Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 10

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Sie hat dieses Parkhaus nie gern benutzt«, sagte Geoff Birley. »Aber es ist das einzige, das so nah bei ihrem Büro ist, dass sie nicht weit zu Fuß gehen muss.«

Er starrte auf seine großen blassen Hände, die hilflos auf seinen Knien lagen. Sein Alter hatte er mit einundvierzig angegeben, drei Jahre älter als seine Frau. Er war Vorarbeiter in der Versandabteilung eines der großen Auslieferungslager unmittelbar außerhalb der Stadt. Das bedeutete ohne Zweifel harte körperliche Arbeit, bei der er nie auch nur einen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht bekam.

»Das ist das Problem in dieser Stadt, wissen Sie. Es gibt nicht annähernd genug Parkplätze.«

Er sah Detective Inspector Hitchens verständnisheischend an. Diane Frys Ansicht nach war das immer ein Fehler. Doch Birleys Gesicht war blass und hatte einen geschockten Ausdruck, also konnte er momentan offensichtlich nicht anders. Man hatte ihm eine Psychologin geschickt, der es vielleicht eher gelingen würde, sich in Birley hineinzuversetzen und ihn zum Sprechen zu bringen, nachdem die Detectives gegangen waren.

»Die machen ein Geschäft nach dem anderen auf und locken immer mehr Touristen an, schaffen aber keine Parkplätze für die Leute.«

Hitchens antwortete nicht. Er überließ das Birleys Schwester, Trish Neville, einer fülligen Frau mit Schürze, die darauf bestanden hatte, Tee zu machen, den keiner anrührte.

»Geoff, ich bin sicher, der Inspector hält es nicht für angebracht, sich jetzt darüber aufzuregen«, sagte sie. »Es gibt bestimmt wichtigere Dinge, über die er sich mit dir unterhalten muss.«

Sie sprach etwas zu laut mit ihrem Bruder, als sei er ein älterer Verwandter, der senil und schwerhörig war.

»Ich weiß«, erwiderte Birley. »Aber wenn das nicht so wäre … wenn sie ihr Auto irgendwo anders in der Nähe hätte parken können, wo es sicherer ist … Wenn die Firma ihren Angestellten Parkplätze zur Verfügung stellen würde …«

Sie saßen in einem Zimmer mit niedriger Decke und kleinen Fenstern, wie es sie in vielen älteren Häusern in der Gegend gab. Die Peak-Park-Bauvorschriften hätten den Eigentümern untersagt, die Außenwände aufzubrechen und Panoramafenster einzubauen, selbst wenn diese es gewollt hätten. Es hätte nicht ins Stadtbild gepasst.

Das Zimmer wäre vermutlich dunkel und beklemmend gewesen, wenn es nicht vor kurzem mit einer leuchtenden Blumenmustertapete tapeziert und die Holzverschalung mit einem grellen weißen Anstrich versehen worden wäre. Irgendjemand, vermutlich Sandra Birley, hatte Spiegel und eine facettierte Lampe aufgehängt, um das wenige Licht einzufangen, das durch die Fenster fiel, und es im Raum zu verteilen. Fry saß in einem Sessel mit Chintz-Bezug, der zum Fenster gedreht war. Normalerweise verabscheute sie die überladene Optik von Chintz, doch zu diesem Zimmer schien sie zu passen, da sie die harten Linien der Steinwände weicher machte.

Geoff Birley war inzwischen verstummt. Er leckte sich angespannt über die Lippen, als habe er vergessen, was er sagen wollte. Er schien zu wissen, dass man etwas von ihm erwartete, war sich jedoch nicht sicher, was. Er sah zu seiner Schwester auf, die neben ihm stand wie eine wachsame Krankenschwester.

»Tja, ich meine ja nur, Trish«, sagte er. »Wegen dem Parkhaus.«

Trish Neville seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah die beiden Detectives an. Sie sind an der Reihe, schien sie zu sagen.

»Trotzdem hat Ihre Frau das Parkhaus regelmäßig benutzt, oder, Sir?«, erkundigte sich Fry.

»Ja, das hat sie«, erwiderte Birley. »Aber sie versucht immer, einen Parkplatz auf einer der unteren Ebenen zu finden, damit sie nicht bis ganz nach oben gehen muss, wenn sie länger im Büro arbeitet. Allerdings muss man dann früher kommen, wissen Sie. Man muss schon um sieben Uhr da sein, sonst bekommt man den ganzen Tag keinen mehr.«

»Und gestern Morgen war sie spät dran?«

»Sie wurde von einem Anruf aufgehalten, als sie gerade aus dem Haus gehen wollte. Es war nur ihre Mutter, die sich wie üblich wegen irgendeiner Nichtigkeit Sorgen gemacht hat. Aber Sandra muss der alten Schachtel immer ein paar Minuten zuhören und sie beruhigen. So ist Sandra nun mal – wenn sie ihre Mutter abgewürgt hätte, hätte sie den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen gehabt. Deshalb hat sie die Verspätung in Kauf genommen. Als sie in der Clappergate ankam, waren die unteren Geschosse des Parkhauses sicher schon voll. Ein paar Minuten machen einen Riesenunterschied, wissen Sie. Und in diesem Fall muss man immer weiter hoch fahren, bis man auf dem verdammten Dach ist.«

»Ihr Wagen stand nicht auf der Dach-Ebene«, sagte Fry. »Er stand eine Etage darunter, auf der achten Ebene.«

»Dann muss sie noch einen Parkplatz erwischt haben.«

Fry und Hitchens tauschten einen Blick. Die Tatsache, dass Mr. Birley noch immer davon sprach, dass seine Frau »Glück« gehabt habe, verriet ihnen, dass er die Realität noch nicht begriffen hatte. Was Sandra Birley am Abend zuvor ganz sicher nicht gehabt hatte, war Glück.

»Mr. Birley«, sagte Hitchens. »Wir glauben, dass Ihre Frau nicht den Aufzug, sondern die Treppe genommen hat, als sie zu ihrem Wagen zurückging. Obwohl der Aufzug funktioniert hat. Denken Sie, das war eine Angewohnheit von ihr?«

Die Frage schien Geoff Birley zu verwirren. »Wie meinen Sie das?«

»Hätte Ihre Frau normalerweise die Treppe benutzt, um zur achten Ebene zu kommen, anstatt den Aufzug zu nehmen?«

Birley zögerte. »Das kommt darauf an. Wie hat er denn gerochen?«

Jetzt war Hitchens an der Reihe, verdutzt dreinzublicken. »Wie bitte, Sir?«

»Der Aufzug. Wie hat er gerochen? Hat ihn irgendjemand geöffnet und hineingerochen?«

Fry war dabei gewesen, als der Aufzug untersucht worden war. Noch jetzt musste sie Gallenflüssigkeit hinunterschlucken, die ihr bei dem Gedanken an den Gestank aufstieg.

»Ja, er roch ziemlich schlecht.«

»Als hätte sich jemand drin übergeben und anschließend draufgepinkelt?«

»Ich glaube, so ähnlich hat es gerochen.«

Birley schüttelte den Kopf. »Dann wäre Sandra nicht damit gefahren. Vielleicht hat sie den Knopf gedrückt und gewartet, bis die Tür aufgegangen ist. Aber wenn es im Aufzug so schlecht gerochen hat, wie Sie sagen, hat sie ihn bestimmt nicht benutzt. Auf gar keinen Fall. Sie kann Gestank in geschlossenen Räumen nicht ausstehen. Davon wird ihr schlecht.«

»Dann glauben Sie also, sie hat die Treppe benutzt, obwohl der Aufzug funktioniert hat?«

»Ja, da bin ich mir sicher. Ganz bestimmt.«

Trish legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter, da ihr vermutlich irgendeine Gefühlsregung aufgefallen war, die Fry übersehen hatte. Sie ließ sie einige Augenblicke dort liegen, während Birley etwas tiefer durchatmete. Die beiden Detectives warteten. Fry fiel auf, dass Trishs Arme dick und fleischig waren, aber in überraschend kleinen, eleganten Händen mit langen Fingern endeten, als wären ihr die Hände einer anderen Person transplantiert worden.

»Mir geht’s gut, wirklich«, sagte Birley schließlich.

»Ihre Frau hat das Büro spät verlassen, nicht wahr, Sir?«, fragte Fry.

»Ja, das hat sie. Es gab eine Besprechung, und sie musste noch ein paar Dinge fertig machen. Sie hat bei Peak Mutual ziemlich Karriere gemacht, wissen Sie. Sie ist Account Managerin.«

»Wussten Sie, dass sie später nach Hause kommen würde?«

»Sie hat mich kurz vor halb sechs angerufen, um mir Bescheid zu geben, und mir gesagt, dass ich mit dem Essen nicht warten soll, bis sie heimkommt. Ich habe eine Pizza aus dem Gefrierfach geholt und die Hälfte für sie übrig gelassen. Eine Pizza Hawaii. Sie mag Ananas.«

Fry sah, wie Trishs Hand seine Schulter liebevoll drückte. Sie wartete auf Birleys Erkenntnis, dass der Anruf um halb sechs das letzte Gespräch mit seiner Frau gewesen war und dass Sandra nie wieder nach Hause kommen würde, um ihre Hälfte der Pizza zu essen. Doch dieser Moment kam nicht. Oder zumindest zeichnete er sich nicht in Geoff Birleys Gesicht ab.

»Waren Sie bereits zu Hause, Sir, als Mrs. Birley anrief?«

»Ja, ich hatte Frühschicht.«

»Ihre Frau hat nicht zufällig erwähnt, was sie noch fertig machen musste?«

»Nein, sie spricht nicht oft über die Arbeit. Sie erzählt mir von ihren Kollegen im Büro – ein bisschen Tratsch, Sie wissen schon. Aber sie nimmt ihre Arbeit nicht mit nach Hause. Sie ist gut in ihrem Job, aber sie sagt, dass sie die beiden Hälften ihres Lebens völlig trennen möchte.«

Man tat gut daran, das zu machen. Fry warf Hitchens einen Blick zu, woraufhin dieser nickte.

»Mr. Birley, wir müssen Ihnen diese Frage stellen«, sagte sie. »Fällt Ihnen irgendjemand ein, der einen Grund hätte, Ihrer Frau Schaden zuzufügen?«

Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein, niemand. Alle mögen Sandra. Sie streitet nie und hasst es, andere Leute zu verärgern. Wenn es bei der Arbeit irgendjemanden gäbe, mit dem sie nicht auskommt, würde sie einfach versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen.«

»Ich verstehe.«

»Es war doch nicht jemand, den Sandra kannte, oder? Ganz bestimmt war es einer von diesen Irren, die Frauen auflauern. Sie ist ihm nur zufällig zum Opfer gefallen. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Höchstwahrscheinlich, Sir«, sagte Hitchens. »Aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

Geoff Birley sah abermals zu seiner Schwester auf. Fry hatte den Eindruck, dass er jetzt zu Trish sprach, als habe die Polizei bereits sein Haus verlassen.

»Ich fände es nämlich schrecklich, wenn Sandra von jemandem überfallen worden wäre, den sie kennt. Diese Vorstellung fände ich unerträglich. Es muss doch ein Fremder gewesen sein, oder? Das ist das Einzige, woran wir uns klammern können, und zumindest ein gewisser Trost.«

»Wann haben Sie versucht, Ihre Frau auf dem Handy zu erreichen, Sir?«

»Etwa um acht Uhr, glaube ich.«

»Und da war es bereits ausgeschaltet?«

»Ja.«

Hitchens beugte sich in seinem Stuhl nach vorn, als wollte er sich jeden Moment erheben.

»Hätten Sie was dagegen, wenn wir uns kurz umsehen würden, da wir gerade hier sind, Sir?«, fragte er.

»Wonach?«

»Nach etwas, das uns helfen könnte, Ihre Frau zu finden.«

Birley sah verwirrt seine Schwester an, deren Gesicht einen verärgerten Ausdruck angenommen hatte. »Ich nehme an, das ist schon in Ordnung«, sagte er.

Die Birleys wohnten in einem freistehenden Kalkstein-Cottage mit eingezäuntem Garten. Fry vermutete, dass es im oberen Stockwerk drei bis vier Zimmer gab. Von außen war zu erkennen, dass das Haus eigentlich aus zwei Cottages mit unterschiedlich hohen Dächern bestand, die miteinander verbunden worden waren. Ein außen angebrachter Schornsteinkasten deutete darauf hin, dass es womöglich irgendwann einmal noch ein drittes Cottage in der Reihe gegeben hatte.

Fry warf zunächst einen Blick in die Küche und sah dort einen emaillierten Herd von der Sorte, die nicht nur zum Kochen, sondern gleichzeitig als Zentralheizung und zur Warmwasseraufbereitung dienten. Sie selbst war nie in der Lage gewesen, mit einem solchen Gerät umzugehen. Der Blickfang im Wohnzimmer war ein schmiedeeiserner Ofen mit geschnitzter Einfassung, der ähnlich unpraktisch aussah.

Im Esszimmer blieb Fry stehen, um einen aus Holz geschnitzten springenden Delfin zu bewundern, der auf einem Tisch in der Nähe des Kamins stand. Im hinteren Teil des Hauses war es dank einer Schiebetür, die in einen Wintergarten führte, wesentlich heller. Fry ging geradewegs durch den Wintergarten, auf dessen Kieferdielen Bastmatten lagen, hinaus in den Garten, vorbei an einer Wiese und einer Reihe erhöhter Beete, bis sie zu einem gemauerten Schuppen und einem leuchtend blau gestrichenen Gartenhäuschen kam. Weder der Schuppen noch das Gartenhäuschen barg die Leiche von Sandra Birley.

Als Fry wieder das Haus betrat, sah sie Hitchens die Treppe herunterkommen, die zu den oberen Zimmern führte. Sie schüttelte den Kopf, und sie gingen zurück ins Wohnzimmer, wo Trish Neville sie mit einem zornigen Blick empfing. Geoff starrte auf die geschnitzte Einfassung des Ofens, als suchte er in ihren dekorativen Schnörkeln nach einer tieferen Bedeutung.

»Ist das Ihr Wagen, der vor dem Haus geparkt ist, Sir?«, erkundigte sich Hitchens. »Der grüne Audi?«

»Ja. Warum?«

»Haben Sie was dagegen, wenn Detective Sergeant Fry ihn sich ansieht?«

Birley holte, ohne zu murren, die Schlüssel für den Audi. Entweder hatte er es inzwischen begriffen, oder seine Schwester hatte es ihm erklärt, während sie nicht im Zimmer gewesen waren.

Fry ging nach draußen und überprüfte den Innenraum und den Kofferraum des Wagens. Sie enthielten nichts Belastenderes als eine halb aufgebrauchte Rolle blaues elastisches Klebeband, das aussah, als könnte es aus der Versandabteilung des Auslieferungslagers stammen.

»Ich weiß nicht, was ich ohne Sandra machen soll«, sagte Birley, als sie sich bereit machten zu gehen.

»Wir wissen nicht, ob Ihre Frau tot ist, Mr. Birley«, erwiderte Hitchens.

»Was? Meinen Sie, dass sie vielleicht irgendwo gefangen gehalten wird?«

»Das ist gut möglich. Solange wir weder das eine noch das andere mit Bestimmtheit sagen können, ziehen wir alle Möglichkeiten in Betracht.«

Birley hatte begonnen, Hoffnung zu schöpfen. Doch dann ließ er den Kopf wieder hängen.

»Das sagen Sie doch bloß. Sie werden sie tot finden, nicht wahr? Das wissen Sie genau. Wieso hätte er sie denn sonst aus dem Parkhaus entführen sollen?«

»Noch können wir auf das Beste hoffen, Sir.«

Unmittelbar nachdem Hitchens gesprochen hatte, erinnerte sich Fry daran, vor nicht allzu langer Zeit selbst etwas ganz Ähnliches gesagt zu haben. Doch ihr fiel nicht mehr ein, wann und wo.

Detective Chief Inspector Oliver Kessen stand, die Hände in den Taschen, gegen den Kleintransporter der Spurensicherung gelehnt, da. »Tja, nachts muss es hier wie ausgestorben sein«, sagte er. »Lassen viele Leute ihre Autos bis zum Morgen stehen?«

Fry nahm an, dass der Detective Chief Inspector mit ihr sprach, obwohl er nicht den Anschein erweckte. Die Spurensicherung war mit Sandra Birleys Skoda fast fertig und machte sich an der Stützmauer entlang auf den Rückweg zur Rampe.

»Sehr wenige«, sagte Fry. »Es ist zu teuer.«

Sie blickte sich nach Ben Cooper um, damit er es bestätigte.

»Das ist ein Kundenparkhaus«, sagte er. »Es ist für Kurzaufenthalte gedacht. Aber einige Büroangestellte benutzen es ebenfalls, wenn sie müssen. Die anderen Parkmöglichkeiten sind oft belegt.«

»Das hat uns Mr. Birley auch gesagt«, fügte Fry hinzu.

Kessen hielt den Blick auf den Skoda gerichtet, als ob dieser jeden Moment irgendetwas tun würde. Vielleicht rechnete er damit, dass er seine Motorhaube öffnen und ein Geständnis ablegen würde.

»Der Angreifer muss gewusst haben, dass hier um diese Zeit nichts los ist.«

Fry nickte, obwohl sie wusste, dass Kessen ihre Geste nicht zur Kenntnis nehmen würde. Er hatte sie bislang kaum angesehen.

»Ja, er hat sich offenbar gut ausgekannt. Hier drin sind elf Überwachungskameras installiert – eine auf jeder Ebene und jeweils eine an der Einfahrt und an der Ausfahrt. Aber er muss genau gewusst haben, wo sie sich befinden, da ihn offensichtlich keine davon erfasst hat, wie wir vom Parkwächter erfahren haben.«

Liz Petty von der Spurensicherung sah zu ihnen herüber und lächelte. Fry dachte, sie habe irgendetwas Interessantes entdeckt, doch dann fuhr sie damit fort, die Kante der Wand in der Nähe von Sandra Birleys Wagen einzupudern. Detective Inspector Hitchens leitete währenddessen die Durchsuchung des Treppenhauses, des Aufzugs und der betonierten Parkbuchten zwischen ihnen und dem Auto. Die achte Ebene war komplett abgesperrt worden, was bedeutete, dass auch niemand auf das Dach des Parkhauses gelangen konnte. Abgesehen von dem Skoda gehörten sämtliche hier abgestellten Fahrzeuge der Polizei.

»Gibt’s nur einen Parkwächter?«, fragte Kessen.

»Zu dieser Tageszeit, ja. Er hat ein kleines Büro auf der ersten Ebene und überwacht von dort aus die Kameras.«

»Jemand muss sich das gesamte Filmmaterial ansehen.«

»Ja, Sir.«

Der Anblick der im Parkhaus abgestellten Fahrzeuge erinnerte Fry daran, dass bei ihrem Peugeot in diesem Monat die Hauptuntersuchung fällig war. Sie musste das Datum im Fahrzeugschein überprüfen – vermutlich lief die Frist in ein paar Tagen ab. Beim Steuern eines Fahrzeugs ohne Prüfplakette erwischt zu werden, war dem Ruf einer Polizistin nicht gerade zuträglich.

Die Sperrung der beiden obersten Parkebenen sorgte offenbar für Chaos. Das »Belegt«-Schild an der Einfahrt hatte bereits geleuchtet, als die ersten Polizisten eingetroffen waren, um Sandra Birleys Wagen unter die Lupe zu nehmen. Jetzt hielten unentwegt frustrierte Autofahrer vor der Schranke im Erdgeschoss und stießen anschließend wieder zurück.

»Was ist mit den Aufzügen?«, fragte Fry.

»Die werden täglich gereinigt«, erwiderte Cooper. »Die Kabinen sind extra so konzipiert, dass sie sich leicht säubern und desinfizieren lassen. Anscheinend ist das ein bekanntes Problem.«

»Und ich dachte, das wäre nur ein Problem in den Hochhaus-Sozialwohnungssiedlungen von Birmingham«, sagte Fry. »Ihr habt ein paar ziemlich schmutzige Angewohnheiten nach Derbyshire importiert, nicht wahr?«

»Tja, ich habe vor ein paar Minuten die Reinigungsfirma ausfindig gemacht. Dort hat man mir versichert, dass der Aufzug im Hardwick-Lane-Parkhaus gestern am frühen Morgen gründlich geputzt worden ist. Er dürfte also nach nichts anderem als nach Industrie-Desinfektionsmittel mit einer Brise Kiefernwaldduft gerochen haben, als Mrs. Birley ankam.«

»Als sie ankam, ja. Aber irgendein Ferkel muss sich darin zu schaffen gemacht haben, bevor sie am Abend zu ihrem Auto wollte.«

»Denken Sie, es wäre sicherer gewesen, wenn sie den Aufzug genommen hätte?«

Fry ging auf den Detective Chief Inspector zu und deutete auf den Skoda, der noch von Mitarbeitern der Spurensicherung in ihren Schutzanzügen umringt wurde. Bisher handelte es sich nicht um einen Mordfall, nicht ohne eine Leiche. Kessen würde also bald wieder verschwinden. Er sollte jedoch erfahren, wer bereits im Anfangsstadium gute Ideen hatte.

»Na ja, sehen Sie sich doch mal den Grundriss dieser Ebene an«, sagte sie. »Wenn Sandra Birley den Aufzug benutzt hätte, wären es nur ein paar Schritte bis zu ihrem Wagen gewesen. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, dass sie sich genau diesen Parkplatz ausgesucht hat, weil er sich in der Nähe des Aufzugs befindet. Der Ausgang vom Treppenhaus ist dagegen fast fünfzig Meter weit weg, was bedeutet, dass sie auf dem Weg zu ihrem Auto an der Abfahrtsrampe von der neunten Ebene vorbeigehen musste.«

»Wo der Angreifer hinter der Betonleitplanke auf sie gewartet haben könnte.«

»Genau.«

»Also hat sie sich mit ihrer Pingeligkeit selbst in Gefahr gebracht.«

Detective Inspector Hitchens kam mit rotem Kopf und leicht außer Atem vom Treppenhaus her auf sie zugetrottet, gefolgt von Wayne Abbott, dem Leiter der Spurensicherung, der ungefähr genauso alt war wie Hitchens, aber wesentlich fitter wirkte.

Abbott war kürzlich zum Leiter der örtlichen Spurensicherung befördert worden, nachdem er im Fortbildungszentrum in der Nähe von Durham einen Kurs in Kriminaltechnik absolviert hatte. Fry war nicht gerade erpicht darauf, an einem Tatort mit ihm zu tun zu haben. Sein aggressiv kahl geschorener Kopf und sein permanenter Dreitagebart ließen auf einen Testosteronüberschuss schließen. Seit sie Abbott zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, fragte sie sich, warum er Zivilpolizist war. Er hätte eigentlich mit voller Ordnungshütermontur ausgestattet sein, einen Schlagstock schwingen und Türen eintreten sollen.

»Sir, die schlechte Nachricht ist, dass nur die Hälfte der Überwachungskameras hier funktioniert«, sagte Hitchens. »Bei den übrigen handelt es sich nur um Attrappen.«

Kessen fluchte leise. »Und die auf der achten Ebene?«

»Eine der Attrappen.«

»Verdammter Mist.«

»Die Kamera an der Ausfahrt funktioniert allerdings, Sir. Wir können uns die Kennzeichen aller Fahrzeuge besorgen, die das Parkhaus nach dem Zwischenfall verlassen haben.«

»So dumm war er ganz bestimmt nicht«, sagte Kessen. »Ich möchte wetten, dass er zu Fuß unterwegs war.«

»Das würde die Sache viel komplizierter machen, als jemanden zu zwingen, in ein Fahrzeug einzusteigen.«

»Aber es ist die einzige Möglichkeit, wie man den Kameras entgehen kann. Und was ist mit dem Fußgängerzugang?«

»Zwei Treppen, eine auf jeder Seite. Am Eingang befinden sich Aufzüge zum Einkaufszentrum. Der Angreifer hätte aber auch über die Autorampen nach unten gelangen können. Das wäre tagsüber, wenn viel los ist, zwar ziemlich riskant, aber nach sieben Uhr ist es hier so ruhig, dass er es leicht geschafft hätte. Und er hätte jedes Auto schon von weitem kommen hören. Ist Ihnen aufgefallen, wie weit sich Geräusche hier drin übertragen?«

»Ja, das ist mir aufgefallen.«

»Aber hätten ihn die Kameras nicht wenigstens auf einer von den Ebenen einfangen müssen?«, warf Fry ein.

»Ja, da haben Sie recht, Detective Sergeant Fry.« Kessen blickte nachdenklich drein. »Wer hat mit dem Parkwächter gesprochen?«

»Die Streifenpolizisten, die als erste vor Ort waren. Inzwischen ist sein Vorgesetzter ebenfalls da. Er hat sofort in der Zentrale angerufen, als wir ankamen.«

»Wir müssen uns ihn noch mal vorknöpfen«, sagte Kessen. »Wenn es gestern Abend hier drin so ruhig war, würde mich interessieren, was der Parkwächter da unten eigentlich gemacht hat.«

Hitchens wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab. Er musste wirklich ziemlich abgebaut haben, wenn er nicht einmal mehr ein paar Treppen hinaufgehen konnte, ohne dabei fast einen Herzinfarkt zu bekommen.

»Zumindest hat er den Schrei gehört«, sagte er.

»Ach ja, der Schrei.«

»Das hilft uns beim Timing.«

»Tja, nur schade, dass er nicht schneller reagiert und hier raufgekommen ist, anstatt seine kleinen Bildschirme anzuglotzen und sich zu fragen, ob er im falschen Film ist.«

»Seiner ursprünglichen Aussage zufolge war niemand da, als er heraufkam, um nachzusehen, also dachte er, es wären Kinder gewesen, die draußen gespielt haben.«

»Und dann hat er wahrscheinlich seine Teepause fortgesetzt«, sagte Kessen.

Hitchens zuckte mit den Schultern. »Der Mobilfunknetzbetreiber hat das Abmeldesignal von Sandra Birleys Handy verzeichnet. Ich glaube allerdings kaum, dass uns das unter den gegebenen Umständen weiterhelfen wird.«

Das zertrümmerte Mobiltelefon war von der Spurensicherung ebenso eingetütet worden wie die Kunststoffbruchstücke, die der Reifen eines Daihatsu-Geländewagens auf der achten Ebene verteilt hatte, nachdem er es überfahren hatte. Anhand der SIM-Karte würde sich das Telefon zweifelsfrei identifizieren lassen, doch es passte ohnehin auf die Beschreibung, die Geoff Birley ihnen gegeben hatte: ein Nokia mit rotem Gehäuse und weichem Lederetui.

Fry ging zur Außenwand des Parkhauses und blickte auf die Gebäude in der Clappergate hinunter. Weit unten liefen mehrere Jugendliche mit Rucksäcken und Skateboards vorbei und pfiffen durch die Zähne, als sie die Fußgängerzone betraten. Sie rüttelte an dem Maschendrahtzaun, der jedoch keinen Zentimeter nachgab.

Eine Bewegung erregte Frys Aufmerksamkeit, und sie erblickte abermals Liz Petty, die zum Kleintransporter der Spurensicherung ging, um mit Abbott, ihrem neuen Vorgesetzten, zu sprechen. Sie hatte ihre Kapuze vom Kopf geschoben und hatte ein gerötetes Gesicht. Vor allem die Mitarbeiterinnen der Spurensicherung trugen die Kapuzen ihrer Schutzanzüge nicht gerne, wenn es sich vermeiden ließ. Petty strich sich das Haar nach hinten und versuchte, es am Hinterkopf mit einer Haarspange zu bändigen. Sie sah, dass Fry sie beobachtete, und lächelte erneut.

»Ich werde alles Nötige veranlassen, Sir«, sagte Hitchens. »Detective Sergeant Fry und ich haben einen Termin mit der Psychologin.«

»Wegen der Anrufe?«, fragte Kessen.

»Ja, Sir.«

»Ich nehme an, wir haben keinen Anruf erhalten, seit Mrs. Birley verschwunden ist?«

»Nein. Und es ist schwer zu sagen, ob wir auf einen hoffen sollten oder nicht.«

»Dann wüssten wir zumindest, woran wir sind. Sie müssen in diesem Fall die richtige Entscheidung treffen, Paul.«

Fry hatte ein wenig Mitleid mit Hitchens. In neun von zehn Fällen verschwanden Menschen aus anderen Gründen, vor allem Erwachsene. In der Regel tauchten sie gesund und munter wieder auf und wunderten sich über all den Wirbel, den sie erzeugt hatten. Wenn eine überstürzte Entscheidung getroffen wurde, konnten eine Menge Zeit und Arbeitskraft verschwendet werden.

Bis auf weiteres war Hitchens derjenige, der diese Entscheidung treffen musste. Er würde auf handfeste Beweise für ein schwerwiegendes Verbrechen bestehen, ehe er den Alarmknopf drückte. Eine vage Botschaft von einer verwirrten Person stellte keine angemessene Rechtfertigung dar und würde auf dem Papier nicht gut aussehen, wenn geprüft wurde, wie der Detective Inspector den Fall gehandhabt hatte. Wenn man jedoch einen Schrei in der Nacht, ein kaputtes Mobiltelefon und eine vermisste Frau addierte, wurde die Gleichung schon wesentlich komplizierter. Fry konnte für Sandra Birley nur hoffen, dass sie aufging.

Todesstätte

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