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Der Weg zur Kirche war wie durch ein Wunder ohne Barrieren. Die Absperrungen waren aufgehoben, man konnte zügig durch die leergefegten Straßen fahren. Es war unheimlich: Warschau war noch vor wenigen Stunden eine brodelnde Küche voll wütender, laut brüllender Menschen gewesen. Jetzt wirkte sie wie eine Geisterstadt, als hätten alle Einwohner sie Hals über Kopf verlassen. Magdalena versuchte mit angestrengtem Blick die Schatten zwischen den Häusern zu durchdringen. Blitzte da nicht das Weiß von schmalen Augenschlitzen auf? Das Silber der Lanzenspitzen? Die scheinbare Ruhe war bedrohlich. Vielleicht war ja nur der knatternde Motor des Fiat Polski zu laut, als dass man das Scharren der kleinen Hufe hätte hören können. Magdalena saß angespannt hinter ihren Eltern auf der Rückbank und malte sich den goldenen Regen aus Feuerpfeilen aus, der gleich losbrechen würde. Bevor dies jedoch passieren konnte, parkten sie hinter der Kirche und stiegen aus. Während Marek das Auto abschloss, lief Ewa schon voraus zum Portal. Sie kam zurück, ehe ihr Mann und Magdalena sie eingeholt hatten.

„Wir müssen warten, es ist gerade Gottesdienst.“

„Wie lange noch? Hast du gefragt?“

„Zwanzig Minuten etwa.“

Sie wagten es nicht, der Unheil drohenden Stadt zu nahe zu kommen und blieben in der Nähe der Kirche. Magdalena legte ihren Kopf in den Nacken und betrachtete die vier weißen steinernen Männer zwischen Säulen, je zwei zu beiden Seiten des Eingangs, dessen Tore weit offenstanden. Die Figuren hielten Schriften in den Händen, und drei von ihnen hatten jeweils ein Tier zu Füßen. Einen Ochsen mit Hörnern, wohl ein Stier. Einen Löwen! Und vor einer Statue saß ein riesiger Vogel mit gebogenem Schnabel. Die Kirche summte, als sei sie ein Bienenstock, und die Menschen drängten sich hinein, angezogen von der feierlichen Stimmung, die dort herrschte und im krassen Gegensatz zu der Gewalt auf den Straßen stand, als sie gekommen waren. Laute Blasmusik spielte zum Abschluss des Gottesdienstes und hielt für einen Moment den Gedanken an die schweren Panzer von den Menschen fern. Dann schwirrten sie wie Bienen los, drängten zum Ausgang hinaus und stoben, mit Segenswünschen gestärkt, in ihre Stadt zurück und schenkten ihr wieder Leben. Ewa zog ihre Tochter von der Tür weg. Als der Strom versiegte und nur noch einzelne Kirchenbesucher blinzelnd ins Tageslicht traten, bahnten sich die Zjawas einen Weg in das Gotteshaus hinein. Unter mächtigen Kronleuchtern, die tief herabhingen, wurde Magdalena von ihrer Mutter den breiten Gang nach vorne geschoben. An den Seitenwänden schwebten Engel, und geschnitzte Strahlen leuchteten zur hohen Decke. Kerzen brannten in roten Plastikbechern in Nischen. Frauen hatten ihren Silberschmuck, Kettchen und Perlen, der Schwarzen Madonna dargebracht. Auch hier hatte die Heilige Jungfrau Maria eine schwärzliche Hautfarbe! Warum war sie so dunkel? Unwillkürlich versteckte Magdalena ihre Hände hinter dem Rücken, bemerkte es aber sogleich. Mit heißer Scham, die in ihre Wangen stieg, holte sie ihre Hände wieder hervor und faltete sie sittsam wie zum Gebet. Ewa drückte ihre Tochter in die vorderste Kirchenbank und folgte ihrem Mann durch ein kleines Türchen, das im Glanz der reichen Verzierungen rundherum und im Lichtschein der Kerzen beinahe unsichtbar war. Die Blaskapelle packte zusammen.

Allmählich ebbten die Geräusche im Kirchenschiff ab. Magdalena atmete den Weihrauch ein. Ihr wurde schwindelig.

Die Stille hielt nicht lange vor, es ertönten plötzlich einzelne Orgelklänge. Es schien, als hätten sie abgewartet, bis sie sich unbemerkt fühlten, um ihr Zusammenspiel zu proben. Magdalena drehte ihren Kopf nach hinten und sah zur Empore hinauf. An den großen langen Orgelpfeifen saßen weitere Engel mit goldenen Flügelchen. Sie musizierten auf kostbaren Instrumenten. Dann wandte sie sich wieder der kleinen Tür zu, hinter der ihre Eltern verschwunden waren. Lange blieb sie so sitzen, ohne dass etwas passierte, und lauschte der Musik. Die unscheinbare Tür machte den Eindruck, als wäre sie schon seit Jahrhunderten verschlossen geblieben und nicht etwa vor wenigen Minuten geöffnet worden; Türangeln, Beschläge und das Schloss waren verrostet. Ein paar Mal setzte Magdalena zum Gebet an, aber die Gedanken wurden von den Orgelklängen zerstreut und verschwanden schließlich zwischen Weihrauchschwaden im Magen, wo sich das flaue Gefühl der Ungewissheit und des Abschieds breitmachte. Sie dachte an Niemcy, Deutschland. Magdalena hatte verstanden, dass sie nicht mehr länger hier bleiben konnten, wenn sie am Leben bleiben sollte. Sie dachte an Kazimierz, der nach Italien verschleppt worden war, nun fern von den weißen Kalksteinfelsen lebte, und mutig reckte sie ihr Kinn in die Höhe. Auch sie würde das schaffen, auch sie würde fortgehen können! Sie fuhr sich fröstelnd über die nackte Haut ihrer Arme; sie hatte ihre Strickjacke im Auto gelassen. Der Atem der Kirche war kühl, in ihren steinernen Lungen hallten die Geräusche vereinzelter Kirchgänger, die sich auf den nächsten Gottesdienst einstellten oder den letzten für sich noch nicht abgeschlossen hatten.

Endlich öffnete sich die jahrhundertealte Tür einen Spalt und entließ drei Gestalten, die direkt auf sie zukamen. Hinter ihren Eltern erschien ein Riese, der den Türrahmen beinahe völlig ausfüllte. Zielstrebig und mit weit ausholenden Schritten kam der Mann auf Magdalena zu und blieb wie ein Baum vor ihr stehen. Hinter dem strahlend weißen Messgewand konnte Magdalena ihre Eltern kaum noch erspähen. Sie kam sich winzig vor und wunderte sich, dass der Priester sie überhaupt sah. Er streckte seine Hand nach ihr aus, und sie fürchtete, dass er sie knicken würde wie einen Grashalm. Doch die Berührung ihrer Stirn war sanft, ebenso wie der Segensspruch, der sich aus dem grob gehauenen Gesicht löste. Der große Mann lächelte, nickte dann den Eltern zu und ging zwischen Säulen, die das Gewölbe trugen und schließlich durch die geheimnisvolle Tür wieder in das Gemäuer zurück.

„Das war Pater Weisz“, flüsterte Ewa, die sah, dass ihre Tochter wie vom Donner gerührt auf ihrem Platz sitzenblieb und nicht so wirkte, als würde sie sich jemals wieder erheben wollen. Ewa nahm die kleine Kinderhand und zog sacht daran, wie um das Mädchen von seinem magischen Bann zu befreien.

„Der Weihrauch“, hauchte Magdalena im Versuch sich zu erklären. Sie blickte zur Decke hinauf, die sich in prächtig gemalten Szenen bis zum Himmel zu strecken schien. Sie ließ sich von Mamusias Hand aus der Bank ziehen. Marek tauchte seine Finger in das Becken und benetzte auch die Stirn seiner Tochter. Am Portal drehte sich Magdalena noch einmal nach den vier Evangelisten um. Einem saß ein riesiger Vogel zu Füßen. Es könnte sich um einen Falken handeln, dachte sie.

Sie gingen zum Auto und fuhren aus Warschau hinaus. Außerhalb der Stadt hielten sie in einem Feldweg und machten eine Vesper-Pause. Tata biss schweigend in die Wurst und erwähnte das Woidwodschaftsamt nicht mehr. Er hielt die Wodkaflasche in die Luft.

„Den brauchen wir wohl heute doch nicht!“ Er wollte den Verschluss öffnen, aber seine Frau nahm ihm die Flasche aus der Hand und legte sie in den Korb zurück. Schließlich lag eine lange Autostrecke vor ihnen.

Lenesias letzte Reise

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