Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 8
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Hudson und Slack war eines der ältesten Bestattungsunternehmen im Eden Valley. Ein zuverlässiger Familienbetrieb, wie auf dem Schild über dem Eingang zu lesen stand. Diane Fry fuhr mit ihrem Peugeot auf den Parkplatz neben der Kapelle. Das Unternehmen mochte zwar auf eine lange Geschichte zurückblicken können, doch das eckige Gebäude mit Flachdach und Tafelglasfassade, in dem es untergebracht war, stammte aus den 1960er-Jahren. Es war diskret außer Sichtweite in einer Seitenstraße der Fargate errichtet worden.
Fry stieg aus dem Wagen, blieb am Tor stehen und betrachtete die Häuser in der Manvers Street. Auf beiden Straßenseiten standen Häuser ohne Gärten zwischen Eingangstür und Straße. Sie fragte sich, welche Sorte von Menschen sich wohl dafür entschieden, dort zu wohnen, wo der Tod jeden Morgen am Fenster vorbeizog. Wie oft blickten sie beim Essen oder beim Fernsehen auf und sahen die langen schwarzen Limousinen vorbeikriechen? Wie oft versuchten sie, einen friedlichen Augenblick zu genießen, und erhaschten dabei aus dem Augenwinkel das Funkeln eines verchromten Sarggriffs?
Sie wandte sich wieder dem Eingang von Hudson und Slack zu. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass sie auf keinen Fall hier wohnen wollte. Doch es musste viele Möglichkeiten geben, den Anblick des vorbeiziehenden Todes auszublenden oder so zu tun, als existiere er nicht.
»Soll ich mit dir reingehen, Diane?«, fragte eine Stimme von der anderen Seite des Wagens.
Einen Moment lang hatte sie Ben Cooper völlig vergessen. Wie üblich war er der einzige Detective Constable gewesen, den sie in der Einsatzzentrale hatte finden können, als sie nach einem Begleiter gesucht hatte. Falls es infolge dieses Besuchs noch irgendwelche weiteren Erkundigungen anzustellen gab, würde sie sich nicht selbst darum kümmern können, da sie vor Gericht erscheinen musste.
»Ja, sicher. Du bist schließlich nicht hier, um die Aussicht zu genießen.«
Cooper folgte ihr in das Bestattungsunternehmen. Wie sich herausstellte, war Melvyn Hudson ein gepflegter Mann Ende vierzig mit ordentlichem Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde. Er war mit schwarzem Anzug und schwarzer Krawatte bekleidet und schien mühelos in seine Rolle zu schlüpfen, als er durch die Tür des Warteraums kam und die Hand ausstreckte.
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Und sagen Sie mir bitte, wie ich Ihnen behilflich sein kann.«
Hinter der Tür befand sich ein Gang, und zwei Männer kamen auf sie zu. Wie Hudson trugen auch sie einen schwarzen Anzug, doch keinem von beiden stand er so gut. Der größere Mann hatte einen kahl rasierten Schädel und ein markantes Kinn wie ein Nachtclub-Türsteher, während der jüngere schlank und unbeholfen war und sein Anzug die Knochigkeit seiner Schultern und Handgelenke kaum verbergen konnte. Sie blieben gleichzeitig stehen, als sie die Besucher sahen, und machten eine ernste Miene.
»Sergeant, das sind zwei unserer Leichenwagenfahrer«, sagte Hudson. »Billy McGowan, und das ist Vernon Slack.«
Die beiden Männer nickten, gingen weiter und schlossen leise eine Tür hinter sich.
Hudsons Büro erinnerte an das Sprechzimmer eines Arztes, mit seiner beruhigenden Einrichtung, den interessanten Topfpflanzen und den gerahmten Zeugnissen an der Wand. Fry fragte sich, woher Bestattungsunternehmer Zeugnisse bekamen. Gab es Kurse in Bestattung an der Abendschule? Ein Diplom in Sargherstellung am High Peak College?
»Ist Ihnen bewusst, dass es eine Menge solcher Leute gibt?«, fragte Hudson, nachdem Fry ihr Anliegen erklärt hatte.
»Was für Leute?«
»Leute, deren Hobby es ist, zu Bestattungen zu gehen. Die bekommen wir ständig zu Gesicht. Manchmal machen wir sogar Scherze darüber, dass eine Bestattung ohne unsere kleine Schar von Gewohnheitstrauernden nicht komplett ist.«
»Soll das heißen, sie gehen zur Bestattung von Menschen, die sie gar nicht gekannt haben?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Hudson. »Sie studieren die Anschlagtafeln in den Kirchen und lesen die Todesanzeigen in der Eden Valley Times, um zu erfahren, welche Bestattungen anstehen. Und dann planen sie ihre Termine für die kommende Woche. Bestattungen sind für manche Leute der bevorzugte Zeitvertreib. Sie werden zu gesellschaftlichen Anlässen. Unter Umständen ergibt sich dabei sogar die Gelegenheit, neue Bekanntschaften zu schließen.«
Hudson musste Frys schockierten Gesichtsausdruck bemerkt haben.
»Das ist völlig harmlos«, sagte er. »Diese Leute finden einfach Gefallen an Bestattungen.«
»Und erkennen Sie diese Personen wieder?«
»Oh, ja. Viele von ihnen sind bekannte Gesichter für die Belegschaft von Hudson und Slack wie auch für alle meine Kollegen in dieser Gegend.«
Fry sah, wie Cooper den Mund öffnete, als wolle er sich in das Gespräch einschalten, doch sie gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er schweigen solle. Als er den Kopf zu seinem Notizbuch senkte, fiel ihm eine widerspenstige Haarsträhne in die Stirn. Sie sollte ihn darauf hinweisen, dass es wieder einmal Zeit wurde, zum Friseur zu gehen.
»Sie können mir nicht zufällig einige Namen nennen, Mr. Hudson?«, fragte sie.
»Doch, das kann ich schon. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat die Eden Valley Times in ihren Todesanzeigen Listen von Trauernden veröffentlicht, und es war in der Regel unsere Aufgabe, diese Namen zu sammeln. Das gehörte zu unserem Service für die Hinterbliebenen, wissen Sie. Allerdings wäre es kein Problem, die Namen herauszufinden. Sie bräuchten nur ein paar ältere Ausgaben der Zeitung durchzusehen und die Todesanzeigen zu überprüfen, dann würden Sie feststellen, dass sie bei fast jeder Bestattung in der Gegend als Trauergäste aufgelistet sind.«
»Aber ohne Adresse, nehme ich an?«
Hudson zuckte mit den Schultern. »Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass sie sich auf Bestattungen in ihrer eigenen Gegend beschränken. Sie reisen nicht viel für ihr Hobby.«
Fry nickte. »Was ist mit Wardlow?«
»Tja, das ist etwas anderes«, sagte Hudson. »Ein kleines Nest, ein paar Meilen außerhalb der Stadt – Sie können sich ja vorstellen, dass es an einem solchen Ort nicht viele Bestattungen gibt. Hudson und Slack gehört zu den meistbeschäftigten Bestattungsunternehmen im Tal, aber in Wardlow erledigen selbst wir höchstens einen Auftrag im Jahr, wenn überhaupt. Falls dort Gewohnheitstrauernde waren, würde ich sie nicht erkennen.«
Er lächelte, ein mitfühlendes Lächeln, das andeutete, dass er sich um jeden sorgte, ganz egal, um wen es sich handelte.
»Und ich nehme auch nicht an, dass sie viele Gelegenheiten bekommen, um ihrem Interesse zu frönen«, fügte er hinzu. »Wahrscheinlich werfen sie sich in Schale, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen. Fast so wie tote Atheisten.«
»Wie bitte?«
»Nur ein kleiner Bestatter-Scherz von mir.«
Fry zog die Augenbrauen hoch, dann warf sie Cooper einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er Notizen machte. »Mr. Hudson, Sie sagten doch gerade, die Eden Valley Times hätte bis vor kurzem Listen von Trauergästen veröffentlicht, oder?«
»Ja, aber inzwischen nicht mehr. Die Zeitung hat jetzt einen neuen Herausgeber, und der hielt das für einen altmodischen Brauch. Tja, vermutlich hat er recht. Die Times war eine der letzten Regionalzeitungen in diesem Land, die ihn noch aufrechterhalten hat, also war damit zu rechnen, dass schließlich dasselbe damit passiert wie mit allen Traditionen. Aber unseren Kunden hat es gefallen.«
»Warum?«
»Na ja, hier in der Gegend war das zu einem Statussymbol geworden – die Beliebtheit und der Erfolg eines Menschen im Leben wurden daran gemessen, wie viele Trauergäste zu seiner Bestattung kamen und ob ihr der Bürgermeister beiwohnte oder nur sein Stellvertreter, solche Dinge. Außerdem achteten die Leute darauf, dass sie auf der Liste standen und dass ihr Name richtig geschrieben war. Selbstverständlich wurde oft viel darüber getratscht, wer aufgetaucht war und wer nicht – vor allem, wenn es irgendwelche Streitereien innerhalb der Familie gegeben hatte. Sie wissen ja, wie das ist.«
»Nicht so ganz«, erwiderte Fry.
Hudson betrachtete sie genauer. »Sie sind nicht aus dieser Gegend, oder?«, sagte er. »Das hätte mir auffallen sollen.«
Sie versuchte, die Bemerkung zu ignorieren, die sie nicht zum ersten Mal zu hören bekam. Die Spuren ihres Black-Country-Dialekts verrieten sie normalerweise sofort, doch Melvyn Hudson war offenbar nicht ganz so aufmerksam, wie er vorgab. Trotzdem war Fry unverhältnismäßig verärgert über seine Andeutung, er hätte auf den ersten Blick merken müssen, dass sie keine Einheimische war.
»Könnte man nicht sagen, dass es noch um eine andere Sache geht?«, erkundigte sie sich.
»Und die wäre?«
»Dass es nicht genügt, einem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, sondern dass man dabei gesehen werden muss. Nur deshalb möchte man doch seinen Namen in der Zeitung stehen haben, nicht wahr? Damit alle sehen, dass man das Richtige getan hat, ganz egal, was man von dem Verstorbenen gehalten hat.«
»Ich glaube, das ist ein bisschen unfair.«
»Und das ist auch der Grund, weshalb so viel Geld für Trauerkränze ausgegeben wird, habe ich recht? Schließlich nützen die einem Toten nicht viel, oder?«
Cooper wurde unruhig und ließ das Gummiband an seinem Notizbuch schnalzen, als dachte er, es sei Zeit zu gehen. Hudsons Lächeln schwand, doch er blieb gelassen. Selbstverständlich wurde er tagtäglich mit schwierigen Situationen konfrontiert.
»Haben Sie irgendein schicksalhaftes persönliches Erlebnis hinter sich?«, fragte er. »Falls Sie irgendetwas bekümmert, könnten wir Ihnen einen Trauerhelfer empfehlen.«
»Nein«, fauchte Fry. »Das war eine grundsätzliche Feststellung.«
»Tja, man könnte Ihre Ansichten für etwas zynisch halten, Sergeant«, sagte er. »Aber ich kann nicht bestreiten, dass in dem, was Sie sagen, ein Funken Wahrheit steckt.«
»In Ordnung. Führen Sie eigentlich alle Bestattungen in dieser Gegend selbst durch, Mr. Hudson?«
»Meine Frau Barbara kümmert sich um einige davon.«
»Und nachdem die Eden Valley Times keine Listen mit Trauergästen mehr abdruckt, sammeln Ihre Mitarbeiter vermutlich auch keine Namen mehr«, stellte Fry fest.
»Das ist richtig. Wir tun das nicht mehr automatisch. Nur wenn uns ein Kunde ausdrücklich darum bittet.«
»Und wie war es gestern in der Kirche von Wardlow?«
Hudson schüttelte den Kopf. Er fügte dieser Geste sein mitfühlendes Lächeln hinzu, als wollte er andeuten, dass er ihren Kummer verstand, und ihr sein Beileid bekunden.
»Überhaupt keine Namen«, sagte er. »Tut mir schrecklich leid.«
Nachdem Ben Cooper nach seinem unerwarteten Ausflug zum Bestattungsunternehmen wieder in der Einsatzzentrale eingetroffen war, fragte er sich, weshalb Fry so abwesend gewirkt hatte. Ja, sogar besorgt. Was auch immer sie beschäftigte, sie nahm sich zumindest die Zeit, sich für seine forensische Rekonstruktion zu interessieren und die Fotos durchzusehen, die er aus Sheffield mitgebracht hatte.
»Die sind nicht schlecht«, stellte sie fest. »Lassen wir sie in den Zeitungen veröffentlichen?«
»Ich habe sie gestern Abend abgegeben. Die Presseabteilung hat sich schon darum gekümmert.«
»Gut. Vielleicht bekommst du ja bald Resonanz. Hast du noch irgendwelche andere Ideen, Ben?«
»Ich habe mir gedacht, ich könnte Mr. Jarvis ein paar Abzüge zeigen.«
»Wem?«
»Dem Besitzer des Hauses, das der Fundstelle der Überreste am nächsten ist. Er heißt Tom Jarvis. Wir wissen zwar nicht, wie sie dorthin gekommen ist, aber unter Umständen hat Mr. Jarvis sie in der Gegend gesehen, als sie noch am Leben war.«
»Es gibt keine Hinweise, wie sie ums Leben gekommen ist, richtig?«
»Bislang nicht.«
Fry gab ihm die Fotos zurück. »Vergiss nicht, dass dieser Mr. Jarvis zu einem Verdächtigen werden könnte, wenn sich herausstellt, dass sie ermordet wurde.«
»Natürlich«, erwiderte Cooper. »Doch wenn er jetzt abstreitet, irgendetwas über sie zu wissen, könnte ihn genau das später überführen.«
»Vorausplanung. Das gefällt mir.«
Einen Augenblick lang glaubte Cooper, sie würde ihm den Kopf tätscheln oder ihm ein Fleißbildchen geben. Doch dann entfernte sie sich und war in Gedanken bereits wieder woanders. Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch und öffnete ein Paket, das aus Ripley eingetroffen war, und es schien, als habe sie ihn bereits vergessen. Cooper rief ihr quer durchs Büro zu.
»Hast du was Interessantes bekommen, Diane? Der Besuch bei Hudson und Slack heute Morgen – und ich habe gehört, dass es eine Tonbandaufzeichnung von einem Anruf im Kontrollraum geben soll …«
»Das ist wahrscheinlich nur heiße Luft«, sagte sie. Und dann griff sie als Zeichen, dass die Unterhaltung beendet war, zum Telefonhörer.
Cooper legte seine Fotos neben den Bericht des forensischen Anthropologen. Davon abgesehen existierte noch eine Reihe von Fotos von der Fundstelle im Ravensdale-Tal. Sie zeigten die Überreste, halb verdeckt von der Vegetation, die um sie gewachsen war, und die von Moos grün verfärbten langen Knochen, die aussahen wie die Wurzeln eines exotischen Baumes. Nachdem das Gewirr aus Dornensträuchern und Labkraut entfernt worden war, waren die sorgfältig gefalteten, skelettierten Hände und die ausgestreckten Beine zum Vorschein gekommen, die sich an den Fersen fast berührten, während die Zehen nach außen gedreht waren.
Dr. Jamieson hatte eine Meinung zu den Füßen. Er war der Ansicht, dass sie sich nur deshalb nicht mehr in ihrer ursprünglichen Stellung befanden, weil Aasfresser an dem verwesten Fleisch gezerrt hatten, und glaubte, sie seien zum Todeszeitpunkt und womöglich noch einige Zeit danach eng geschlossen gewesen.
Was Cooper irritierte, war die Formulierung »einige Zeit danach«. Die Fundstelle und die Position des Leichnams vermittelten den Eindruck, als seien sie sorgfältig ausgewählt worden, und deuteten auf ein Ritual hin. Tatsächlich legte die Art und Weise, wie sich das Gestrüpp den Weg durch die Knochen gebahnt hatte, die Vermutung nahe, dass es sich um eine Opfergabe an die Natur handelte, um ein Menschenopfer, das langsam von Mutter Erde eingefordert wurde. Doch das war ganz sicher nur ein Hirngespinst.
Er suchte die Nummer des Anthropologen heraus und rief ihn abermals an. Manchmal musste man einfach auf ein bisschen Glück hoffen.
»Besteht irgendeine Chance, die Todesursache zu bestimmen?«, fragte Cooper.
»Sie machen wohl Scherze.«
»Überhaupt keine Anhaltspunkte?«
Dr. Jamieson seufzte. »Ich habe nach Anzeichen für Verletzungen des Skeletts gesucht, die Aufschluss darüber geben könnten, wodurch der Tod eingetreten ist, oder uns sogar verraten könnten, was nach dem Tod mit dem Leichnam passiert ist.«
»Und?«
»Nichts. Keine Schnittverletzungen, keine sichtbare Fraktur. Nur ein gewisses Maß an postmortalen Schäden wie ein paar angenagte Knochen an den Extremitäten.«
»Aasfresser«, sagte Cooper. »Füchse, Ratten.«
»Oder irgendwelche Vögel. Es fehlen zwei Handwurzelknochen – das Hakenbein und das Kopfbein. Falls Sie zufällig darauf stoßen: Bei dem einen handelt es sich um einen würfelförmigen Knochen mit hakenförmigem Fortsatz, der andere erinnert ein wenig an eine halb geschnitzte Miniaturbüste. Sie sind klein, aber ziemlich markant. Außerdem fehlen einige Fußwurzelknochen vom linken Fuß, ansonsten sind die Extremitäten allerdings weitgehend intakt. Und das Zungenbein fehlt natürlich auch.«
»Warum ›natürlich‹?«
»Das Zungenbein befindet sich unmittelbar oberhalb des Kehlkopfs, wo die Zungenmuskeln verankert sind. Es ist der einzige Knochen im Körper, der keinen anderen Knochen berührt. Wenn also das Gewebe verschwindet, von dem es umgeben ist, fällt das Zungenbein heraus und geht unter Umständen auf Nimmerwiedersehen verloren. Sie können von Glück reden, dass die Schneidezähne noch vorhanden sind, da sie nur eine Wurzel haben. Sobald das Zahnfleisch verwest ist, hält sie nichts mehr im Kiefer.«
»Doktor, ist das Zungenbein nicht der Knochen, der manchmal bricht, wenn ein Opfer erwürgt wird?«
»Ja, das ist richtig.«
»Und bei skelettierten Überresten wäre eine Beschädigung des Zungenbeins der einzige Hinweis darauf, dass das Opfer erwürgt wurde?«
»Dazu sollte ich eigentlich lieber nichts sagen. Es stimmt allerdings, dass wir nur nach Frakturen suchen können, wenn kein Weichgewebe mehr vorhanden ist. Es sei denn, es gibt irgendwelche Anzeichen für Bruchstellen oder Kerben in den Knochen, die von Messerverletzungen herstammen, dann kann der Zustand des Zungenbeins durchaus sehr wichtig bei der Bestimmung der Todesursache sein. Aber nur, wenn Erdrosseln die Ursache war.«
Cooper war bewusst, wie aussichtslos der Gedanke war, der ihm in diesem Moment kam, er sprach ihn aber trotzdem aus.
»Wir müssten also eine weitere Suche an der Fundstelle durchführen, wenn wir diesen Knochen finden wollten?«
»Es ist wirklich ein sehr kleiner Knochen«, sagte der Anthropologe. »In Anbetracht der Tatsache, wie es am Fundort aussieht, würden Sie nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen suchen. Und vergessen Sie nicht, dass das Zungenbein von der Fundstelle verschwunden sein könnte.«
»Das klingt nicht besonders vielversprechend.«
»Na ja, ich kann anhand des Pflanzenwuchses eine Schätzung bezüglich des Todeszeitpunkts abgeben. Wir haben einen Botaniker gebeten, einen Blick darauf zu werfen, und sein Bericht ist gerade auf meinem Schreibtisch gelandet.«
»Und?«
»Tja, vermutlich ist sie im Frühling gestorben. Ihr Leichnam war in diesem Sommer bereits teilweise skelettiert, als sich die Vegetation den Weg durch das verbliebene Gewebe und die Rippen gebahnt hat.«
»Februar oder März?«
»Ja. Aber der Botaniker hat auch ein paar abgestorbene Pflanzen gefunden – Vegetation aus der vergangenen Saison.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie bereits im Frühling letzten Jahres gestorben ist?«
»Ich fasse den Bericht nur zusammen. Ich lasse Ihnen im Lauf des Tages eine Kopie zukommen, damit Sie sich die Details ansehen können.«
»Passt das zur Skelettierung?«
»Durchaus. Vielleicht sollten Sie jemanden nachprüfen lassen, wie das Wetter im relevanten Zeitraum war. Wenn es kalt war, hat sich die Verwesung verzögert.«
»Der letzte Sommer war warm und feucht«, sagte Cooper. »Und zwar monatelang.«
»Daher auch der Grad der Skelettierung. Ein Leichnam, der warmem, feuchtem Klima ausgesetzt war. Die Verwesung muss schnell vorangeschritten sein. Es gibt eine Regel, die auf der Durchschnittstemperatur in der Umgebung basiert. Während eines durchschnittlich warmen Sommers haben wir eine Temperatur von etwa fünfzehn Grad.«
»Ja.«
Cooper konnte beinahe hören, wie er im Kopf nachrechnete. »Im Sommer könnte ein Leichnam also in etwa fünfundachtzig Tagen skelettieren, wenn er der Witterung ausgesetzt ist.«
»In nur fünfundachtzig Tagen? Und dieser Leichnam hat womöglich achtzehn Monate im Freien gelegen?«
»Ja. Wenn der Leichnam ein paar Wochen früher dort deponiert worden wäre, hätte die Skelettierung etwas länger gedauert. In Anbetracht der exponierten Lage sprechen wir allerdings nur von Monaten, nicht von Jahren. Im Bericht des Botanikers finden sich bestimmt Angaben zur oberen Zeitgrenze.«
»Wie sieht es mit einer toxikologischen Analyse aus?«, erkundigte sich Cooper.
»Tja, die könnten wir schon durchführen«, erwiderte der Anthropologe, »wenn Sie möchten.«
Cooper wusste, dass »wenn Sie möchten« so viel hieß wie»wenn Sie bereit sind, uns dafür zu bezahlen«.
»Ich werde mich erkundigen«, sagte er, da er nicht befugt war, Budgetentscheidungen zu treffen.
Diane Fry blieb eine Zeit lang vor dem Gerichtsgebäude in der Wharf Road in ihrem Auto sitzen. Menschen strömten die Stufen herunter und steuerten auf ihre Fahrzeuge zu: Rechtsanwälte und Gerichtsbeamte in die eine Richtung, gewöhnliche Bürger in die andere. Sie war sich der Überwachungskameras am Gebäude bewusst, die sie beobachteten. In der neuen Wohnsiedlung am Flussufer wimmelte es von Kameras – es war erstaunlich, wie viele Verbrechen in unmittelbarer Umgebung des Gerichts begangen wurden.
Fry nahm das Paket in die Hand, das neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Eigentlich hätte sie es mit ins Gerichtsgebäude nehmen sollen, doch das Sicherheitspersonal hätte unangenehme Fragen gestellt. Als sie am Morgen das Tonband auf ihrem Schreibtisch gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie es sich das erste Mal nicht im Büro anhören konnte, wo sie von einem Haufen zynischer Detective Constables umgeben war. Und ebenso wenig im Büro des Detective Inspectors, wo Hitchens ihre Reaktion beobachtet hätte. Sie musste es sich anhören, wenn sie allein war.
Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wenn sie kein so altes Auto besessen hätte, das noch über ein Kassettenradio verfügte. Sie legte das Tonband ein und drückte die »Play«-Taste. Dann lehnte sie den Kopf gegen die Sitzlehne und wartete, bis das Zischen verhallte.
Bald wird sich ein Mord ereignen. Vielleicht geschieht er schon in den nächsten Stunden. Wir könnten unsere Uhren abgleichen und die Minuten zählen …
Wie erwartet, klang die Stimme verzerrt. Der Anrufer hatte irgendwie dafür gesorgt, sie zu entstellen – nicht mit Hilfe des guten alten Taschentuchs über der Sprechmuschel, sondern durch irgendein elektronisches Gerät, das der Stimme einen metallischen Klang verlieh, vibrierend und nachhallend. Soweit sie es beurteilen konnte, sprach er regionalen Dialekt. Allerdings war sie noch nicht in der Lage, die feinen Unterschiede zwischen Einheimischen aus Derbyshire und ihren Nachbarn aus Yorkshire herauszuhören, geschweige denn die zwischen dem Norden und dem Süden von Derbyshire. Manche behaupteten zwar, einen Dialekt auf wenige Meilen genau eingrenzen zu können, doch das war eine Aufgabe für Spezialisten.
Besonders beängstigend an der Tonbandaufnahme war die Tatsache, dass der Anrufer völlig ruhig und kontrolliert wirkte. Sein Vortrag war überaus besonnen, und sie erkannte keine Spur von Erregung. Wie Hitchens angedeutet hatte, klang er überzeugend. Er hätte sich in der Tat gut im Zeugenstand gemacht.
Was für eine Gelegenheit, um Zeuge zu werden, wie ein Leben verstreicht, um es in jenem letzten, vollkommenen Augenblick zu begleiten, wenn das Dasein erlischt und die Seele sich vom Körper trennt …
Fry warf abermals einen Blick auf das Gerichtsgebäude. Ihr Auftritt schien gut gelaufen zu sein, und die Staatsanwaltschaft war zufrieden gewesen. Falls es im weiteren Verlauf der Anhörung nicht mehr zu größeren Pannen kam, würde Micky Ellis für einige Jahre hinter Gitter wandern. Denise Clay, die mit ihrem Walkman auf dem Nachttisch und Zigarettenbrandlöchern in der Bettdecke tot in ihrem Nachthemd dagelegen hatte, würde das allerdings nichts mehr nützen. Für sie würde die Gerechtigkeit zu spät kommen. Denise war inzwischen längst beigesetzt worden.
Doch es hatte keinen Sinn, die Dinge zu sehr zu personalisieren. Manchmal verlangte der Gesetzesweg, dass die Opfer eine Nebenrolle spielten.
Wir wenden uns ab und schließen die Augen, wenn sich die Pforten zu einer ganz neuen Welt öffnen: zu den duftenden fleischlichen Gärten der Verwesung. Wir weigern uns, die fließenden Säfte zu bewundern, die blühenden Bakterien, die dunklen, aufgedunsenen Blüten der Verwesung. Das ist die wahre Natur des Todes. Wir sollten die Augen öffnen und lernen …
Fry hatte die Augen geschlossen, doch ein paar Minuten später riss sie sie weit auf und betrachtete verwirrt das Kassettenradio. Sie hielt das Tonband an, spulte es zurück und spielte es von der Stelle über Freud und den Todestrieb an noch einmal ab. Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen, dann erklang die Stimme erneut und erfüllte den Wagen mit ihrem metallischen Hallen.
»Verdammt«, stieß Fry hervor. »Warum hat mir niemand gesagt, dass es zwei Anrufe gab?«
Und ihr könnt das Ende mit eigenen Augen sehen. Dazu müsst ihr nur die Todesstätte finden. Ich stehe hier in ihrer Mitte, auf einem Friedhof, der sich über sechs Meilen erstreckt. Seht ihr, dort sind die schwarz gekleideten Trauernden, die wie Ameisen um einen verwesten Leichnam schwärmen.
Wir füllen unsere Toten mit Gift, pumpen ihnen Säure in die Adern. Wir verschmutzen die Atmosphäre mit dem Rauch ihres Fleisches. Wir lassen sie unter der Erde verrotten, in Särgen, die von Gasen zum Bersten gebracht werden oder von Wasser durchtränkt sind wie eine Gemüsesuppe. Doch der wahre Tod ist rein und vollkommen. Legt sie in die Sonne, hängt ihre Gebeine an den Galgen. Lasst sie dort verwesen, wo sich die Aasfresser scharen. Sie sollten an der frischen Luft verrotten, bis ihr Fleisch verschwunden ist und ihre Knochen trocken wie Staub sind. Oder aber in einem Sarkophag. Rein und vollkommen und endgültig.
Ja, ihr könnt es mit eigenen Augen sehen. Ihr könnt Zeuge der letzten Augenblicke werden. Folgt den Wegweisern am Galgen und am Felsen, dann werdet ihr meinen Fleischverzehrer treffen.
Es ist ganz einfach. Ihr müsst nur die Todesstätte finden.