Читать книгу Lenesias letzte Reise - Stephanie Grün - Страница 4
3
Оглавление„Helene!“ Magdalena trat kräftig in die Pedale. Von Mal zu Mal ließen sie sich schwerer hinunterdrücken. „Helene! Fahr langsamer!“
Der Abstand zur Schwester wurde rasch größer. Helene ratterte auf ihrem roten Flitzer scheinbar mühelos über alle Unebenheiten und Hindernisse hinweg; ihr Fahrrad war schneller als Magdalenas gelber Drahtesel. Esel? Es war ein Pferd, ein gelbes, vielleicht ein Haflinger oder ein Shetlandpony. Jedenfalls war es ein Gimmel. Kein Fuchs wie bei Helene, kein Rappe oder Brauner, kein Schimmel. Für gelbe Pferde gab es keinen Fachbegriff. Also hatte Magdalena es kurzerhand Gimmel genannt.
Als der holprige Waldweg eine Biegung machte, verschwand Helene hinter den langen dünnen Baumstämmen und dem trockenen Gestrüpp, das sich an ihnen hochhangelte. Es war heiß und schwül; die Luft war sogar im Wald drückend. Jetzt ein paar Blaubeeren finden! Kleine, feuchte, süße Tropfen zwischen kratzendem und pieksendem Gesträuch am Boden. An der Kurve gab es welche, Magdalena wollte es wenigstens bis dorthin schaffen. Sie biss die Zähne zusammen. Trotz größter Willensanstrengung ließen sich die Pedale jetzt überhaupt nicht mehr nach unten bewegen. Magdalena sprang ab, bevor sie samt Rad umgekippt wäre. Sie musste nach Luft schnappen. Der wenige Sauerstoff entfachte das lodernde Züngeln in ihrer Brust zu einem ausgewachsenen Brand. Sie ließ das Fahrrad fallen und krallte ihre kleinen Finger in die Brust, als könne sie so das spuckende Feuerwerk erwürgen.
Helene tauchte an der Wegbiegung wieder auf, sie war umgekehrt, um zu sehen, wo Magdalena abgeblieben war.
„Helene, schau, mein Pferdchen ist umgekippt, es kann nicht mehr“, keuchte Magdalena. „Ich bringe es zum Großen Stein, damit es sich ausruhen kann.”
„Einverstanden!“ Helene wendete wieder, noch bevor sie die Schwester erreicht hatte und verschwand abermals hinter den ausgetrockneten Kiefern. Magdalena hob ihr Rad auf und schob es den Weg zurück, den sie gerade noch entlang geradelt war – zuerst ganz tüchtig, dann immer langsamer und mühsamer, schließlich nur noch mit allerletzter Kraft und zusammengebissenen Zähnen. Jetzt tat ihr das Zahnfleisch weh; es hatte sich in den aufschlagenden Flammen wie Speck in der Pfanne zusammengezurrt. Im Schneckentempo stieg sie über die Wurzeln, die die spröde Erde durchbohrten. Es hatte lange nicht mehr geregnet, und der Waldboden war trocken wie Staub, an manchen Stellen sogar wie alte rissige Haut aufgeplatzt. Die Spätsommersonne schoss weiße Pfeile durch die lichten Baumreihen. Magdalena setzte in einer unsäglich langsamen Bewegung ihre Füße auf den Boden, erst den einen, dann den anderen. Sie ging so langsam, dass es jedem anderen schwergefallen wäre, neben ihr herzugehen. Aber sie ging ja allein. Allmählich kam sie innerlich wieder zur Ruhe. Das Feuer zwischen den Rippen erlosch und ließ eine zarte Glut zurück, die sie nur dumpf an den Schmerz, die Schwäche und das Elend erinnerte, die noch vor wenigen Minuten in ihr getobt hatten. Zufriedenheit stieg in ihr auf, und sie genoss die Ruhe, die sich um sie herum ausgebreitet hatte. Die Vögel waren still geworden. Magdalena war nur noch wenige Zeitlupenschritte von ihrem Glück entfernt, dem Glück, ohne Schmerz und ohne Mühe atmen zu können. Das Atmen schlichtweg vergessen zu dürfen! Ihr gelbes Pferdchen hatte nichts gegen das Tempo einzuwenden; es war erschöpft und musste geschoben werden. Und Helene konnte endlich Gas geben! Magdalena wusste, dass sie für die wilde Helene manchmal ein Klotz am Bein war. Sie erreichte den Großen Stein, lehnte das Rad an den mannshohen Felsbrocken und kletterte hinauf. Zum Glück kam eine leichte Brise auf, denn die schwüle Luft setzte ihr zu. Es würde heute noch ein Gewitter geben, sie durften nicht zu lange wegbleiben, hatte die Mutter gesagt. Hoffentlich vergaß Helene das nicht! Die fuhr bestimmt schon in das tiefe Loch hinunter, das sich hinter der Wegbiegung zwischen eng beieinanderstehenden Nadelbäumen gegraben hatte. Das Loch klaffte im Unterholz wie eine große Wunde auf dem behaarten Rücken des Drachen Wawel, der seinen schweren Körper der Legende nach in einer Höhle bei den Kalksteinfelsen ausruhte. Ein Steinschlag hatte den Drachen verletzt, und ein Sternenschlag den Waldboden. Ein Meteorit war vor hunderten von Jahren hier eingeschlagen. So jedenfalls hatte es Andrzej erzählt. Die Bäume waren vor Schreck zur Seite gesprungen und hielten sich noch heute ängstlich aneinander geklammert. Mit ordentlichem Schwung musste man sich auf seinem Rad den sandigen Abhang hinabstürzen, um auf der anderen Seite so hoch wie möglich zu kommen. Magdalena stellte sich vor, wie sie selbst mit einem Affenzahn hinunterraste, an Helene vorbei. Die würde sich staunend die Hand vor den Mund halten. Dann würde Magdalena kräftig in die Pedale treten, ihr Gimmel würde sich aufbäumen und das Laub am tiefsten Punkt der Kuhle aufwirbeln – kein Gedanke daran, im Sand steckenzubleiben! Mit spielerischer Leichtigkeit würde sie die steile Wand hochschießen, bis sie über den Kraterrand hinweg springen und mit wehenden Haaren sicher landen würde. Das hatte bisher noch niemand geschafft! Nicht einmal Helene, die besser war als alle anderen Kinder in der Nachbarschaft. Helene fuhr oft hierher, um zu trainieren.
Magdalena lauschte dem Gezwitscher der Amsel, die über ihr auf einem Ast unvermittelt anhub zu singen. Andere Vogelstimmen mischten sich ein. Huhu hu. Auch den Ruf eines Käuzchens konnte Magdalena ausmachen. Die Vögel klangen aufgeregt. Sie spürten, dass ein Unwetter bevorstand und mahnten zur Heimkehr. Magdalena hörte ein Rascheln. Ein leises Wiehern. War das ihr Gimmel gewesen? Sie öffnete die Augen. Neben ihrem Fahrrad graste ein großes weißes Tier. Es war weiß wie Schnee und leuchtete in der Sonne. Ein Schimmel, es war ein echter Schimmel! Das Pferd konnte mit seinen weichen Lippen die Grashalme auf dem Fels erreichen, auf dem sich Magdalena ausruhte. Sie spürte den warmen Atem aus den aufgeblähten Nüstern an ihrer Hand. Magdalena hob vorsichtig ihren Kopf. Sie achtete darauf, ihre Hand nicht zu bewegen, die so nahe an dem Tier war, das womöglich Angst bekommen könnte. Oder war es umgekehrt? Hatte sie nicht vielmehr Angst vor dem Pferdemaul, das nur eine Handbreit von ihr am Moos rupfte? Sie sah das Tier mit stockendem Atem an. Ein reichverzierter Gurt lag um den kräftigen Körper, und ein hoher Sattel thronte auf einer weißen Decke, die bestickt war mit roten Kreuzen. Magdalena blickte sich vorsichtig um. Irgendwo musste doch der Besitzer sein! Vielleicht ein Räuber? Plötzlich riss das Pferd seinen Kopf hoch, wieherte scharf, trabte einige Meter auf dem Weg davon und bog in den Wald ab. Bis Magdalena von dem Fels hinunter geklettert war, war es im Unterholz verschwunden.
„Pferdchen, warte!“ Sie kämpfte sich durch Äste, Tannen- und Kiefernadeln. Dornen zerkratzten ihre Arme und Beine. Dabei bemerkte sie nicht, wie tief sie inzwischen in den Wald eingedrungen war. Erst als sie das kleine Holzhäuschen sah, das wie aus dem Erdboden geschossen vor ihr auftauchte, wurde ihr klar, dass sie bereits einen weiten Weg hinter sich gebracht hatte. In der Ferne hörte sie ein Grollen. Mit Schrecken wurde ihr bewusst, dass die Sonne ihre breiten Strahlen schon eine geraume Zeit aus dem Wald zurückgezogen hatte. Sie waren hinter dunklen Wolken verschwunden. Die Hütte lag verlassen da. Die Fenster waren verrammelt. Und trotzdem schien es, als würde das Häuschen genutzt. Es sah nicht unfreundlich aus und war zudem gut erhalten; keine heruntergebrochenen Latten, keine eingeschlagenen Scheiben. Andrzej hatte schon viel über die Hütte im Wald erzählt. Meist wollte er seinen beiden kleinen Schwestern Angst einjagen. Mal war sie der geheime Versammlungsort der oberen Anführer der Solidarność-Bewegung, mal war sie das Versteck von Schleusern für Diebesgut oder Flüchtlinge. Auch hatte sie in seinen Erzählungen als Trainingscamp für die ZOMO-Soldaten herhalten müssen. Es war ein Ort, vor dem er seine Schwestern immer wieder eindringlich warnte, vermutlich, um seine außerordentliche Tapferkeit herauszustreichen, weil er selbst dort spionierte. Er sprach aber nur von der Hütte, wenn die Mutter nicht in der Nähe war. Sie hatte es nicht so gern, wenn er den Mädchen Angst machte. Außerdem war Mamusia der Meinung, dass es eine Jagdhütte war, wo Geräte und Futter aufbewahrt wurden. Magdalena dachte jedoch in diesem Moment an Andrzejs Versionen. Sie lief zu ihrem Gimmel zurück. Nach Helene rufend fuhr sie ein Stück in Richtung Sandkuhle, und als Helene auftauchte, drehte sie schnell um, um den Vorsprung zu nutzen, den sie jetzt hatte. Es würde nicht lange dauern, bis die kleine Schwester sie eingeholt haben würde.