit die Wangen eingerußt. Der letzte Gedanke gefiel Magdalena schon viel besser, und sie schloss die Hände zum Gebet, wie es so viele Menschen seit so langer Zeit getan hatten. Und so viele hatten in Jasna Góra ein Lichtchen angezündet und das Gebet gesprochen, das der Sohn Gottes die Menschen gelehrt hatte.

„Vaterunserimhimmelgeheiligtwerdedeinname … Helene? Schläfst du schon?“ Magdalena beugte sich kopfüber aus dem oberen Stockbett, um zu sehen, ob Helene im unteren Bett ihre Augen geschlossen hatte.

„Nein … Vaterunser …“ Die Worte erstarben wieder. Helene waren die Augen zugefallen.

„Helene!“ Magdalena warf ihr Plüschhündchen in das schlafende Gesicht ihrer Schwester, das rund und friedlich im Kopfkissen versunken schlummerte, umrandet von einem dunklen Haarkranz. Der Hund traf sie an der Nase; erschrocken fuhr Helene hoch. Knurrend faltete sie ihre dicken Kinderhände. Die Augen lagen halbgeschlossen hinter den verknautschten Wangen.

„Vaterunser …“

Der Schlüssel fuhr suchend in das Schloss, und die Tür kratzte über den Boden. Andrzej sprang auf.

„Tatuś!“ Seine Stimme klang zugleich fragend und freudig.

Die Mutter atmete hörbar auf und stürzte in den Flur. Das Leder der Jacke knackte, als sie ihre Arme um Marek schloss. Niemand sagte etwas, oder aber es wurde sehr leise gesprochen.

„Vaterunser …“

Zuerst kam das Vaterunser. Helene und Magdalena hatten ein gemeinsames Ritual für ihr Abendgebet: Nach dem Vaterunser folgte ein langes Gebet angefangen mit der Danksagung. Sie dankten, wie jeden Abend, für Speis und Trank, Magdalena erwähnte auch die fünfeinhalb Tropfen ihres Medikaments, denn sie dürften genügen, diese Nacht ihr Herz noch einmal in Schach zu halten. Die Mädchen dankten dafür, dass sie noch rechtzeitig vor dem Gewitter zu Hause gewesen waren, und vor allem, dass es nicht Tatuś gewesen war, der sich im Hochhaus gegenüber hatte verstecken müssen. Es folgten die Fürbitten, für all die Hungernden und Leidenden auf der Welt, für die fehlenden eineinhalb Tropfen und die fehlenden Tropfen morgen und übermorgen. Ihr Herz würde gewiss ohne Medizin keinen vernünftigen Takt schlagen. Magdalena erwähnte Kazimierz.

„Kazimierz?“, krächzte Helene mit deutlich wahrnehmbarer Empörung in der Stimme. „Der aus dem Buch?“

„Mmmh“, brummte Magdalena. Sie fühlte sich ertappt. Sie wollte ihre heimliche Liebelei doch nicht vor ihrer kleinen Schwester bloßlegen! Magdalena beschloss, Kazimierz mit in den stillen Teil hineinzunehmen. Nach dem gemeinsamen Gebet, das die Schwestern laut sprachen, betete jede still für sich. Still für Kazimierz, der in diese furchtbare Schlacht gegen die Tataren hineingeraten war. Im April 1241, als sich einige Deutschherren einem jungen Herzog angeschlossen hatten, um an der Kaczawa den mordenden Mongolen aus dem Osten Einhalt zu gebieten. Magdalena wusste immer noch nicht, wie der Kampf ausgegangen war.

Für Helene war auch heute das Gebet der Abgesang des Tages. Es wirkte bei ihr beinahe jeden Abend wie ein Schlafmittel; es war der Teddybär im Arm, das Sandkorn im Auge. Magdalena hingegen konnte meist nicht sofort einschlafen, nicht bevor sich die dicke Watte in ihrer Lunge wieder aufgelöst hatte.

Hinter der Hügelkette war es friedlich geworden. Auch wenn das niedergetrampelte Gras noch von vielen kleinen Pferdehufen zeugte, so lag nun die Landschaft silbern im stillen Mondlicht da. Die Gefahr hatte ihre Truppen abgezogen. Ein Tempelritter hatte Kazimierz aus den Flammen errettet. Die Tür schob sich auf, und Magdalena wusste, ohne ihre Augen zu öffnen, dass Tatuś im Türrahmen stand und nach seinen beiden Mädchen sah. Magdalena wurde vom Schlaf aus ihrem Traum in die Nacht getragen.

Lenesias letzte Reise

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