Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 12
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Zwanzig Minuten später erklomm Coopers Wagen die Steigung hinter Ashford in the Water. Der River Wye, der aus Norden herabfloss, machte hier eine scharfe Kurve, sodass man den Eindruck hatte, auf zwei voneinander getrennte Täler zu blicken, wenn man am Monsal Head stand. Von dem Hotel im bayerischen Stil und dem angrenzenden Café führte eine kleine Straße zunächst nach unten, ehe sie nach Norden in die Wälder des Upperdale-Tals und des Cressbrook-Dale-Tals abknickte. In südlicher Richtung verlief keine Straße, sondern nur ein Pfad, der sich ein Stück weit an den Hang schmiegte, bevor er zum Fluss hin abfiel und über eine Brücke zum anderen Ufer führte.
Ein paar Wanderer befanden sich auf dem Viadukt mit fünf Bögen, das sich über das Tal spannte. Der Wye verschmälerte sich, als er darunter hindurchfloss, und an seinen Ufern waren einige nicht so abenteuerlustige Besucher zu sehen, die im weichen Gras saßen und eine Stunde September-Sonnenschein genossen. Doch der Weg hinunter zum Fluss war steil, und viele Leute gingen zum Mittagessen in das Café oder aßen ein Eis, während sie die Aussicht bestaunten.
Fry hielt die Hand über die Augen, um sie vor der im Südwesten stehenden Sonne abzuschirmen. »Was ist denn das da oben auf dem Hügel? Das sieht aus wie die Ruinen eines Hauses.«
»Hob Hurst’s House«, erwiderte Cooper. »Eigentlich ist es aber gar kein Haus.«
»Und ich nehme an, es gab auch nie jemanden, der Hob Hurst hieß, oder?«
»Nein.«
»Wie habe ich das nur erraten?«
»Das ist der Name einer Figur aus den regionalen Geschichten. Ein Kobold oder ein Riese – ich bin mir nicht ganz sicher, was. Das da drüben ist das Ergebnis eines Erdrutsches, aber aus der Ferne sieht es mit etwas Fantasie aus wie die Ruine eines Hauses.«
»Derjenige, der dieses Hotel gebaut hat, hatte durchaus Fantasie. Irgendein romantischer Viktorianer, nehme ich an, der gerade von einem Ausflug in die Alpen zurückgekommen war.«
»Wahrscheinlich. Als dieses Viadukt für die Eisenbahn gebaut wurde, hat das eine Menge Protest ausgelöst. Alle behaupteten, es würde die Aussicht ruinieren, nur damit man schneller von Bakewell nach Buxton kommt. Heute ist es eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Region.«
Obwohl Infidels’ Cemetery unmittelbar neben der Straße lag, hätten sie den Friedhof beinahe übersehen. Cooper war bereits ein Stück daran vorbeigefahren, als er plötzlich bremste und umdrehte. Ein Teil der Mauer, die den Friedhof einst geschützt hatte, war eingestürzt. Die Lücke war nur mit einem Maschendrahtzaun geschlossen worden, wenngleich das Dickicht aus Brennnesseln dahinter ohnehin ziemlich abweisend aussah.
Hier war es deutlich stiller als am Monsal Head. Von der anderen Seite des Tals war ein Schäfer zu hören, der seinem Hund etwas zurief. Seine Stimme klang schrill wie der Schrei eines Moorvogels. Auf dem Hügel gegenüber gab jemand einen Schuss ab. Auf dem Land klang das Geräusch von Gewehrschüssen jedoch vertraut und war nicht weiter erwähnenswert.
»Diesen Friedhof hat seit Monaten niemand mehr betreten«, stellte Fry fest. »Das sehe sogar ich.«
»Zumindest ist niemand weiter als ein paar Schritte gegangen.«
Die meisten der uralten Grabsteine waren umgefallen und von Labkraut und Dornensträuchern überwuchert. Die Steine, die noch aufrecht standen, waren mit gelblicher Flechte bedeckt und in Efeu gehüllt, der ihre charakteristischen Formen verschleierte. Die einzige Ausnahme bildeten die beiden Grabsteine, die der Straße am nächsten waren. Irgendjemand hatte sie vom Efeu befreit und ihre Inschriften enthüllt.
Mit einiger Mühe entzifferte Cooper den Namen und die Daten auf einem der Steine.
»Ich glaube nicht, dass diese Person zu Lebzeiten sehr beliebt war«, sagte er. »›Obschon der Menschen Neid deinen Wert verachtet, soll Stolz deine Brust füllen.‹ Das könnte ich Gavin als Grabinschrift vorschlagen.«
»Warum? Fühlt er sich unterschätzt?«
»Ich glaube schon.« Cooper ging ein paar Meter zur Seite. »Diane, sieh dir den mal an.«
Vom Efeubewuchs des zweiten Grabsteins war nur ein kleiner Teil entfernt worden, und zwar erst vor kurzem. Die abgebrochenen Zweige waren noch ausgefranst und sonderten etwas Saft ab, als Cooper sie berührte.
»Das ist seltsam«, sagte er.
»Warum?«
»Na ja, ich hatte angenommen, dass irgendein Amateurhistoriker den Efeu von diesen Grabsteinen entfernt hat, um die Namen der Menschen lesen zu können, die hier beigesetzt wurden. Oder vielleicht ein Verwandter, der dafür sorgen wollte, dass man sich an einen Vorfahren von ihm erinnert und er nicht einfach im Gestrüpp verschwindet.«
»Das kann man doch verstehen«, erwiderte Fry.
»Aber sieh dir das an – nicht der Name und die Daten wurden freigelegt, sondern nur die Inschrift darunter. Und sie ist nur sehr kurz. Caro data vermibus. Was heißt das?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Du bist doch diejenige, die studiert hat.«
»Ben, ich habe einen Abschluss in Criminal Justice and Policing von der University of Central England. Deshalb spreche ich noch lange nicht fließend lateinisch.«
Cooper ging vor den Grabsteinen auf und ab, doch bis auf den schmalen Streifen an der Straße war die Decke aus Nesseln und Dornensträuchern dicht und unversehrt. Er beobachtete einen Schmetterling, der zwischen den Nesseln umherflatterte.
Fry ging ungeduldig zum Eingang zurück und blickte die Straße hinauf. »Wie weit ist es von hier nach Wardlow, hast du gesagt?«
»Nur ein paar Meilen.«
Der Zusatz »low« – »tief« – in Namen von Orten in Derbyshire bedeutete immer genau das Gegenteil. Wardlow war also vermutlich nach dem Aussichtshügel Wardlow Cop benannt worden, dessen abgeflachte konische Form bald zu ihrer Linken auftauchte, als sie vom Monsal Head hinunterfuhren.
Wardlow selbst sah genauso aus, wie Detective Inspector Hitchens es beschrieben hatte: eine Reihe von Häusern entlang der Straße. An beiden Enden schlossen sich lange schmale Streifen Weideland an, deren mittelalterliches Muster von Bruchsteinmauern bewahrt wurde – ein Netzwerk, das sich über die Felder erstreckte und die Hügel erklomm. Einige Teile des White-Peak-Plateaus verfügten angeblich über vierundzwanzig Meilen Mauern pro Quadratmeile Ackerland. Das Auge neigte dazu, anstelle der regelmäßigen Feld-Muster ein geometrisches Wirrwarr aus Stein zu sehen, da die langen Mauern sämtliche Konturen der Landschaft verstärkten.
Einige der Farmen in der Umgebung von Wardlow waren zu Wohnhäusern umgebaut worden, andere wurden dagegen noch bestellt. Als sie am Ortseingang ankamen, wo zwei Union-Jack-Fahnen flatterten, fuhr ein Traktor aus einem der Höfe. Cooper stellte fest, dass der örtliche Pub tagsüber geschlossen hatte, wie in so vielen Ortschaften, in denen wenig Tourismus herrschte. Unmittelbar hinter einer Katzenzucht, die in einer Ansammlung überzähliger Farmgebäude untergebracht war, befand sich die Church of the Good Shepherd. Es handelte sich um eine kleine Steinkirche mit Schieferdach und Bleiglasfenstern, aber ohne Kirchturm. Eine größere Kirche hätte fehl am Platz gewirkt.
Schließlich fanden sie einen Parkplatz vor einer Hecke, auf dem sie den Wagen stehen lassen konnten, ohne die ganze Straße zu blockieren, und gingen zur Kirche hinüber. Durch ein Doppeltor gelangten sie auf eine Wiese, auf der in der Nähe der Rückwand der Kirche zwei Stöcke standen. Cooper glaubte nicht, dass die beiden Bestrafungsinstrumente tatsächlich aus dem Mittelalter stammten – wahrscheinlicher war, dass man sie irgendwann in den letzten Jahrzehnten anlässlich eines Dorffestes aufgestellt hatte. Sie hatten wohl eher dazu gedient, den Pfarrer mit nassen Schwämmen zu bewerfen als einen verurteilten Verbrecher mit faulen Eiern – nichtsdestotrotz eine Form der rituellen Erniedrigung.
Hinter der Kirche befand sich der kleine, wenig ausgelastete Friedhof. In den nächsten Jahren würde es nicht nötig sein, ihn wegen Überfüllung zu schließen.
»Melvyn Hudson hat gesagt, dass es in Wardlow nur sehr wenige Bestattungen gibt«, sagte Fry.
»Ist er von Hudson und Slack, dem Bestattungsunternehmen?«
»Ja, das ist er.«
»Tja, ich bin sicher, Mr. Hudson hat recht. Viele dieser Gräber stammen noch aus viktorianischen Zeiten.«
Mehrere große Ahornbäume und Buchen, unter denen nichts wuchs, überschatteten den oberen Teil des Friedhofs. Selbst ihre eigenen Sämlinge waren in dem kargen Boden ebenso schnell wieder eingegangen, wie sie gesprossen waren. Abgestorbene Zweige, Bucheckern und kleine Steine knirschten unter ihren Füßen, als sie zwischen den Grabsteinen hindurchgingen. Um sie herum stießen Schwalben auf der Jagd nach den kleinen Fliegen, die in Wolken über den Gräbern schwebten, fast bis zum Boden herab. Die viktorianischen Gräber waren von niedrigen schmiedeeisernen Zäunen umgeben, die in der feuchten Luft rosteten und auseinanderfielen.
»Hier liegt die verstorbene Bezirksrätin«, sagte Cooper. »Mrs. Sellars, oder? Das ist mit Abstand das jüngste Grab.«
»Okay. Und wo ist die Telefonzelle?«
»Auf der anderen Seite der Kirche.«
An die Kirche war ein kleines Pfarrhaus angebaut, und durchs Fenster konnte man in eine Küche sehen, in der sich Gläser, Besteck und alte Zeitungen stapelten. Als sie auf dem Weg zur Telefonzelle daran vorbeigingen, nahm Cooper eine Bewegung in einem der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahr. Wenngleich es sich nur um einen Schatten hinter einem erleuchteten Fenster gehandelt hatte, war er sich sicher, dass sie beobachtet wurden.
»Hat sich irgendjemand mit den Nachbarn unterhalten?«, fragte er.
»Mit allen, die Aussicht auf die Kirche oder die Telefonzelle haben«, erwiderte Fry. »Uniformierte haben sich gestern darum gekümmert.«
»Die Anwohner direkt gegenüber haben eine gute Aussicht.«
»Leider waren sie alle auf der Beerdigung der Bezirksrätin.«
»Schade.«
»Wie du siehst, gibt es nicht viele, mit denen man sich sonst noch unterhalten könnte.«
Cooper betrachtete die rote Telefonzelle, die knapp zwanzig Meter von der Stelle entfernt war, an der er stand. Es war mehr als schade, oder etwa nicht? Es war großes Glück für denjenigen gewesen, der den Anruf getätigt hatte. Er hatte unmöglich wissen können, dass die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses nicht jede seiner Bewegungen beobachteten.
Obwohl Cooper die Tonbandaufzeichnungen noch nicht gehört hatte, beschlichen ihn Zweifel hinsichtlich der Absichten des Anrufers. Auf den ersten Blick erschien es so, als habe er erwartungsgemäß darauf geachtet, seine Identität zu verheimlichen. Einige seiner Handlungen wirkten jedoch beinahe leichtsinnig – als legte er es geradezu darauf an, identifiziert zu werden. Vielleicht war die ganze Angelegenheit nicht mehr als ein Hilferuf. Doch es hatte keinen Sinn, Fry diese Theorie zu unterbreiten.
Hinter dem Kirchenfriedhof sah Cooper eine Ansammlung von Farmgebäuden und Anhängern sowie ein weitläufiges Muster aus Bruchsteinmauern. Irgendwo in der Nähe krähte ein Hahn, obwohl es bereits Nachmittag war. Neben der Telefonzelle stand ein Wegweiser, dessen Schild so verwittert war, dass die Beschriftung völlig verschwunden war. Es schien auf einen Pfad hinzuweisen, der ins Nichts führte.
Dann kam die Sonne heraus, und die Kalksteinwände verwandelten sich in ein leuchtendes Netz, das über der Landschaft lag. Cooper fragte sich, was er wohl finden würde, wenn er den weißen Linien folgte. Die Verlockung, dem Licht zu folgen, anstatt auf den düsteren Kirchenfriedhof zurückzukehren, war beinahe unwiderstehlich.
Eine halbe Meile weiter nördlich, bei der Kreuzung mit der A623, befand sich eine kleinere Ansammlung von Häusern mit dem Namen Wardlow Mires. Eine Tankstelle und ein weiterer Pub namens Three Stags’ Heads standen zwischen Farmen und einigen heruntergekommenen, von Geißblatt zugewucherten Gebäuden.
Die A623 leitete den Verkehr über Schafweiden und das Plateau in Richtung Manchester. Als Cooper auf sie auffuhr, nahm er sofort wahr, wie sich die Landschaft zu seiner Linken öffnete. In einer Lücke zwischen den Hügeln ragte eine seltsame, freistehende Kalkstein-Felsnase empor. Ihre markante Form wirkte fast schon künstlich: Sie besaß gerade, mit Säulen versehene Seiten aus weißem Stein, die von Spalten und Nischen unterbrochen wurden, und eine rundliche, mit Gras bewachsene Kuppel, die aussah wie eine grüne Schädeldecke. Die von Schafen abgegrasten Hänge um sie herum schienen den Kalkstein langsam einzunehmen, als griffen sie nach oben, um ihn in den Boden zurückzuziehen.
Der Fels kam Cooper bekannt vor. Als er in seinem Gedächtnis suchte, kam er zu dem Schluss, dass es sich um den Peter’s Stone handeln könnte. Er hatte keine Ahnung, was der Name bedeutete, vermutete jedoch, dass er eine biblische Anspielung auf St. Peter war, deren Ursache im Lauf der Zeit und den Nebeln der Überlieferung verloren gegangen war.
»Kann ich mir die Tonbandaufzeichnungen irgendwann mal anhören, Diane?«, fragte er.
»Bilde dir nicht ein, dass du die Stimme erkennen wirst. Sie wurde elektronisch verfremdet.«
»Vielleicht kommt mir trotzdem irgendeine Idee.«
»Ja, okay. Erinnere mich daran, wenn wir zurück sind.«
»Danke.«
Fry tippte mit dem Finger auf die Karte. »Ben, wir sollten in die andere Richtung fahren. Nach Eyam.«
Cooper hielt am Straßenrand an und fuhr zur Abzweigung nach Litton zurück. »Übrigens«, sagte er, »meine unidentifizierten Überreste wurden bei Litton Foot gefunden, im Ravensdale-Tal.«
»Ja? Und was ist damit?«
»Litton Foot ist weniger als drei Meilen von Wardlow entfernt. Es fällt in deinen Kreis.«
Fry warf einen Blick auf die Karte. »Aber deine Leiche ist achtzehn Monate alt, Ben.«
»Ich weiß.« Cooper zuckte mit den Schultern. »Ich dachte nur, es wäre erwähnenswert.«
»Erzähl mir was über Eyam.«
»Zunächst mal spricht man es ›Iem‹ aus. Das Dorf wurde durch irgendein verseuchtes Tuch mit der Pest infiziert, aber die Bewohner haben sich selbst unter Quarantäne gestellt, um nicht den Rest von Derbyshire anzustecken.«
»Wann war das?«
»Im siebzehnten Jahrhundert.«
»Aha.«
»Tja, in Eyam sind dreihundertfünfzig Menschen gestorben. Die Namen der Opfer sind auf einigen der Cottages aufgelistet. Pestopfer konnten nicht auf dem Kirchenfriedhof bestattet werden, deshalb befinden sich ihre Gräber auf den Feldern um die Ortschaft. Zum Teil wurden dort ganze Familien auf einmal beigesetzt.«
»Sind diese Grabstätten bekannt?«
»Bekannt? Sie sind eine Touristenattraktion.«
Als sie wieder in der West Street ankamen, verschwand Diane Fry noch vor der abendlichen Einsatzbesprechung zu einer Unterredung mit dem Detective Inspector, und Cooper bekam keine Gelegenheit, sie an ihr Versprechen zu erinnern. Anstatt sich die Tonbandaufzeichnungen anzuhören, breitete er deshalb die Fotos von den sterblichen Überresten aus, die im Ravensdale-Tal gefunden worden waren.
Die Qualität der Tatortfotografie hatte sich enorm verbessert, seit die Fotoabteilung in neue Drucker investiert hatte. Die Farben zeigten nun eine gewisse Ähnlichkeit mit der Realität, anstatt auszusehen wie die Polaroid-Schnappschüsse eines Touristen auf der Durchreise. Jetzt konnte man erkennen, dass es sich bei dem Fleck auf dem Boden neben einer Leiche tatsächlich um Blut handelte und nicht um die Ecke eines graubraunen Teppichs.
Im Freien fingen die Aufnahmen manchmal sogar ziemlich interessante Lichteffekte ein. Auf einem der Ravensdale-Fotos erkannte Cooper das gesprenkelte Muster, das die Sonnenstrahlen erzeugt hatten, die durch den Baldachin aus Blättern gefallen waren. Da die Sonne bereits im Süden gestanden hatte, als die Aufnahmen gemacht wurden, musste es ungefähr Mittag gewesen sein. Der Fotograf hatte sich vermutlich gefragt, wann er endlich Mittagspause machen konnte.
Außerdem gab es eine Skizze des Fundorts, die jemand von der Spurensicherung angefertigt hatte. Sie war mit Pfeilen versehen, die den Markierungen auf dem Kompass entsprachen. Die Skizze bestätigte, was Cooper vor Ort aufgefallen war: Die Füße der Leiche hatten nach Osten gezeigt und der Kopf nach Westen.
Er hatte das Gefühl, dass diese Anordnung irgendeine Bedeutung hatte. Diese Vermutung gründete sich auf etwas, an das er sich verschwommen erinnerte, auf einen vagen Aberglauben, der ihm durch den Kopf geisterte. Er hätte nicht sagen können, wer ihn auf diese Idee gebracht hatte und wann das geschehen war. Vielleicht handelte es sich um etwas, was er als Kind gehört hatte, eine geflüsterte Unterhaltung zwischen älteren Verwandten bei einer Bestattung, ein Fetzen einheimischer Überlieferung.
Von Osten nach Westen. Ja, das hatte irgendeine Bedeutung, da war er sich sicher. Oder handelte es sich bei der Ausrichtung der Leiche doch nur um einen Zufall?
Nach den Überresten zu schließen, die am Fundort sichergestellt worden waren, war die Frau mit einem ziemlich schlichten, hellblauen Kleid, Unterwäsche, Strumpfhose und blauen Sandalen mit zwei bis drei Zentimeter hohen Absätzen bekleidet gewesen. Eine Jacke oder etwas Ähnliches hatte sie nicht über dem Kleid getragen. Es war unwahrscheinlich, dass sie selbst zu dem Bach bei Litton Foot hinuntergegangen war, aber nicht unmöglich.
Das Skelett war unvollständig, da mehrere kleine Knochen fehlten. Und es gab keinen Schmuck, der zur Identifikation hätte dienen können: keine gravierten Armreifen, keinen Ehering. Diese Frau war irgendjemandes Tochter und irgendjemandes Mutter gewesen. Aber war sie auch irgendjemandes Ehefrau gewesen?
Cooper war sich darüber im Klaren, dass er womöglich nie dahinterkommen würde, wie die Frau ums Leben gekommen war. Zumindest nicht anhand ihrer sterblichen Überreste. Die Gerichtsmedizin konnte zwar Erstaunliches leisten, aber keine Wunder vollbringen.
Und dann stellte sich noch die Frage, was mit Jane Raven Lees Leiche nach ihrem Tod geschehen war. Die Möglichkeiten beunruhigten ihn. Die Tote war nicht begraben, sondern einfach auf den Boden gelegt worden, wo sie den Elementen ausgesetzt gewesen war. Die Umstände hatten etwas Rituelles. Cooper wünschte sich, es hätte jemanden gegeben, der ihm sagen konnte, ob er eine wichtige Tatsache erkannt hatte oder ob er sich einfach etwas einbildete.
Die abendliche Einsatzbesprechung dauerte nicht lange. Schließlich gab es nicht viel zu berichten. Bei der forensischen Untersuchung des Tatorts waren keine Anzeichen für einen Kampf in der Nähe von Sandra Birleys Wagen gefunden worden, was vermuten ließ, dass der Entführer ihr keine Chance gelassen hatte zu fliehen und vermutlich eine Waffe benutzt hatte, um sie schnell zu überwältigen. Der Skoda war abgeschlossen gewesen, und von den Wagenschlüsseln fehlte jede Spur.
Der Betonboden des Parkhauses machte die Suche nach Fingerabdrücken beinahe unmöglich. Wer konnte sagen, ob ein Gegenstand, der auf der ölverschmierten Fläche gefunden wurde, von Sandra Birley, von ihrem Angreifer oder von einem der tausend anderen Menschen, die die achte Ebene in den vergangenen Wochen benutzt hatten, fallen gelassen worden war? An der Stützmauer und der Betonleitplanke an der Rampe waren zahllose Fasern sichergestellt worden. Und die Spurensicherung hatte genug Kleingeld gefunden, um damit eine Woche lang ihren Kaffeekonsum zu finanzieren.
»Eine Frage, die ich gerne beantwortet hätte«, sagte Detective Chief Inspector Kessen, »ist, ob unser Mann wusste, bei welchen Überwachungskameras es sich um Attrappen handelt und bei welchen nicht. Und wenn ja, woher? Man kann es unmöglich erkennen, indem man sie nur anschaut, oder?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Detective Inspector Hitchens. »Vielleicht hat er selbst dort gearbeitet oder kennt jemanden, der dort arbeitet. Auf jeden Fall kümmert sich Detective Constable Cooper bereits um die Angestellten.«
»Wie sieht es mit dem Ehemann aus? Wie stehen die Chancen, dass wir auf den Videobändern der Überwachungskameras einen grünen Audi entdecken werden?«
Hitchens zuckte mit den Schultern. »Auf mich hat er einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Er sagt, er wäre zu Hause gewesen, als ihn seine Frau anrief. Das müssten wir anhand der Telefondaten bestätigen können.«
»Dann haben wir also im Moment noch nicht viel.«
»Wir haben zwei bestätigte Sichtungen von Sandra Birley vor ihrer Entführung«, sagte Hitchens. »Sie wurde gesehen, als sie das Büro zwischen Viertel nach sieben und halb acht verließ und die Fargate in Richtung Parkhaus hinunterging. Auch wenn wir den Zeugen einen gewissen Fehlerspielraum zugestehen, müsste sie bis etwa sieben Uhr vierzig bei ihrem Wagen angekommen sein.«
»Moment«, warf Fry ein. »Wann genau wurde sie zuletzt gesehen?«
Hitchens las in seinen Notizen nach. »Nicht später als halb acht. Ein Ladenbesitzer in der Fargate hat sie an seinem Geschäft vorbeigehen sehen.«
»Er war um halb acht noch in seinem Laden? Was für ein Laden ist das denn? Ich dachte, in Edendale machen alle Geschäfte spätestens um sechs dicht.«
»Ein Schuhgeschäft. Und es war tatsächlich schon geschlossen. Glücklicherweise war der Besitzer im Lagerraum bei der Inventur – er möchte seinen Laden bald schließen und verkaufen, deshalb macht er eine komplette Bestandsaufnahme. Aber er kann von dort aus durch den Verkaufsraum auf die Straße sehen. Er hat gesagt, er hätte Sandra Birley schon oft gesehen, und wusste, dass sie bei Peak Mutual arbeitet, obwohl er ihren Namen nicht kannte. Wir haben ihm die Fotos gezeigt, und er ist sich sicher, dass sie es war.«
»Okay.«
Fry nahm die Abschriften der beiden Telefonanrufe in die Hand. Obwohl die gefaxten Seiten erst seit dem Morgen auf ihrem Schreibtisch lagen, waren sie an den Ecken bereits verknittert und verschmiert. Es handelte sich um normales Papier, das angeblich viel besser war als das Thermopapier älterer Faxgeräte. Vielleicht lag es an ihren Händen. Zu viel Hitze.
Sie überflog den Anfang der ersten Seite, obwohl sie beide Botschaften fast schon auswendig kannte. Bald wird sich ein Mord ereignen … Dazu müsst ihr nur die Todesstätte finden.
»Der zweite Anruf ging im Kontrollraum in Ripley gestern um kurz nach halb vier am Nachmittag ein«, stellte sie fest.
»Was wollen Sie damit sagen, Detective Sergeant Fry?«
»Offenbar wollte er uns warnen. ›Bald wird sich ein Mord ereignen.‹ Das hat er gesagt.«
»Ja.«
Fry legte die Seiten wieder beiseite. »Wenn Sandra Birley das Opfer ist, von dem er bei seinen Anrufen gesprochen hat, bedeutet das, dass er vier Stunden Zeit hatte, um ins Stadtzentrum zu fahren und entweder eine Entführung vorzubereiten, die er bereits geplant hatte, oder ein Opfer auszusuchen.«
»Machbar wäre es.«
»Was wir lieber nicht in Erwägung ziehen möchten, ist die Möglichkeit, dass Sandra Birley gar nicht das Opfer ist, das er angekündigt hat. Dass sich sein Mord erst noch ereignen wird.«
»Wahrscheinlich werden wir noch einen Anruf von ihm bekommen, Diane. Offenbar sucht er Aufmerksamkeit, also wird er uns schon mitteilen wollen, dass er es ist. Er hält sich zweifellos für besonders schlau.«
»Was hat die Psychologin gesagt?«, fragte Kessen.
»Sie hat uns geraten, den Anrufen Beachtung zu schenken«, erwiderte Fry.
Hitchens machte ein finsteres Gesicht. »Das ist nicht alles, was Dr. Kane gesagt hat. Sie hat uns ein paar nützliche Hinweise gegeben, was uns der Anrufer sagen möchte.«
»Erwarten wir Wunder von ihr?«, fragte Fry.
Kessen sah sie zum ersten Mal an diesem Tag an. Und Fry wusste, dass er alles gesehen, alles gehört und alles zur Kenntnis genommen hatte. Sie ließ sich von ihm jedes Mal wieder hinters Licht führen.
»Wir können zumindest darauf hoffen, Detective Sergeant Fry«, sagte er.
Dann wandte sich der Detective Chief Inspector wieder Hitchens zu.
»Übrigens«, sagte er, »lassen Sie mich eine Sache klarstellen. Wir geben nichts über diese Anrufe an die Medien weiter. Kein Wort. Sonst rufen sämtliche Verrückte in diesem Land bei uns an. Ein Verrückter reicht uns nämlich voll und ganz.«
Ein paar Minuten später klopfte Cooper an die Bürotür des Detective Inspectors, um ihm sein Problem zu erklären. Nachdem die Einsatzbesprechung vorüber war, machte Hitchens sich bereits fertig, um nach Hause zu gehen. Cooper hörte das Klirren von Flaschen und sah, dass der Detective Inspector den Inhalt einer Tragetasche prüfte. Seiner gerunzelten Stirn nach zu urteilen, fragte er sich, ob er den richtigen Wein zum Abendessen gekauft hatte.
»Ich könnte einen Rat zu dem Fall der menschlichen Überreste im Ravensdale-Tal gebrauchen, Sir«, sagte Cooper. »Wenn Sie mir gestatten würden, dass ich mich erkundige, ob …«
Der Detective Inspector hob die Hand. »Falls Sie jetzt jemanden nennen, der seine Dienste in Rechnung stellt, Ben, lautet die Antwort ›nein‹. Wir haben bei Ihrem Ermittlungsverfahren bereits die Kosten für die Gesichtsrekonstruktion übernommen. Forensische Rekonstrukteure sind nicht gerade billig, wissen Sie. Sie sind auf sich selbst gestellt, es sei denn, Sie liefern genug Beweise, dass aus dem Fall eine Morduntersuchung wird.«
»Aber, Sir, es könnte durchaus ungewöhnliche Aspekte geben, die von Bedeutung sind – Bereiche, in denen ich mich überhaupt nicht auskenne.«
»Ich bin sicher, dafür hat jeder Verständnis, Ben. Aber Sie müssen vorerst allein zurechtkommen. Momentan haben wir andere Prioritäten.«
»Na ja, gibt es denn keine Möglichkeit …?«
Doch der Detective Inspector schüttelte den Kopf. Er nahm die Tasche unter den Arm und klimperte ungeduldig mit seinen Autoschlüsseln.
Cooper kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er nahm eines der Fotos von der Gesichtsrekonstruktion aus dem Stapel und klemmte es in den Konzepthalter an seinem Computermonitor. Der Raum leerte sich langsam, und niemand schenkte Ben Cooper Aufmerksamkeit oder bemerkte, dass er wieder Selbstgespräche führte. Er sagte ohnehin nur einen Satz, den er resigniert an das Foto neben seinem Bildschirm richtete.
»Dann sind wir beide also auf uns allein gestellt, Jane.«
Das Gesicht von Jane Raven Lee starrte ihn schweigend an – die schmutzig braune Haut, die Haarsträhnen auf ihrem Schädel, die leeren Augen, die auf eine Identität warteten.