Читать книгу Lenesias letzte Reise - Stephanie Grün - Страница 9
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ОглавлениеAndrzej stand mit einem großen Pappkarton im Türrahmen des Mädchenzimmers. Im dunklen Haar leuchtete ein gelbes Blatt.
„Schau mal, Lena! Er hat sich für uns hübsch gemacht!“ Helene lachte auf, als sie es bemerkte.
„Sehr witzig.“ Andrzej klopfte sich Erde von der Hose. „Fang mal besser mit dem Einpacken an, bevor du so blöd quatscht!“ Er warf die leere Kiste auf den kleinen Tisch, an dem Krzysztof und Katarzyna saßen. Ein Puppenteller flog samt dem Miniaturbesteck in die Luft, eine kleine mit Milch gefüllte Tasse kippte sich über Katarzyna aus. Die braun gelockte Puppe war nackt, und deshalb war die Tragödie nur halb so schlimm. Kurz zuvor hatte sich Magdalena allerdings sehr darüber geärgert, dass Helene ihr Baby nackig zum Kaffeekränzchen gebracht hatte; sie hatte ihren blonden Krzysztof extra in sein schönstes Gewand gesteckt!
Der Karton war feucht und durchweicht. Andrzej musste die Schachtel aus irgendeinem vergessenen Winkel gezogen haben; Schmutz und schwarze Zweige klebten daran. Seine triefende rote Nase verriet, dass er sich draußen im Herbstlaub herumgetrieben hatte. Der Wind war ungestüm geworden und fegte nicht nur das Laub von den Bäumen, sondern auch die runden Kastanien, die die Mädchen jedes Jahr fleißig einsammelten. Manchmal bastelten sie mit Zahnstochern Tiere aus den Herbstfrüchten, wenn Babcia Anna ihnen dabei half. Heute gab es Kastanienkuchen, denn die Mädchen hatten die Geburtstage ihrer beiden Puppen zu einem einzigen großen Fest zusammengelegt. Auf jedem Teller war soeben noch eine braune Kugel gelegen, aber sie waren hinuntergepurzelt und davongerollt. Magdalena bückte sich nach einer unter ihren Füßen und fühlte die glatte kühle Frucht in der Hand. Kastanien hatten magische Kräfte; man konnte es an der glänzenden Haut erkennen, und die grünen Stacheln der Schale verrieten, dass sie ein Geheimnis zu bewahren hatten. Die Mädchen sammelten die Kastanien für ihre Heil- und Wundermittel, die sie zwischen den drei Tannen im Garten brauten.
„Was sollen wir denn einpacken?“, fragte Helene und stellte das Geschirr wieder auf.
„Du sollst meine Geburtstagsgeschenke einpacken, Dummerchen.“ Magdalena nahm es ihrem Bruder übel, dass er nicht lachte. Im Gegenteil, er sah sie mit zürnendem Blick an. Warum war er so schlecht gelaunt? Er wollte sich wohl wieder mit dieser erwachsenen, ernsten Miene wichtig machen! In letzter Zeit verstand er überhaupt keinen Spaß mehr. Dabei war der Witz nicht schlecht gewesen, denn mit dem herabfallendem Laub war die Geburtstagszeit der Mädchen angebrochen. Überall roch es nach Herbst und nach Geburtstag. Helenes achter mit Buttercremetorte war gerade vorüber, jetzt ging es schnurstracks auf Magdalenas neunten Geburtstag zu. Aber die Cremetorte, längst verschlungen und verdaut, war in guter Erinnerung geblieben, auch wenn sie dieses Jahr ohne Zucker gewesen war. Niemand in der Nachbarschaft hatte mehr einen Rationsschein für Zucker übrig gehabt, und woher Babcia die Butter genommen hatte, war selbst Mamusia ein Rätsel geblieben. Ebenso der Rübensirup, der statt dem Zucker die Torte gesüßt hatte. Nein! Der Sirup war kein Rätsel, er war das Wunder gewesen, um das Helene viele Abende vorher inbrünstig gebetet hatte. Wie auch die bunten Zuckergussrosen, mit denen Ewa die Torte verziert hatte, Wunderwerk gewesen waren! Magdalena würde nicht so viel Glück haben; für den Nusskuchen, den sie sich wünschte, gab es weder das Mehl noch die Nüsse. Es sei denn, Babcia kannte auch diesmal eine geheime Quelle. Aber gewiss würde sie eine neue Büchertasche bekommen, aus leichtem Leinenstoff und nicht ganz neu, sie würde gebraucht sein; Magdalena wusste Bescheid. Sie würde jedoch leichter sein als ihre bisherige Tasche aus dem gelben Leder – neues Leder, das noch nach Leder roch! Schweren Herzens musste sie die Büchertasche an ihre Schwester abtreten, und das obwohl Gelb ihre Lieblingsfarbe war! Magdalena kam jetzt immer schneller aus der Puste, immer öfter musste sie die Tasche abstellen, auf dass Helene zurücklaufen würde, um sie zu holen. Die Schultasche war ihr zu schwer geworden, deshalb sollte Helene sie nun haben. Helene war ein starkes Mädchen und konnte sie besser auf ihrem kleinen und dennoch kräftigeren Rücken tragen.
Magdalena würde außerdem eine Bibel bekommen, sie wusste es. Jetzt schämte sie sich dafür, dass sie spioniert hatte. Warum hatte sie nicht die wenigen Wochen abwarten können? Zwischen den beiden Geburtstagen lag nur ein einziger Monat, aber es war der längste Monat im Jahr. Im Schlafzimmerschrank, oben im Fach, ganz nach hinten geschoben, war die Bibel versteckt, die sich Magdalena gewünscht hatte. Bei einem anderen Geschenk hätte sie vielleicht nicht so schwer an den Gewissensbissen getragen; sie trug sogar schwerer daran als an der gelben Büchertasche. Aber das konnte sie niemandem erzählen.
„Fahren wir weg? Wohin?“, fragte sie und spielte gedankenverloren mit der Kastanie in der Hand.
„Was sollen wir denn so einpacken?“
„Alles! Wir fahren nicht weg, wir ziehen um!“
„Was, wir ziehen um? Wohin?“ Helene sah ihren großen Bruder überrascht an. Dann blickte sie sich um; sie wollte den Karton auf dem Boden abstellen. Dazu musste sie aber erst eine Stelle freiräumen. Es gab zu wenig Platz zwischen dem Stockbett, dem Schrank und den beiden Schulbänken. Alles war übersät mit Puppenkleidern, Papier und Farbstiften. Die Schwestern hatten nicht genügend Geschirr für ihr Kaffeekränzchen, also hatten sie sich das fehlende Besteck, den vierten Teller und die Sahne für den Kuchen aufgemalt und ausgeschnitten. Jetzt lag alles wüst durcheinander auf der Matratze neben dem Stockbett, die wiederum dort lag, weil Helene fast jede Nacht aus dem Stockbett fiel. Eigentlich sollte das Grund genug sein, dass Helene immer unten schlief und Magdalena oben. Vor allem hatte Magdalena unten Angst, das Bett über ihr könnte samt Helene auf sie herunterkrachen. Aber Helene bestand darauf, dass aus Fairness jeden Monat gewechselt wurde. Sie wollte auch oben schlafen! Der nächtliche Sturz schien sie dabei nicht zu stören. Die kleine Schwester war aus anderem Material beschaffen als Magdalena, die es schon schmerzte, wenn Helene ihr im Spiel zur Begrüßung die Hand zusammenquetschte. Sie war stark! Sie nahm es sogar mit Andrzejs Freunden auf, die vier Jahre älter waren als sie. Helene stellte den leergefegten Tisch in den Karton.
„Er passt haargenau hinein!“
„Dreh ihn um!“
„Was?“
„Den Tisch!“ Magdalena zerrte den Tisch wieder aus dem Karton und drehte ihn um, bevor sie ihn wieder hineinstellte. „So passt noch mehr rein.“ Sie stopfte sämtliche Puppenkleider und das Puppengeschirr zwischen die Tischbeine.
„Tata ist heute entlassen worden.“ Andrzej sah in vier verständnislos blickende Mädchenaugen. „Er hat jetzt keine Arbeit mehr.“
Magdalena und Helene runzelten die Stirn. Es war schlimm, was ihr Bruder da sagte. Ihre Mutter hatte in letzter Zeit sehr oft geweint, und immer jammerte sie: Du wirst noch deine Arbeit verlieren, Marek! Sie werden dich hinauswerfen.
Magdalena fragte sich allerdings, warum eigentlich. Tatuś war so fleißig, er arbeitete immer, Tag und Nacht. Nebenan hatte er sein kleines Büro und eine Werkstatt. Es war immer Arbeit da. Die vielen Drähte, Schrauben, das große Brett, an dem Tata riesige Pläne zeichnete. Das Wunderbare an diesem schrägen Brett waren die eingebauten Lineale, die man an silbernen Stangen entlang in alle vier Richtungen – oben, unten, rechts und links – und sogar nach vorne zu sich heranziehen konnte. An einem großen Knauf konnte man sie drehen, so dass Tata auch Schrägen einzeichnen konnte. Er hatte viele Geräte, von denen niemand außer ihm etwas verstand. Manchmal schenkte er den Kindern etwas davon. Die Mädchen hatten auf ihrem Schreibtisch beide einen Eisenblock stehen, an dem ein großer Schraubknopf angebracht war, darüber ein halbmondförmiges Ziffernblatt mit langem Zeiger.
Arbeit war immer da, aber sie stand nicht im rechten Verhältnis zu dem Geld, das sie hatten. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, dass Tata entlassen worden war. Man hatte ihn sowieso nicht anständig bezahlt!
„Wir gehen nach Deutschland.“
„Was machen wir da?“ Magdalena tat so, als hörte sie das erste Mal von diesem Land. Sie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch und drehte an ihrer Wundermaschine.
„Dort bekommt Tatuś Arbeit und du Medizin.“
„Lena, was stellst du ein?“ Helene drehte an ihrer eigenen Maschine herum.
„Ich stelle deutsch ein, niemiecki. Aber da rührt sich nichts.“
„Da kann sich auch nichts rühren.“
Magdalena warf ihrem Bruder einen ärgerlichen Blick zu.
„Du kennst dich damit nicht aus.“
„Niemcy kommt von niemy, stumm. Da wird sich nichts rühren.“
Die Mädchen sahen ihren Bruder verblüfft an.
„Stumm? Aber wie sprechen die Menschen dann miteinander?“
„Gar nicht, sie machen Zeichen.“
„Wie?“, fragte Helene. „So?“ Und sie begann sich zu drehen und riss ihre Arme dabei hoch. „Das heißt danke.“
„Und das heißt bitte.“ Die Schwester fiel auf die Knie und streckte ihre gefalteten Hände in die Höhe.
Andrzejs Blick fiel auf Magdalenas Bild von dem Tempelritter. Sie hatte hinter die Figur eine mittelalterliche Burg gezeichnet.
„Ich zeig euch mal ein deutsches Schloss!“ Er ging und kam mit einem Bild zurück, auf dem ein märchenhaftes Gebäude mit vielen weißen Türmchen zu sehen war. „Das ist Schloss Neuschwanstein. So sieht es in Deutschland aus!“
„Wo hast du das Bild her? Schenkst du es mir?“, fragte Magdalena.
Helene fiel ihr sofort ins Wort:
„Nein, schenke es mir! Ich habe Geburtstag gehabt!“
„Das ist ein geheimes Dokument aus dem Westen, das darf niemand bei uns finden.“ Mit diesen Worten ließ Andrzej die aufgewühlten Mädchen stehen und verließ das Zimmer. Das Bild nahm er mit.