Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 9

Оглавление

4

Vor dem Haus von Tom Jarvis war ein Motorrad geparkt, und auf der Koppel rosteten einige Blechhaufen vor sich hin. Der Regen, der schon den ganzen Vormittag fiel, sorgte im hohen Gras für ein sporadisches Prasseln, als träfen die Tropfen auf etwas Metallisches und Hohles wie ein Autodach.

Ben Cooper blieb auf halbem Weg stehen, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Ja, der größte Haufen war früher einmal ein Auto gewesen – vielleicht ein alter Datsun Sunny, der schokoladenbraunen Lackierung nach zu urteilen. Daneben standen die Überreste einer Gefriertruhe und ein Schweinetransportanhänger mit gebrochenem Chassis. Sie alle hatten seit langem keinem sinnvollen Zweck mehr gedient und bestenfalls Insekten und Nagetieren Unterschlupf geboten. Durch das Bodenblech des Datsun wuchs blasses Farnkraut, und in seinen Radhäusern wucherten Nesseln, deren stachelige Blätter die platten Reifen umrankten. Nachdem der Sommer sich inzwischen seinem Ende zuneigte, begannen die Nesseln zu sterben wie alles andere auch.

Cooper spürte, wie die Feuchtigkeit seinen Hosensaum durchdrang, als er durch die Wiese stapfte. In der tief gelegenen Gegend von Litton Foot war es vermutlich auch dann feucht, wenn es nicht regnete. Weiße Baumschwämme sprossen überall dort, wo sie ein Stückchen Oberfläche gefunden hatten, die weich genug war, damit sie ihre Sporen setzen konnten. Sie wuchsen in mehreren Schichten auf der Gummidichtung am Deckel der ausrangierten Gefriertruhe und auf dem bröckelnden Isolierschaum hinter dem Armaturenbrett des Autos.

Er sah, dass auf der Koppel noch andere rostige Wracks herumstanden und weitere zwischen den Dornensträuchern versteckt waren, die um ein Gatter wuchsen, das zum Wald hinunterführte. Doch es war einfach zu nass, und Cooper war nicht neugierig genug, um auf Erkundung zu gehen.

Auf der Holzveranda, die hinten am Haus angebaut war, stand ein Mann in Jeans und dickem Pullover und beobachtete ihn. Cooper hoffte, dass er nicht allzu interessiert in den heruntergekommenen Datsun gelugt hatte. Der Gesichtsausdruck des Mannes glich dem eines Gebrauchtwagenverkäufers, der einen nahenden Kunden erspäht hat: raubtierhaft, aber dennoch bereit, seinen Charme spielen zu lassen. Cooper spürte, wie er taxiert wurde.

»Mr. Jarvis?«, rief er.

»Ja. Was kann ich für Sie tun?«

Bevor Cooper antwortete, näherte er sich noch ein Stück. Er musste aufpassen, wohin er trat, um nicht auf eines der verrosteten Metallteile zu steigen, die im Gras herumlagen.

Als er näher kam, sah er, dass die Veranda offenbar aus alten Balken errichtet worden war, die ursprünglich aus einer umgebauten Kapelle oder einem Klassenzimmer stammten. Bei den Brettern, auf denen Mr. Jarvis stand, handelte es sich um wuchtige Bohlen aus verwittertem Eichenholz voller Astlöcher und den Köpfen fünfzehn Zentimeter langer Nägel, die versenkt und überstrichen worden waren. Hier und da waren durch die Versiegelung noch Flecken schwarzer Farbe zu sehen. Die ganze Konstruktion musste mindestens eine Tonne wiegen – für Tom Jarvis kam offensichtlich kein modernes Kiefernholzdeck aus dem Baumarkt in Frage.

»Detective Constable Cooper, Sir. Kriminalpolizei Edendale.«

Cooper war eine Vielzahl von Reaktionen gewöhnt, wenn er sich vorstellte. Er war nur selten ein willkommener Besucher, auch bei denjenigen, die kürzlich Opfer eines Verbrechens geworden waren. Außerdem wurde er oft zur Zielscheibe ihrer Wut. Tom Jarvis zeigte sich jedoch weder überrascht noch besorgt, nur ein wenig enttäuscht, dass er doch keinen Käufer für den alten Datsun gefunden hatte.

»Wollen Sie was Bestimmtes?«, erkundigte er sich.

»Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Sir? Kein Grund zur Sorge – nur Routine.«

»Dann kommen Sie mal herauf.«

Die Veranda befand sich ziemlich weit über dem Boden, und Mr. Jarvis sah aus einer Höhe von knapp drei Metern zu ihm herunter. Cooper hätte zu ihm hinaufklettern können, doch er fürchtete, sich dabei lächerlich zu machen. Stattdessen ging er auf die andere Seite hinüber, von wo eine breite Holztreppe nach unten zu einem Pfad in den Wald führte.

Als er die Treppe hinaufging, hatte er das Gefühl, eine Bühne zu betreten, was er seit der Zeugnisverleihung nicht mehr getan hatte. Einen Augenblick lang fühlte Cooper sich genauso verwundbar wie damals, als er überzeugt gewesen war, dass er über die oberste Stufe stolpern und vor den Augen von achthundert Schülern und Eltern auf die Nase fallen würde.

»Wie geht’s Ihnen, Mr. Jarvis?«, sagte er.

»Gut. Mir geht’s gut.«

»Diese Veranda ist eine solide Arbeit, Sir. Haben Sie die selber gebaut?«

»Meine Söhne haben mir ein bisschen geholfen. Ich war früher Tischler, aber das war schon eine Herausforderung. Ich wollte etwas haben, das auch hält, nicht irgend so einen Schrott, der beim ersten Sturm umfällt.«

»Das wird mit dieser hier bestimmt nicht passieren.«

Jarvis trat nachdenklich gegen einen Pfosten. Sein Stiefel prallte mit einem dumpfen Geräusch dagegen. »Nein, vermutlich nicht.«

Cooper griff nach dem Handlauf, um die letzte Stufe zu erklimmen. Das Holz fühlte sich angenehm glatt an, und er sah, dass es in dekorativen Mustern gedrechselt war wie das Ende einer Kirchenbank. Es hatte die Art von Glätte, die von der Berührung zahlloser Hände nach jahrhundertelangem Gebrauch herrührte, woher auch immer es ursprünglich stammen mochte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Jarvis vom anderen Ende der Veranda zu ihm. »Sie werden Sie in Ruhe lassen. Zu dieser Tageszeit schlafen sie immer, und es wäre ein Erdbeben nötig, um sie aufzuwecken.«

Cooper sah verdutzt auf. Vier riesige Mischlingshunde lagen wie ein zusammengeknüllter Teppich in einem verhedderten Haufen auf der Veranda. Zumindest glaubte er, dass es vier waren. Irgendwo in der Mitte des Haufens hätten auch noch ein oder zwei weitere zottelige Köpfe sein können, ohne dass es einen großen Unterschied gemacht hätte.

»Wie heißen sie denn?«, fragte er, da er wusste, dass es bei den Leuten immer gut ankam, wenn man Interesse an ihren Haustieren zeigte.

Jarvis schnitt eine Grimasse in Richtung der Hunde. »Feckless, Pointless, Graceless und Aimless.«

»Tatsächlich?«

»Fragen Sie mich nicht, warum. Das war ihre Idee.«

»Wessen Idee?«

Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Haus. »Ihre. Die von meiner Frau.«

»Tja, eigentlich brauche ich gar nicht zu fragen, warum. Mrs. Jarvis muss ein Fan der Fernsehserie Cold Comfort Farm sein. Von den Starkadders und von Tante Ada Doom.«

»Tante wer?«

»Ada Doom.«

Jarvis zuckte mit den Schultern, und sein Gesichtsausdruck war nicht zu entschlüsseln. »Wenn Sie das sagen.«

Cooper stieg vorsichtig über die Hunde. Keiner von ihnen bewegte sich oder öffnete auch nur ein Auge, um ihn anzusehen. Aus dem Haufen schienen Unmengen von schmutzigen Pfoten und dreckigen Schwänzen herauszuragen, die sich auf den Eichendielen ausbreiteten. Doch Mr. Jarvis hatte von nur vier Hunden gesprochen, und Cooper musste ihm glauben.

»Nur Routine«, sagte Jarvis. »Das sagen Sie doch immer. Bekommen Sie das auf der Polizeischule beigebracht?«

Cooper lachte. »Ja. Aber ich meine es ausnahmsweise mal ernst.«

Jarvis nickte ihm kurz zu. »Dann haben Sie bestimmt Zeit für ein Bier, wenn es nur Routine ist.«

»Nein, Sir. Vielen Dank.«

»Wie Sie wollen.«

»Es geht um die sterblichen Reste, die am Rand Ihres Grundstücks gefunden wurden«, sagte Cooper.

»Meine Güte, das ist schon Wochen her. Haben Sie rausgefunden, wer der arme Kerl war?«

»Noch nicht.«

»Irgendein Hippie, nehme ich an«, sagte Jarvis.

Cooper musste über den altmodischen Begriff schmunzeln. Sein Großvater hatte jeden Menschen mit langem Haar so bezeichnet; er hatte den Ausdruck in den 60er-Jahren aufgeschnappt und in seinen Wortschatz übernommen.

»Wie kommen Sie darauf, Sir?«

»Na ja, es war ja nur noch das Skelett übrig. Diese Person muss jahrelang dort gelegen haben. Und trotzdem hat sie niemand vermisst.«

»Vielleicht.«

Cooper holte die Fotos hervor, die ihm Suzi Lee gegeben hatte. »Das ist eine Gesichtsrekonstruktion. Erinnert sie Sie vielleicht an jemanden, den Sie irgendwann hier in der Gegend gesehen haben?«

»Der Tote?«, fragte Jarvis und griff nach den Fotos.

»Ja, Sir. Wir haben sie von einer forensischen Rekonstrukteurin anfertigen lassen, also ist die Ähnlichkeit nicht hundertprozentig. Wir hoffen, damit irgendjemandes Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.«

Jarvis nahm die Fotos recht zögerlich entgegen. Beim Anblick des Gesichts runzelte er die Stirn, da er vermutlich zuerst den Gesamteindruck zur Kenntnis nahm, ehe er sein Augenmerk auf die Details richtete, die unter Umständen wiederzuerkennen waren.

»Eine Frau«, stellte er fest.

»Ja, Sir. So viel wissen wir zumindest. Sie war eine Weiße, zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt, einen Meter siebzig groß. Die Haare und die Augen stimmen womöglich nicht ganz.«

Jarvis schwieg und starrte die Fotos an. Cooper wartete geduldig und war sich der Feuchtigkeit unter seinem Kragen und der Wasserpfütze bewusst, die sich neben seinen Füßen bildete, als der Regen von seiner Bekleidung auf die Veranda lief.

»Fällt Ihnen dazu irgendwas ein, Sir?«, fragte er.

Doch Jarvis schüttelte den Kopf. »Schon seltsam, wenn man sich vorstellt, dass sie mausetot gleich da unten lag. Da wird mir schon ein bisschen komisch zumute.«

»Das kann ich verstehen.«

»Sie sieht allerdings nicht wie ein Hippie aus.«

»Nein«, stimmte Cooper ihm zu. »Das tut sie nicht.«

Jarvis gab ihm die Fotos zurück. »Ich hätte nie gedacht, dass es eine Frau ist. Das hat mir keiner gesagt.«

»Hätten Sie was dagegen, wenn ich mir die Stelle ansehe, an der die Überreste gefunden wurden, da ich gerade hier bin?«, fragte Cooper.

»Wenn Sie möchten. Aber da gibt’s nicht viel zu sehen.«

Als Cooper sich umdrehte, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Einer der Hunde huschte durch die Wiese auf den Wald zu. An seinen Flanken hingen verfilzte Haarklumpen, und seine Beine flogen in alle Richtungen, während seine Zunge Speicheltropfen versprühte. Der Hund hatte einen merkwürdigen Gang – er bewegte sich beinahe seitwärts voran, wobei eine Schulter in die Richtung zeigte, in die er lief, sein Kopf jedoch zur Seite gedreht war wie der eines Zirkusclowns, der das Publikum angrinst. Cooper hatte keine Ahnung, um welchen der Hunde es sich handelte, doch er wusste, welcher Name am besten zu ihm passen würde.

»Ja, das ist Graceless«, sagte Jarvis. »Das einzige Weibchen in der Meute. Ein liebenswertes Wesen hat sie. Allerdings ist sie hässlich wie die Nacht.«

»Ja, das sehe ich.«

Graceless schien der einzige der Hunde zu sein, der genug Energie besaß, um den Wald zu erreichen. Feckless, Pointless und Aimless lagen auf der Veranda und beobachteten sie mit müdem, herablassendem Gesichtsausdruck. Einer von ihnen gähnte lange, ließ den Kopf mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fallen und sah die beiden Männer mit rollenden Augen an.

»Sie hoffen, dass es bald was zu fressen gibt«, sagte Jarvis. »Das sind faule Säcke. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich ihnen ein Dach über dem Kopf gebe.«

»Taugen sie wenigstens was als Wachhunde?«

Jarvis schnaubte verächtlich. »Wachhunde? Tja, wenn ich ihnen beibringen könnte, an den richtigen Plätzen zu schlafen, würde ein Einbrecher vielleicht im Dunkeln über sie stolpern. Aber mehr braucht man nicht zu erwarten.«

»Trotzdem, groß genug sind sie ja«, erwiderte Cooper. »Allein ihr Anblick könnte Einbrecher abschrecken.«

»Ja, schon möglich.«

Doch Jarvis schien nicht überzeugt zu sein. Vielleicht betrachtete er das Leben generell mit Skepsis, nachdem er schon so lange am feuchten Ende des Tals lebte. Bei Litton Foot standen die Aussichten immer auf Regen. Wahrscheinlich hätte er genauso reagiert, wenn Cooper ihm gesagt hätte, dass eines Tages die Sonne herauskommen würde. Ja, schon möglich.

Jarvis stieg die Stufen hinunter und ging den Pfad entlang, ohne sich umzusehen, ob Cooper ihm folgte.

»Graceless mag Menschen wirklich sehr gern«, sagte er. »Jedes Mal, wenn jemand zum Haus kommt, versucht sie …«

»Was?«

»Na ja, dann möchte sie an seiner Hose schnüffeln, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»An seiner Hose?«

»Wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Oh, ja.«

»Das mag nicht jeder«, sagte Jarvis.

»Ja, das kann ich mir vorstellen.«

»Aber sie ist nur freundlich. Es wäre Zeitverschwendung, wenn ich versuchen würde, ihr das abzugewöhnen. Sie ist ein großes Mädchen, und sie macht, was sie will. Sie meint das nicht böse, aber manche Leute bekommen einen falschen Eindruck, wenn sie sie kommen sehen.«

»Ja.«

»Sie hasst das«, sagte Jarvis und machte abermals eine Kopfbewegung.

»Ihre Frau? Tja, es ist bestimmt ein bisschen peinlich, wenn Besuch kommt.«

»Was für Besuch?«

»Laufen die Geschäfte nicht gut, Sir?«

Jarvis warf ihm einen verdrießlichen Blick zu und wischte sich an den Hosenbeinen seiner Jeans die Feuchtigkeit von den Händen ab.

Auf der Veranda war es trocken gewesen, doch jetzt war Cooper froh, dass er seine Jacke angezogen hatte, als er aus dem Auto ausgestiegen war. Es war diejenige, die er übers Wochenende in die Black Mountains mitgenommen hatte, deshalb waren ihre Taschen voll mit allem möglichen Krimskrams, doch sie hielt ihn trocken, als er im Regen durch das hohe Gras stapfte.

Litton Foot lag tief im Ravensdale-Tal, oberhalb der Ortschaft Cressbrook. Neben dem Bach zogen sich tiefe und feuchte Eschenwälder dahin. Um die hohen, schlanken Stämme der Bäume rankte Efeu und wand sich spiralenförmig in den Blätter-Baldachin hinauf, wo er ein wenig Sonnenlicht suchte. Am Boden war alles so dick von Moos bedeckt, dass man nur mit Mühe feststellen konnte, ob es sich um Steine handelte, ob um Holz oder um irgendetwas, das in der feuchten Luft langsam verrottete.

Cooper wusste, dass ein Stück flussabwärts zwei Reihen von Cottages standen, die für die Arbeiter in der Cressbrook Mill errichtet worden waren, doch sie waren von hier aus nicht zu sehen. Dort unten lagen Trittsteine im Wasser, die Kletterern helfen sollten, die Kalksteinwände der Ravensdale Craigs zu erreichen. An den feuchten Ufern des Baches wuchsen Pflanzen, die Cooper nicht kannte und die aussahen wie drei Meter hohe Wiesen-Kerbel mit violettem Stamm und gepunkteten, mit winzigen Stacheln übersäten Blattstängeln.

»Am unteren Rand Ihres Grundstücks gibt’s einen Fußweg, nicht wahr, Sir?«, sagte er.

»Der Fußweg ist nicht das Problem«, erwiderte Jarvis. »Soweit ich weiß, gibt’s den schon seit Jahrhunderten. Es ist das neue Gesetz, das sie eingeführt haben. Dieses … wie heißt es gleich? Das allgemeine Wegerecht. Manche Leute denken, sie dürften jetzt überall rumlatschen. Ein paar sind sogar über die Koppel gelaufen und wollten das Wehr überqueren. Ich gebe zu, dass ich mich kaputtgelacht habe, als eine von ihnen in den Bach gefallen ist. So wie die geplärrt hat, war sie nahe dran abzusaufen.«

Schließlich kamen sie bei der Stelle an, wo der Boden um die sterblichen Reste der unidentifizierten Frau aufgegraben worden war. An den Stämmen der umstehenden Bäume befand sich noch blau-weißes Polizei-Absperrband, das inzwischen zum Teil in triefnassen Strähnen zu Boden hing, während ein loses Ende sporadisch in der Brise flatterte. Cooper konnte nicht mehr erkennen, wie groß der Bereich war, über den sich die Suche erstreckt hatte.

Er hatte zwar keine Fotos vom Tatort mitgenommen, konnte sich aber noch gut genug an sie erinnern, um sich ein Bild von der Position des Skeletts machen zu können. Der Schädel hatte sich am hinteren Ende der Ausgrabung befunden, in der Nähe der Wurzeln einer Esche. Die Arme waren am Ellbogen leicht gebeugt gewesen, sodass die fleischlosen Hände irgendwo in der Beckengegend geruht hatten, während die Beine ausgestreckt und dicht nebeneinander dagelegen hatten, mit den Füßen ungefähr dort, wo er jetzt stand.

Cooper blickte durch den Baldachin aus Bäumen nach oben, um die Sonne zu orten. Die Wolkendecke war nicht dick, und so war trotz des Regens ein schwaches Schimmern zu erkennen. Weiter oben, auf den Mooren, fand er sich immer zurecht, wenn die Sonne zu sehen war. Doch hier unten, inmitten der gewundenen Täler und abfallenden Böschungen, konnte man leicht die Orientierung verlieren.

Der überwiegende Teil des vorhandenen Sonnenlichts schien aus der Richtung der Bäume zu seiner Linken zu kommen. Da es Vormittag war, musste dort ungefähr Südosten liegen. Cooper klopfte die Taschen seiner Jacke ab. Er war sich sicher, dass irgendwo … ah, ja. Er holte einen kleinen Kompass hervor und drehte ihn, bis die Nadel nach Norden zeigte. Dann warf er wieder einen Blick auf das Grab. Der Kopf dort, die Füße hier. Er nickte. Aber wahrscheinlich hatte das nichts zu bedeuten.

»Was machen Sie da?«, fragte Jarvis.

Cooper hatte ihn fast vergessen. Der Mann war so schweigsam und regungslos gewesen, als sei er mit den Bäumen verschmolzen. Er stand unter den Ästen einer Eiche, von denen Wasser auf seinen Pullover tropfte, da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, eine Jacke anzuziehen, bevor sie zum Bach gegangen waren. In ein paar Minuten würde er ebenso nass sein wie der Boden, auf dem er stand.

»Nichts Wichtiges, Sir«, erwiderte Cooper. »Ich überprüfe nur ein paar Details.«

»Routine?«

Jarvis sprach das Wort aus, als fasste es alles zusammen, woran die Welt krankte. Diese Welt, die ihn nicht in Ruhe auf seiner Veranda bei seinen Hunden sitzen ließ.

»Was befindet sich auf der anderen Seite der Wälder?«, erkundigte sich Cooper und deutete über den Bach nach Osten.

»Das gehört zum Alder-Hall-Anwesen.«

»Davon habe ich noch nie was gehört.«

»Es ist nicht gerade Chatsworth House – obwohl es jetzt angeblich wieder dem Herzog gehört. Auf jeden Fall steht das Haus seit zwei Jahren leer. Der Bach bildet die Grundstücksgrenze.«

»Aber dort oberhalb der Bäume steht ein Zaun. Sieht so aus, als sollte der die Grenze sein.«

»Der Zaun ist neu. Er markiert das Ende des zugänglichen Bereichs.«

»Ach so.«

Die Spaziergänger, die bei Litton Foot die menschlichen Überreste gefunden hatten, waren nur aufgrund ihrer neuen Freiheit nach dem Countryside and Rights of Way Act hier gewesen. Das so genannte »allgemeine Wegerecht« hatte hundertfünfzig Quadratmeilen Privatgrund erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ansonsten wären die Überreste der Leiche womöglich noch Jahre unentdeckt geblieben. An einem anderen Ort wären sie jedoch vermutlich bereits vor Monaten von jemandem gefunden worden, ehe sie so weit verwest waren, dass keine Hoffnung mehr bestand, sie zu identifizieren.

»Schlimme Sache, dass es eine Frau war«, stellte Jarvis fest.

»Ja.«

»Sie weiß das nicht. Meine Frau, meine ich. Solche Sachen machen sie nervös. Sie hasst es, wenn Spaziergänger über unser Grundstück laufen. Aber wahrscheinlich sollte ich es ihr lieber sagen.«

»Es wird sowieso in der Zeitung stehen«, sagte Cooper.

»Ja.«

Cooper wäre beinahe ausgerutscht und stützte sich mit der Hand an einer Mauer ab. Das Moos, das sie bedeckte, war dick und fühlte sich faserig an wie ein billiger Teppich, der bei einer Überschwemmung durchnässt worden und nie wieder getrocknet war. Es saugte das Wasser ebenso gut wie ein Schwamm auf, und kein Lufthauch konnte eindringen. Als Cooper die Hand wieder von der Mauer nahm, rochen seine Finger feucht und holzig.

»Also, vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, Sir«, sagte er. »Ich glaube, ich habe jetzt alles, was ich brauche.«

»Ja? Dann brauchen Sie aber nicht viel.«

Als sie zum Haus zurückgingen, bemerkte Cooper neben der Koppel ein Gehege. Auf einer Betonfläche stand eine Reihe alter Schweineställe, die von schlammigem Boden und einer Steinmauer umgeben waren, der Mörtel zusätzliche Stabilität verlieh.

»Züchten Sie Vieh, Mr. Jarvis?«, fragte er.

»Nein. Die Hunde sind schon genug Vieh für mich.«

Cooper griff in eine Innentasche, um nach einer Visitenkarte zu suchen.

»Falls Sie sich an irgendjemanden erinnern, Sir – ich meine, falls die Gesichtsrekonstruktion später noch irgendwelche Erinnerungen wachrufen sollte –, geben Sie uns Bescheid, ja? Die Fotos müssten eigentlich morgen oder übermorgen in der Zeitung sein. Sie können mich im Büro unter dieser Nummer erreichen oder mir eine Nachricht hinterlassen.«

Jarvis nahm die Karte und warf einen Blick darauf, ehe er sie in irgendeiner Tasche verstaute.

»Cooper. Das sind Sie, oder?«

»Ja, Sir.«

Cooper machte sich auf die unvermeidliche Frage gefasst. Tom Jarvis war ein Einheimischer. Er wusste bestimmt alles über Coopers Vater und wie er zu Tode gekommen war. Erinnerungen hielten sich in dieser Gegend eine Weile, und er rechnete nicht damit, ihnen jemals entkommen zu können, ganz egal, wie lange er lebte.

Doch Jarvis warf ihm nur einen fragenden Blick zu und tat nicht mehr, als eine Augenbraue hochzuziehen, während in seinen dunklen Augen ein wissender Ausdruck aufflackerte. Und Cooper stellte plötzlich fest, wie sympathisch der Mann ihm war.

Als er durch den überwucherten Garten zurückging, waren die einzigen Geräusche das Rascheln seiner Schritte im nassen Gras und das Prasseln der Regentropfen auf verrostetem Blech. Der Ort hatte etwas Heruntergekommenes und vermittelte den Eindruck, dass hier alles in Frieden verrotten konnte.

Tom Jarvis begleitete ihn nicht zum Tor, sondern blieb auf der obersten Treppenstufe zur Veranda stehen und sah ihm nach, während seine Hunde zu seinen Füßen lagen. Als Cooper bei seinem Auto ankam, drehte er sich noch einmal um, um sich zu verabschieden.

»Graceless hat mich gar nicht belästigt, während ich hier war«, sagte er.

»Stimmt, da haben Sie recht«, erwiderte Jarvis. »Dann steht das alte Mädchen anscheinend nicht auf Sie.«

Diane Fry beobachtete, wie Detective Inspector Hitchens sich mit einem Filzschreiber gegen die Zähne klopfte und sich mit seinem Stuhl hin und her drehte. Allmählich gingen ihr einige seiner Marotten auf die Nerven, doch sie versuchte, sich das nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

»Die beiden Anrufe wurden nicht sofort miteinander in Verbindung gebracht«, sagte Hitchens. »Von dem zweiten wusste ich bis heute morgen selber nichts, und es gab keine Gelegenheit, Ihnen davon zu erzählen.«

Fry hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, einen Blick in die Abschrift zu werfen. Sie war zu wütend. »Von wo wurde der Anruf getätigt? Wieder aus Wardlow?«

»Das wissen wir noch nicht, Diane. Er war zu kurz, als dass man ihn hätte zurückverfolgen können. Aber er ging nur wenige Minuten nach dem ersten ein, also ist es ziemlich wahrscheinlich.«

Sie hob den Blick zur Karte und machte Wardlow diesmal ohne Probleme ausfindig. »Es ist eine völlig andere Art von Botschaft, nicht wahr?«

»Ja. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Anrufen sind die Stimmverzerrung und das Timing, ansonsten wäre die Verbindung vielleicht gar nicht hergestellt worden.«

»Er drückt sich sehr konkret aus: ›Ein Friedhof, der sich über sechs Meilen erstreckt.‹ Und was meint er mit ›Todesstätte‹? Oder mit ›Fleischverzehrer‹?«

»Das werden wir schon noch herausfinden«, sagte Hitchens. »War unser Bestattungsunternehmer eine Hilfe?«

»Mr. Hudson konnte sich an einige der Trauergäste in Wardlow erinnern. Die Familie war natürlich da. Und es waren ein paar Würdenträger und Geschäftsleute aus der Gegend anwesend, Leute, die mit der verstorbenen Bezirksrätin zusammengearbeitet hatten, also habe ich eine stattliche Liste, von der ich ausgehen kann. Und wenn wir uns mit den Angehörigen unterhalten, werden wir noch mehr Namen bekommen.«

»Ja«, erwiderte Hitchens ohne Begeisterung.

Fry zog ihre Jacke aus. »Mir ist bewusst, dass wir von über zweihundert Menschen sprechen, Sir. Aber wenn wir mehrere Ermittlungsteams darauf ansetzen, können wir mit jeder Befragung weitere Namen hinzufügen, bis wir uns ein Bild von der gesamten Trauergemeinde machen können. So sollten wir in der Lage sein, die Auswahl auf ein paar Personen einzugrenzen, die niemand kannte. Und einer von ihnen wird unser Mann sein.«

»Das wird wahrscheinlich nicht nötig sein«, sagte der Detective Inspector. »Aber wir behalten es im Kopf.«

Fry sah ihn an. »Warum wird es nicht nötig sein?«

»Es wäre ein großer Aufwand für einen womöglich geringen Nutzen, Diane. Es gibt andere wichtige Spuren, die wir verfolgen können.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel die Möglichkeit, dass unser Anrufer seinen Mord bereits begangen hat.«

Todesstätte

Подняться наверх