Читать книгу Lenesias letzte Reise - Stephanie Grün - Страница 5
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ОглавлениеEin staubiger Wind fegte die Straße hinunter. Andrzej wartete ungeduldig und wippte mit dem Fuß. Der Regen kündigte sich mit einem feuchten, etwas süßlichen Geruch an. Erste dunkle Flecken bildeten sich auf dem Asphalt. Große Kleckse, noch vereinzelt, aber bald würden sie die Straße in schwarz glänzendes Pech verwandeln. Er setzte sich in Bewegung und marschierte die zehn Meter zwischen ihrem Haus und dem Gartentürchen der Nachbarn auf und ab, beinahe so wie ein Soldat. Als er es bemerkte, hielt er augenblicklich inne und lehnte sich betont lässig an den Holzzaun, der bis zur Abgrenzung zwischen den beiden dreistöckigen grauen Vorstadt-Wohnblöcken frischgestrichen war. Der Pfosten zwischen den Rasenstücken schien den Holzlatten den Befehl zu erteilen, auf der Stelle das schmucke Rotbraun einzustellen und sich zu tarnen. Als sei der Zaun ein Chamäleon, das seine Farbe ändern konnte, weil es die staatliche Planwirtschaft so verlangte! Andrzej trat voll Verachtung mit dem Fuß gegen die Latte, so dass eine Spur im Lack zurückblieb. Holzfarbe würde es in nächster Zeit in den Geschäften nicht geben. Genauso wenig wie Fisch oder schwarzen Tee. Brot und Milch waren rationiert. Es war eine Wirtschaft, die hinten und vorne nicht mehr stimmte! War das denn so schwer zu begreifen? Der Zaun war zwar kein Chamäleon, trotzdem konnte er tun, was man von ihm verlangte. Er leistete Gehorsam. Für Andrzej war das nicht mehr möglich, das Pfadfinder-Spiel war vorbei. Dabei war er gerade mal zwölf Jahre alt! Aber ihm gefielen die neuen Lieder, die man in letzter Zeit in den Bussen und auf der Straße sang. Auch auf dem Pausenhof wurden seit Neuestem politische Lieder gesungen. Er fand es richtig, dass sein Vater nicht unterschreiben wollte. Was genau er unterschreiben sollte, wusste Andrzej nicht, aber es schien ihm wichtig, dass er nicht unterschrieb. Andere Väter unterschrieben dieses Papier auch nicht. Es lebe die Solidarność!
Andrzej hielt nach seinen beiden Schwestern Ausschau. Die Gewitterwolken mussten sie doch allmählich nach Hause treiben! Endlich tauchten sie am oberen Ende der Straße auf. Heftig gestikulierend gab er ihnen Zeichen. Sie sollten von den Rädern absteigen und auf keinen Fall Lärm machen!
„Leise, keinen Mucks, habt ihr verstanden?“, zischte er ihnen mit ernster Miene zu, als sie ihn erreicht hatten. „Wir müssen hinten herum ins Haus hinein.“ Er schwang sich auf sein Rad und gab den Mädchen mit einer übertriebenen Geste zu verstehen, ihm zu folgen. Magdalena und Helene sahen sich an und dachten dasselbe: Andrzej kehrte wieder mal den großen Bruder raus; erwachsen und politisch gab er sich. Wie ein Revoluzzer! Er fuhr um den Häuserblock und hielt einige Meter vor dem letzten Haus in der abfallenden Straße. Ohne Fahrrad lief er zum hinteren Gartentürchen, machte wieder ein Zeichen. Diesmal galt es nicht den Mädchen. Sie blieben beide wie angewurzelt stehen, als sie einen bewaffneten Mann in Lauerstellung hinter dem Rosenbusch erblickten. Er drehte sich um und sah sie mit ausdrucksloser Miene an, die Augen zusammengezogen zu gefährlichen Schlitzen. Kalt und grausam war sein Blick. Die Mädchen fassten sich ängstlich an den Händen. Der Soldat nickte Andrzej zu. Andrzej ging zu den Schwestern und sagte im verschwörerischen Flüsterton:
„Lasst die Räder am Zaun stehen.“
„Was ist da los?“
„Seid still und kommt jetzt!“
Graue Männer in Tarnjacken, mit schwarzen Waffen unterm Arm und rotem Adler auf der Mütze saßen auch hinter den drei Tannen. Eigentlich war dies das streng geheime Versteck für die konspirativen Treffen der schwesterlichen Hexenvereinigung. Hinter den drei Tannen verbündeten sich Magdalena und Helene mit ihren guten magischen Kräften gegen die bösen Hexen Jana und Ala.
Milizionäre saßen auch hinter den Gartentorpfosten und drückten sich an die Hauswand. Wo war der Feind?
Hunderte Männer hielten ihre Schilde schützend über ihre Köpfe. Es waren massive Holzscheiben, die ein Dach über jeden einzelnen Reiter bildeten. Die Eisenbeschläge wirkten stumpf im Schatten des heraufziehenden Unwetters. Auch die silbernen Kettenhemden, die Helme, die Klingen der Schwerter und Lanzen büßten ihren Glanz unter dem schwarzen Wolkenturm ein. Mit der freien Hand umklammerten die Männer ihre Waffen. Sie saßen aufrecht auf den Rücken ihrer unruhigen Tiere, indem sie ihre gepanzerten Schenkel gegen das harte Leder des Sattels pressten. Erste Regentropfen mischten sich mit dem aufgewirbelten Staub der trockenen Erde. Grau und schwer atmend wartete man auf den Feind. Wo blieb er nur?
„Still jetzt“, flüsterte Bruder Herman, ein Deutschordensritter, seinem neuen Jungen zu, einem polnischen Bengel namens Kazimierz aus der Krakauer Gegend, der ihn viel Geld gekostet hatte. Donnergrollen überwand die Hügelkette in der Ferne und rückte unaufhaltsam näher. Hatte es vielleicht das Donnern der Hufe übertönt? Man hörte sie nicht, die kleinen Pferde. Dabei mussten es sehr viele sein! Die darauffolgende Stille war unheimlich. Kazimierz zählte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Bei fünfundzwanzig leuchtete der Himmel hell auf. Ein goldener Regen prasselte auf sie nieder. Schreie, Männer fielen verwundet von ihren Pferden. Kazimierz lief zwischen trampelnden Hufen hindurch und sprang über gelbe Flammen. Schützend hielt er die Arme über seinen Kopf. Er stolperte über Pferdeleiber, stieg über blutende Männer. Beißender Schmerz ließ seine Augen tränen, Staub und Sand raubten ihm beinahe das Sehvermögen. Er flüchtete sich hinter drei Tannen. Drei Tannen am Wegrand, mehr hatte das Feld in erreichbarer Nähe nicht zu bieten. Er hörte das Wiehern, die Schreie, ein Durcheinander, das verzweifelt eine gemeinsame Richtung suchte. Wo waren sie, die grausamen Tataren, die mörderische Mongolenhorde, deren Gräueltaten sich schneller verbreitet hatten als ihre kurzbeinigen Ponys sie vorwärts trugen? Nicht nur das ungarische Heer sei vernichtet, auch das polnische sei geschlagen. Breslau existiere nicht mehr, und auch Krakau stehe bereits in Flammen! Kazimierz dachte nur einen flüchtigen Moment an die weißen Kalksteinfelsen unweit von Krakau, als er sanfte Flötentöne hörte. Eine leise Musik bahnte sich ihren Weg den Hügel hinab durch das Klirren, Trampeln, Schreien und Stöhnen. Der jähe Ruf eines Vogels schnitt plötzlich die Töne entzwei. Es war ein Falke, Kazimierz erkannte den Klang und fuhr auf. Die Regenwand, die auf ihn zuwanderte, öffnete sich für den Bruchteil einer Sekunde, und Kazimierz sah den Feind. Träumte er? Von leichten Lederpanzern und Helmen geschützt, mit Pfeil und Bogen, Lanzen und Krummsäbeln ausgerüstet, saßen sie auf ihren kleinen Pferden. In diesem Augenblick wusste Kazimierz, was eine Horde war! Ein schwarzes Heer tauchte auf der Hügelkette auf. Es war, als würde ein Albtraum wahr werden. Doch dann löste sich der Spuk in Nichts auf. Die Luft vibrierte. Fünfundzwanzig … Der goldene Regen aus niederprasselnden Pfeilen setzte wieder ein, Kazimierz raubte er die restlichen Sinne. Er spürte noch einen festen Griff unter seinem Rippenbogen, dann wurde es dunkel um ihn.
Die Kinder schlüpften leise in die Wohnung und liefen aufgeregt zum Fenster im Wohnzimmer. Von dort aus konnte man in den Garten blicken, in dem viele graue, schwerbewaffnete Männer saßen. Ihre Schutzschilde waren aus durchsichtigem Plastik. Kugelsicheres Plexiglas, das sie fest in ihren Fäusten hielten. Es waren Rotarmisten, die Polizei des sozialistisch regierten Staates Polen. Die Schlitzaugen verrieten ihre Bruderschaft mit dem Osten. Dort trank man das Blut aus der Hirnschale seines Opfers.
„Schlitzaugen? Das kannst du doch von hier aus gar nicht sehen!“ Andrzej sah Magdalena verächtlich an.
„Habe ich gesagt, dass sie Schlitzaugen haben?“
„Ja, hast du.“
„Ich habe nur gesagt, dass sie die Hirnschale ihrer Opfer als Trinkschale benutzen und dass sie das Blut trinken. Sie glauben, dass im Blut die Seele ist und deshalb …“
„Magdalena, hör sofort mit diesen Geschichten auf! Wo hast du die nur aufgeschnappt?“ Ewa sah zu Babcia Anna, die vor ihrem Spinnrad saß und in kurzen Bewegungen mit ihrem Fuß das Pedal bearbeitete. Ihre vom Alter abgenagten Finger hielten die Wolle auf eine zauberhafte Weise, die Magdalena nicht verstand. Anna hob den Blick und schüttelte ihren grauen Kopf. Von ihr hatte das Kind so etwas gewiss nicht!
„Kinder, geht weg vom Fenster!” Ewa schnappte sich ihre Jüngste und zog sie vom Vorhang weg. Wütend riss sich Helene los und stellte sich wieder zu ihren Geschwistern.
„Was ist da los? Andrzej, jetzt sag schon!“
„Sie haben wieder welche am Kragen“, flüsterte Andrzej mit strenger Miene, um die Tragweite seiner Worte deutlich zu machen. „Drei sollen es sein. Die haben sich gegenüber im Hochhaus verschanzt.“
„Wo ist Tatuś?“, fragte Magdalena.
„Warum fragst du! Er ist noch in der Arbeit.“ Die Stimme der Mutter hatte einen Riss, als hätte man sie mit einer scharfen Klinge angeritzt.
Es klingelte an der Haustür. Ewa wurde bleich. Anna erhob sich mühselig von ihrem Hocker. Sie berührte ihre Schwiegertochter an der Schulter.
„Ich mache schon auf.“
Es war Jurek, Andrzejs Freund. Er war gekommen, weil er glaubte, bei den Zjawas sei der Blick günstiger. Er wohnte in dem Haus mit dem gehorsam blassen Gartenzaun.
„Wie bist du an den Polizisten vorbeigekommen?“
Jurek zuckte nur mit den Achseln und drängte sich zwischen die Mädchen. Eine halbe Stunde später zog die Polizei ihre Truppe ab und ließ lediglich einen Wagen zurück.