Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 7
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Melvyn Hudson hatte beschlossen, den letzten Abtransport des Tages selbst zu erledigen. Er mochte es, wenn am Abend ein frischer Leichnam im Kühlraum lag – das bedeutete, dass es am nächsten Tag etwas zu tun gab. Deshalb rief er Vernon aus der Werkstatt zu sich und ließ ihn den Transporter holen. Im Umgang mit Hinterbliebenen war Vernon völlig nutzlos. Das war schon immer so gewesen, seit der alte Mann sie gezwungen hatte, ihn einzustellen. Doch zumindest konnte Hudson ihn auf diese Weise im Auge behalten.
Das Fahrzeug, das sie Transporter nannten, war eigentlich ein umgebauter Renault Espace mit schwarzer Lackierung, verdunkelten Scheiben und einem Kennzeichen mit der Buchstabenkombination HS. Wie bei den Leichenwagen und den Limousinen verriet das Nummernschild des Transporters jedem, dass er Hudson und Slack gehörte. Ihr zuverlässiges ortsansässiges Unternehmen.
Sie waren in der Tat zuverlässig. Allerdings wäre Entsorgen Sie Ihre Toten vielleicht der bessere Slogan gewesen. Manchmal kam Melvyn sich vor, als würde er für die städtische Müllabfuhr arbeiten und einen alten Kühlschrank abholen, der vor die Hintertür gestellt worden war. Die Leute machten sich keine Gedanken darüber, was mit ihrem unerwünschten Abfall passierte. Ihre ausrangierten Kühlschränke konnten sich irgendwo auf einer Mülldeponie auftürmen, und niemand kümmerte es, solange sie keiner sehen musste. Bei Leichen hatten es die meisten sogar noch eiliger, sie loszuwerden.
Ein paar Minuten später fuhr Vernon aus der Fargate hinaus. Am Lenkrad nahm er dieselbe merkwürdig gebeugte Haltung ein, mit der er auch alles andere machte. Hudson hatte sich geschworen, Vernon hinauszuwerfen, sobald dieser noch eine Sache verbockte, ganz egal, was der alte Slack dazu sagen würde. Der Junge war eine Belastung, und dieses Unternehmen konnte sich keine Belastungen mehr leisten.
Hudson schnaubte verächtlich, als sie durchs Zentrum von Edendale fuhren. Junge? Vernon war fünfundzwanzig, in Gottes Namen. Er hätte allmählich lernen sollen, wie das Geschäft lief, damit er bereit war, es zu übernehmen, wenn der Zeitpunkt kam. Doch weit gefehlt. Vernon war nicht annähernd der Mann, der sein Vater gewesen war. Richard hatte bei der Erziehung seines Sohnes wahrlich keine Meisterleistung vollbracht. Nicht dass es noch lange ein Geschäft geben würde, das jemand übernehmen musste.
Als sie bei der Adresse in Southwoods ankamen, bat Hudson die Angehörigen, im Erdgeschoss zu warten. Nichts war schlimmer als Hinterbliebene, die beobachteten, wie der Verstorbene in einen Leichensack gehievt wurde. Wenn die Leichenstarre noch nicht vollständig eingetreten war, neigten Leichname nämlich dazu, schlaff herumzufallen. Manchmal hatte man den Eindruck, als erwachten sie wieder zum Leben.
In diesem Fall handelte es sich um den zusammengeschrumpften und unangenehm riechenden Leichnam eines alten Mannes, der Blasen grauen Schaums an den Lippen hatte. Er war noch nicht ganz kalt, doch seine Haut fühlte sich an wie Scheibenkitt, wächsern und nachgiebig. Wenn er ihm den Finger fest genug in den Bauch gedrückt hätte, dachte Hudson, wäre er vermutlich so tief eingesunken, bis er die Wirbelsäule berührt hätte.
Vernon stand wie ein Idiot neben dem Bett, ließ die Arme hängen und war mit seinen Gedanken irgendwo anders, nur nicht bei der Arbeit.
»Was ist los mit dir?«, wollte Hudson wissen.
»Melvyn, fallen dir bei einem Abtransport eigentlich nie die Kleinigkeiten im Schlafzimmer auf?«
»Was zum Beispiel?«
»Einfach nur Kleinigkeiten. Sieh mal, da steht ein Glas Wasser, das er nur halb ausgetrunken hat. Dort liegt ein Rasierer, mit dem ihn heute Morgen jemand rasiert hat. Obwohl er tot ist, hängen noch immer ein paar Haare von ihm dran.«
»Natürlich ist er tot, verdammt noch mal«, sagte Hudson und bemühte sich dabei, seine Stimme zu dämpfen. »Was glaubst du denn, dass wir hier tun?«
»Siehst du dir diese Dinge nicht an, Melvyn?«
»Nein. Das ist doch nur ein Job. Wir sind Profis.«
»Aber denkst du dir denn nicht manchmal … Na ja, wenn all dieses Zeug rumliegt, kommt es einem vor, als wäre er gar nicht wirklich tot. Er ist noch immer hier im Zimmer.«
»Herrgott noch mal, hör auf zu denken, Vernon, und pack bei dem alten Knacker hier mal mit an.«
Hudson packte den Leichnam in den Kniekehlen, während Vernon ihn unter den Achseln anhob. Dabei bewegte sich ein Arm nach oben, und die Hand klappte weg, als winkte der Verstorbene zum Abschied.
»Pass auf, dass er uns nicht auf den Boden fällt«, warnte Hudson. »Die Angehörigen da unten geben ihr Bestes, so zu tun, als wüssten sie nicht, was hier vor sich geht. Ein dumpfer Schlag von oben würde die Illusion zerstören.«
Sie hievten den Leichnam auf die Bahre und manövrierten ihn über die Treppe nach unten. In alten Cottages wie diesem war das immer ein Problem. Die Türöffnungen waren zu schmal und die Treppen zu steil. Am Fuß der Treppe um die Ecke zu kommen, war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Hudson dachte sich oft, dass die Menschen viel kleiner gewesen sein mussten, als diese Häuser gebaut worden waren – es sei denn, die Toten waren damals durchs Fenster abgeseilt worden.
Nachdem sie die Bahre in den Transporter geschoben hatten, strich sich Hudson über die Ärmel seines Jacketts und ging zurück ins Haus. Da es sich nur um einen Abtransport handelte, trug er nicht seine feierliche Bestattungsbekleidung, sondern nur einen alten Anzug, doch er legte trotzdem großen Wert auf eine gepflegte Erscheinung.
»Sie brauchen sich um nichts zu kümmern«, sagte er der Tochter des Verstorbenen. »Ich weiß, dass Ihr Vater bereits seit längerer Zeit krank war, aber es ist immer ein Schock, wenn ein geliebter Mensch aus dem Leben scheidet. Dafür sind wir hier: Um Ihnen einen Teil der Last abzunehmen und sicherzustellen, dass in dieser schweren Zeit alles reibungslos läuft.«
»Vielen Dank, Mr. Hudson.«
»Ich muss Sie nur noch um eine Sache bitten. Sie wissen vermutlich, dass Sie sich vom Arzt eine medizinische Bescheinigung ausstellen lassen und den Tod Ihres Vaters melden müssen? Beim Standesamt bekommen Sie eine Sterbeurkunde und eine Verfügungsgenehmigung ausgestellt. Die Genehmigung geben Sie dann mir.«
»Verfügung?«, fragte die Tochter unsicher.
»Ich weiß, das klingt nach einer Menge Bürokratie, aber es lässt sich leider nicht vermeiden.« Hudson sah, dass sie nervös wurde, und schenkte ihr sein beruhigendes Lächeln. »In Zeiten wie diesen ist es manchmal das Beste, wenn man viel zu tun hat, sodass einem keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Wir werden dafür sorgen, dass Ihr Vater eine wunderbare Bestattung bekommt und Ihre letzten Erinnerungen an ihn schöne Erinnerungen sind.«
Die Tochter begann zu weinen, und Hudson nahm einen Augenblick lang ihre Hand, ehe er das Haus verließ.
Im Transporter griff Vernon nach dem Block mit Formularen unter dem Armaturenbrett.
»Lass den Papierkram«, sagte Hudson. »Da kümmere ich mich selber drum.«
»Ich weiß, was zu tun ist, Melvyn.«
»Ich habe gesagt, lass mich das machen. Konzentrier du dich einfach aufs Fahren.«
»Warum lässt du mich nicht die Formulare ausfüllen?«
»Ach, halt doch die Klappe, Vernon, ja? Du bekommst sowieso die besten Jobs, oder etwa nicht? Ich lasse dich den Transporter fahren. Ich lasse dich sogar die Limousinen fahren.«
»Ich bin ja auch ein guter Fahrer.«
Hudson musste zugeben, dass Vernon ein ziemlich guter Fahrer war. Doch die Limousinen fuhr jeder gerne. Man bekam dabei immer interessante Sachen von den Trauernden im Fond zu hören. Auf dem Weg zur Bestattung achteten sie nicht darauf, was sie sagten, und auf dem Rückweg noch weniger. Sie vermittelten einem einen völlig anderen Eindruck von dem Verstorbenen als der Pfarrer mit seiner Lobesrede. Vernon war genau wie alle anderen – es gefiel ihm, die Hinterbliebenen zu belauschen. Doch wenn er bei einem Abtransport launisch und seltsam wurde, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ein paar Minuten später hielten sie vor der Hintertür ihrer Geschäftsräume an, brachten den Leichnam in die Leichenhalle und schoben ihn in eines der unteren Fächer des Kühlschranks. Selbst Vernon musste zugeben, dass ein Leichnam nur noch ein Ding war, nachdem er von zu Hause abtransportiert worden war, weg von dem halb getrunkenen Glas Wasser und den Haaren am Rasierer. Daran gab es nichts zu rütteln, wenn man die Handgriffe erledigte, die zum Präparieren eines Leichnams erforderlich waren: das Einsetzen des Gebisses, das Zusammennähen der Lippen, das Modellieren des Gesichts, um es wieder in Form zu bringen. Hudson machte all das nichts mehr aus. Es sei denn natürlich, es handelte sich um ein Kind.
»Pass auf, dass die Schublade nicht rausrutscht.«
Mit einem Ruck kam wieder Leben in Vernon. Er hatte seine Gedanken schweifen lassen, doch das hatte Hudson ebenfalls getan. Auch jetzt wäre es nicht angebracht gewesen, den Leichnam auf den Boden fallen zu lassen.
Vicky, die Empfangsdame, saß vorn im Büro und arbeitete am Computer. Potenzielle Kunden waren keine in Sicht. Heute stand keine Bestattung mehr an, doch der nächste Sarg wartete auf seine Einäscherung am nächsten Morgen, und ein Mitarbeiter befestigte bereits die rutschfesten Gurte, die die Kränze hielten.
Hudson wusste, dass einige der Mitarbeiter der Ansicht waren, er würde zu viel Aufhebens um alles machen. Sie lachten hinter seinem Rücken über ihn, weil er davon besessen war, Zeitpläne einzuhalten, und sich immer Sorgen wegen Baustellen und Verkehrsstaus machte. Doch ihm war daran gelegen, dass bei jeder Bestattung alles glatt lief. Aus demselben Grund verbrachte er seine Abende am Telefon, gab Kunden Ratschläge, was sie mit der Asche ihrer Verstorbenen tun sollten, bekam Rückmeldung zu Bestattungen und erfuhr, wie es den Hinterbliebenen erging.
All das gehörte zum persönlichen Service. Und persönlicher Service war das größte Kapital von Hudson und Slack. Vermutlich sogar ihr letztes verbliebenes Kapital.
Ben Cooper fuhr mit seinem Toyota auf die Sheffield-Ringstraße und fädelte knapp vor einer Straßenbahn ein, die von Shalesmoor in Richtung Stadtzentrum rumpelte. Obwohl er offiziell nicht im Dienst war, schloss er sein Mobiltelefon an der Freisprechanlage an und rief in der Einsatzzentrale der E-Division an, um sich zu vergewissern, ob er nicht doch gebraucht wurde. Eigentlich rechnete er jedoch nicht damit, da nur eine wirklich dringende Angelegenheit Überstunden gerechtfertigt hätte.
»Madame ist in irgendeiner Besprechung mit dem Detective Inspector«, sagte Detective Constable Gavin Murfin. » Aber sie hat keine Nachricht für dich hinterlassen, Ben. Ich sage ihr aber, dass du dich gemeldet hast. Allerdings gehe ich selber demnächst nach Hause, also würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen.«
»Okay, Gavin. Ich bin mitten im Berufsverkehr und würde sowieso ungefähr vierzig Minuten brauchen, um nach Edendale zurückzufahren.«
Vor ihm leuchteten Bremslichter auf, als sich Dutzende von Autos vor der Kreuzung mit der A57 stauten. Ein paar Fahrer versuchten, rechts in Richtung der westlichen Vororte von Sheffield abzubiegen, doch die meisten hatten offenbar die Absicht, die Ringstraße entlangzukriechen, da sie vermutlich auf dem Weg nach Mosborough und Hackenthrope, Beighton und Ridgeway waren, den ausgedehnten Gemeinden im Süden. Einige dieser Orte hatten sich einst in Derbyshire befunden, doch die Stadt hatte sie vor dreißig Jahren geschluckt.
»Gavin, worum geht es in der Besprechung?«, fragte Cooper, da er befürchtete, womöglich irgendetwas Wichtiges zu verpassen. Alles, was von Bedeutung war, schien immer genau dann zu passieren, wenn er gerade nicht im Büro war. Manchmal fragte er sich, ob Diane Fry es absichtlich so plante. Obwohl sie seine Vorgesetzte war, hatte sie es nicht immer eilig, ihn auf den neuesten Stand zu bringen.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Murfin. »Sie hat es mir nicht gesagt. Ich muss ihr noch ein paar Akten bringen, dann kann ich mich hoffentlich verdünnisieren, bevor sie mir noch irgendeinen Job aufbrummt.«
»Überstunden gibt’s nicht, Gavin.«
»Was du nicht sagst.«
Cooper war wieder zum Stehen gekommen. Neben ihm standen Scharen von Studenten, die darauf warteten, dass die Straßenbahn aus dem Tunnel unter dem Kreisverkehr auftauchte. Sie trugen alle Kopfhörer oder hielten sich Mobiltelefone ans Ohr. Der Hauptcampus der Universität befand sich genau auf der anderen Straßenseite, und er erkannte die Krankenhauskomplexe an der Western Bank. Da ihn das Einbahnstraßensystem im Zentrum von Sheffield jedes Mal verwirrte, war er froh, auf der Ringstraße zu sein. Er wollte nicht länger als nötig in der Stadt bleiben.
»Hast du vielleicht Lust, morgen Abend was trinken zu gehen?«, erkundigte sich Murfin.
»Musst du denn nicht zu Hause bei deiner Familie bleiben, Gavin?«
»Jean geht mit den Kindern Schlittschuh laufen. Ich habe sturmfreie Bude.«
»Nein, tut mir leid. Morgen geht’s bei mir nicht.«
»Du schlägst ein Bier aus? Tja, was zu essen könnte ich auch anbieten. Wir könnten im Pub Pastete mit Pommes essen oder zum Inder gehen. Das Raj Mahal hat mittwochs offen.«
»Nein, ich kann nicht, Gavin«, sagte Cooper. »Ich habe ein Date.«
»Ein was?«
»Ein Date.«
»Mit einer Frau?«
»Schon möglich.«
Cooper konnte endlich seine Ausfahrt nehmen und bog beim Safeway-Supermarkt und der alten Brauerei in die Ecclesall Road ein. Vor ihm lag eine Landschaft aus Espressobars, Küchenzubehörgeschäften und den Büros unabhängiger Finanzberater. In den grünen Vororten Whirlow und Dore wurden die Häuser größer und standen weiter von der Straße entfernt, als er zurück in die Provinz fuhr.
»Bist du noch dran, Gavin?«
Murfins Stimme war leiser, als er wieder sprach.
»Ich muss Schluss machen. Madame ist aus ihrer Besprechung gekommen, und sie macht keinen glücklichen Eindruck. Ihre Nase ist auf einmal ganz schmal. Weißt du, was ich meine? Als hätte sie gerade was richtig Schlechtes gerochen.«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Sieht so aus, als hätte ich’s vermasselt. Ich war einfach nicht schnell genug.«
»Na dann, viel Glück. Wir sprechen uns morgen früh.«
Cooper beendete das Gespräch mit einem Lächeln. Murfins Bemerkung über Diane Fry hatte ihn an den Bericht des forensischen Anthropologen über die menschlichen Überreste aus dem Ravensdale-Tal erinnert. Die Details waren in dem Dokument dünn gesät gewesen. Wie so viele Expertenberichte schien es mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Doch er hatte Dr. Jamieson trotzdem angerufen, in erster Linie aus Optimismus. Letzten Endes war er derjenige, dessen Aufgabe es war, die Antworten zu finden.
»Die Nasenöffnung ist schmal, der Nasenrücken läuft spitz zu, und die Wangenknochen sind ausgeprägt. Kaukasischer Abstammung, vermutlich europäischer. Eine Erwachsene.«
»Ja, das hatten Sie bereits in Ihrem Bericht geschrieben, Sir.«
»Aussagen zu treffen, die darüber hinausgehen, ist schon etwas schwieriger. Wir müssen nach Unregelmäßigkeiten am Skelett Ausschau halten, die mit einer vorhersagbaren Häufigkeit auftreten – Abweichungen der Rippen an den Stellen, wo sie auf das Brustbein treffen, oder an der vorderen Verbindungsstelle der Beckenknochen. Mit etwas Glück können wir das Alter bei Erwachsenen auf fünf bis zehn Jahre genau bestimmen. Vierzig bis fünfundvierzig Jahre ist also die bestmögliche Schätzung ihres Alters.«
»Besteht irgendeine Chance, eine Übereinstimmung zu finden?«, hatte Cooper gefragt.
»Mit einer bestimmten Person? Nein.«
Dr. Jamieson hatte ungeduldig geklungen. Vermutlich hatte er tausend andere Dinge zu erledigen gehabt wie jeder andere auch.
»Hören Sie, ich kann Ihnen nicht mehr bieten als ein allgemeines biologisches Profil – es ist Ihre Aufgabe, eine Übereinstimmung mit Ihrem Vermisstenregister zu finden. Ich liefere nur Anhaltspunkte. Ich vollbringe keine Wunder.«
»Aber es handelt sich definitiv um eine Frau?«, hatte Cooper nachgehakt.
»Ja, ohne Zweifel. Das müsste das Ganze doch ein bisschen eingrenzen. Sie haben bestimmt nicht allzu viele vermisste Frauen aus Derbyshire in Ihrer Kartei, oder?«
»Nein, Doktor, das haben wir nicht.«
Und Jamieson hatte recht gehabt. Das Problem war, dass niemand eine Vermisstenmeldung gemacht hatte, bei der die Personenbeschreibung auf Jane Raven gepasst hätte.
Diane Fry holte sich einen Becher Wasser aus dem Kühlapparat und wartete einige Augenblicke, ehe sie wieder ins Büro des Detective Inspectors ging. Sie nahm flüchtig zur Kenntnis, dass Gavin Murfin verstohlen in der Einsatzzentrale herumschlich und sich wieder hinsetzte, als sie in seine Richtung sah. Doch außer ihm war niemand mehr im Raum, der abgestanden roch und auf das Eintreffen der Reinigungskräfte wartete.
Sie ging zurück und stellte ihr Wasser auf Hitchens’ Schreibtisch ab.
»Er war über drei Minuten am Telefon«, stellte sie fest. »Warum wurde der Anruf nicht geortet?«
»Wurde er. Er hat von einer Telefonzelle aus angerufen.«
»Wie zu erwarten war. Zweifellos aus irgendeinem überfüllten Einkaufszentrum, wo ihn niemand bemerkt hat. Und ich nehme an, er war längst über alle Berge, als eine Streife eintraf?«
Hitchens sah Fry mit den ersten Anzeichen von Ungeduld an, und ihr wurde bewusst, dass sie ein wenig zu weit gegangen war. Sie schob das auf ihre Kopfschmerzen und auf die Tatsache, dass sie völlig erschöpft war.
»Wenn Sie es genau wissen möchten, Diane, er hat von einer Telefonzelle in einer Ortschaft namens Wardlow angerufen.«
»Wo liegt das?« Sie hob den Blick zu der Karte, die im Büro des Detective Inspectors an der Wand hing, und tat so, als konzentrierte sie sich, um von ihrer Gereiztheit abzulenken.
»An der B6465, etwa zwei Meilen oberhalb von Monsal Head.«
Fry behielt ihr konzentriertes Stirnrunzeln bei. Sie glaubte, ungefähr zu wissen, wo Monsal Head lag: irgendwo im Süden, auf dem Weg nach Bakewell. Wenn sie es doch nur gefunden hätte, bevor der Detective Inspector darauf deuten musste …
»Hier«, sagte Hitchens, drehte sich mit seinem Stuhl um und tippte mit beiläufiger Treffsicherheit auf eine Stelle auf der Karte. »Fünfzehn Minuten von Edendale entfernt, nicht mehr.«
»Warum von dort?«
»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Auf den ersten Blick scheint es eine riskante Wahl zu sein. Es ist ein kleiner, ruhiger Ort, in dem ein Fremder auffallen würde – oder zumindest ein unbekannter Wagen, der am Straßenrand geparkt ist. Unter normalen Umständen hätten wir hoffen können, dass sich irgendjemand daran erinnert, zur fraglichen Zeit eine Person in der Telefonzelle bemerkt zu haben.«
»Und was war nicht normal?«
»Als eine Einheit in Wardlow eintraf, verließ gerade ein Leichenzug die Ortschaft. Auf dem Friedhof der Kirche hatte eine Beerdigung stattgefunden. Eine große Bestattung mit einer Menge Trauergästen. Offenbar stammte die Verstorbene ursprünglich aus Wardlow, hatte dann jedoch nach ihrem Umzug nach Chesterfield als Unternehmerin und Bezirksrätin Bekanntheit erlangt. Tatsache ist, dass sich für diese anderthalb Stunden zahlreiche Fremde im Ort aufgehalten haben. Überall waren fremde Autos geparkt.«
Hitchens’ Finger rutschte ein kurzes Stück auf der Karte nach unten. »Wie Sie sehen, handelt es sich um eine dieser langgezogenen Ortschaften, und sie erstreckt sich über ungefähr eine Dreiviertelmeile an der Straße entlang. Während der Bestattung war jeder verfügbare Parkplatz belegt. Sogar auf der Wiese am Straßenrand und auf den Bürgersteigen standen Fahrzeuge. Einige Bewohner der Ortschaft haben dem Begräbnis natürlich selbst beigewohnt. Und denjenigen, die nicht dort waren, wäre wohl kaum ein bestimmter Fremder oder ein bestimmter Wagen aufgefallen. An jedem anderen Tag, zu jedem anderen Zeitpunkt, ja. Aber nicht genau dann.«
»Dann war es also ein opportunistischer Anruf? Denken Sie, unser Mann ist einfach in der Gegend herumgefahren, hat nach einer Situation wie dieser Ausschau gehalten und die Gelegenheit genutzt?«
»Möglicherweise.«
Fry schüttelte den Kopf. »Aber er hatte seine Rede vorbereitet, oder etwa nicht? Das klingt nicht nach einem spontanen Anruf. Entweder hatte er den Text in der Telefonzelle in schriftlicher Form vor sich, oder er hatte ihn Wort für Wort auswendig gelernt.«
»Ja, ich denke, da haben Sie recht.«
»So oder so, dieser Mann ist schwer gestört«, sagte sie.
»Das heißt allerdings nicht, dass er nicht ernst meint, was er sagt, Diane.«
Fry gab keine Antwort. Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Anrufer durch die Vororte von Edendale und die dahinterliegenden Dörfer fuhr und dann in Wardlow die Beerdigung entdeckte. Sie sah im Geiste sein Lächeln, als er zwischen den Fahrzeugen der Trauergäste und den schwarzen Limousinen anhielt. Ganz sicher hatte niemand gefragt, wer er sei oder was er dort verloren habe, als er in die Telefonzelle trat und seinen Anruf tätigte. In der Zwischenzeit hatten sich die Trauergäste vermutlich in der Kirche hinter ihm versammelt, damit der Trauergottesdienst beginnen konnte.
»Die Aufnahme«, sagte Fry. »Wurden die Kriminaltechniker gebeten, die Hintergrundgeräusche zu analysieren?«
»Wir werden dafür sorgen, dass sie das tun«, erwiderte Hitchens. »Aber warum fragen Sie?«
»Ich habe mir überlegt, welche Musik wohl gelaufen ist. ›Abide With Me‹, vielleicht. Oder ›The Lord’s My Shepherd‹. Unter Umständen können wir bestimmen, wie weit der Trauergottesdienst bereits fortgeschritten war und ob sich der Anrufer schon in der Telefonzelle befand, als die Trauergäste in die Kapelle hineingingen, oder ob er mit seinem Anruf gewartet hat, bis der Gottesdienst begonnen hatte. Vielleicht gab es irgendwelche Spätankömmlinge, die ihn bemerkt haben. Wenn wir die Sache eingrenzen können, sind wir womöglich in der Lage, die Leute ausfindig zu machen, bei denen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass sie ihn gesehen haben.«
»Das klingt gut.«
»Und noch eine Sache …«
»Ja?«
»Ich frage mich, ob er einfach wieder gefahren ist, nachdem er mit seinem Anruf fertig war.«
»Warum?«
»Na ja, damit wäre er doch aufgefallen, oder nicht? Vielleicht hätte sich jemand gewundert, warum er wieder wegfährt, ohne den Gottesdienst zu besuchen. Wenn er tatsächlich so clever ist, vermute ich, dass er geblieben ist.«
»Geblieben ist?«
»Sich der Versammlung angeschlossen hat. Hinten in der Kirche gestanden und die Lieder mitgesungen hat. Vielleicht hat er sich am Grab herumgetrieben und zugesehen, wie die erste Schaufel Erde auf den Sarg fiel. Wahrscheinlich hat er die Hinterbliebenen angelächelt und die Blumenkränze bewundert. Dann wäre er einer aus der Menge gewesen.«
»Nur ein weiterer anonymer Trauergast. Ja, das könnte ich mir gut vorstellen.«
»Einer aus der Menge«, wiederholte Fry, fasziniert von ihrer eigenen Idee. »Und allen geht dasselbe durch den Kopf.«
»Wie meinen Sie das, Diane?«
»Tja, noch wissen wir nichts über ihn, aber ich wette, er gehört zu den Leuten, denen diese Vorstellung gefallen würde. Alle Menschen um ihn herum denken über den Tod nach, während er seinen Anruf tätigt.«
Sie hielt inne und sah Hitchens an, der sich mit seinem Stuhl drehte und ihren Blick traf, das Gesicht von Sorge überschattet. Fry sah, dass sie zu ihm durchgedrungen war, dass sie ihr eigenes tiefes Unbehagen kommuniziert hatte. Die Worte des Anrufers in der Abschrift waren schlimm genug. Jetzt merkte sie, wie sie mit einer Mischung aus Spannung und Furcht an den Klang seiner Stimme dachte.
»Mit dem Unterschied«, sagte Hitchens, »dass sein Tod – der Tod, über den er bei seinem Anruf sprach – nichts mit der verstorbenen Bezirksrätin zu tun hat, die auf dem Kirchenfriedhof von Wardlow beigesetzt wurde. Das war ein ganz anderer Tod.«
»Das ist natürlich richtig«, stimmte Fry zu. »Aber wir haben keine Ahnung, um wessen Tod es geht.«
Der Detective Inspector sah auf seine Armbanduhr. Es war Zeit, Feierabend zu machen. Im Gegensatz zu einigen seiner Untergebenen hatte er gute Gründe, rechtzeitig nach Hause zu kommen: eine attraktive Krankenschwester, mit der er seit zwei Jahren zusammenlebte, und ein hübsches Haus in Dronfield, das sich die beiden gemeinsam gekauft hatten. Doch das bedeutete früher oder später Heirat und Kinder, und dann würde er es vielleicht nicht mehr so eilig haben.
»Morgen früh steht der Fall Ellis an, nicht wahr?«, sagte er. »Wann sind Sie dran, Diane?«
»Um halb elf.«
»Ist alles vorbereitet?«
»Detective Constable Murfin stellt eine Checkliste für mich zusammen.«
»Gut. Der Bestattungsunternehmer, der das Begräbnis durchgeführt hat, ist hier aus der Stadt«, sagte Hitchens. »Sie werden am Morgen noch Zeit haben, sich mit ihm zu unterhalten, bevor Sie vor Gericht erscheinen müssen.«
Fry freute sich nicht auf ihren Auftritt vor Gericht am nächsten Morgen. Doch zumindest hatte sie getan, was sie konnte, um die Angelegenheit so unkompliziert wie möglich zu machen und der Strafverfolgungsbehörde eine stichhaltige Anklage zu verschaffen. Mit etwas Glück würde es bis Ende der Woche einen weiteren Langzeitgast in einer Zelle des Gefängnisses von Derby geben.
Viele der Details im Fall Micky Ellis waren deprimierenderweise vorhersehbar gewesen. Jedes Mal, wenn Polizisten der E-Division zu einer Leiche in der Devonshire-Siedlung in Edendale gerufen wurden, rechneten sie mit einer weiteren häuslichen Gewalttat. Mit einem Tötungsdelikt innerhalb der Familie, einem so genannten Kategorie-C-Mord.
»Weißt du, es erstaunt mich immer wieder, wie oft die Täter in Fällen wie diesem das Ereignis selbst melden«, sagte Fry, während sie die Unterlagen durchsah, die Gavin Murfin für sie zusammengestellt hatte. »Wenn sie die Leiche auf dem Boden liegen sehen, fällt ihnen nichts Besseres ein, als den Notruf zu verständigen.«
»Also ich finde es sehr aufmerksam von ihnen, dass sie sich in der Situation noch Gedanken über unsere Aufklärungsrate machen«, erwiderte Murfin.
»Ist alles komplett, Gavin?«
»Alles mit einer hübschen Schleife zusammengebunden. Dann drücke ich dir mal die Daumen, dass die Anhörung nicht allzu lange dauert«, sagte Murfin, als Fry die oberste Akte zuklappte. »Ich habe gehört, dass Micky auf schuldig plädieren will, also müsste bis Weihnachten alles vorbei sein. Nicht dass ihm irgendwas anderes übrig bleiben würde.«
»Der Fall hat sich praktisch von selbst gelöst«, sagte Fry.
»Die sind mir am liebsten. Ich hasse Rätselfälle, du nicht? Wenn die Computer meinen, sie könnten mir sagen, was zu tun ist, und all die Idioten hier im Gebäude sich darüber beschweren, wie ich meinen Papierkram erledige.«
»Ich nehme an, du meinst damit das HOLMES-System?«
»HOLMES – wer sich wohl diesen Namen ausgedacht hat? Wahrscheinlich irgend so ein Klugscheißer aus dem Ministerium. Eines Tages werden sie sämtliche Bullen entlassen und stattdessen Computer auf die Straße schicken.«
»Wann läuft eigentlich dein Arbeitsvertrag aus, Gavin?«
Murfin gab keine Antwort. Er arbeitete eine Zeit lang schweigend vor sich hin. Fry konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass sich sein Mund noch bewegte, aber kein Wort herauskam.
»Du hast nur noch ein paar Monate, habe ich recht?«, sagte sie.
»Schon möglich.«
»Das heißt, du musst für eine Weile zurück in den normalen Polizeidienst, oder?«
»Es sei denn, ich werde befördert«, erwiderte Murfin mürrisch.
»Dann hoffen wir mal das Beste.«
Fry bemerkte den Blick, den Murfin ihr zuwarf. Natürlich hatten sie möglicherweise unterschiedliche Vorstellungen davon, wie das Beste aussah.
Ben Cooper lächelte noch immer, als er die Vororte von Sheffield hinter sich ließ und einen Gang zurückschaltete, um den Anstieg zum Houndkirk Moor in Angriff zu nehmen. Am oberen Ende dieser Straße befand sich das Fox House Inn, wo er wieder nach Derbyshire hinein und durch den Nationalpark fuhr. Nachdem er die Grenzmarkierung am Straßenrand passiert hatte, schien Sheffield ganz plötzlich weit hinter ihm zu liegen. Und als er sah, wie sich die Moore, die mit violettem Heidekraut leuchteten, vor ihm ausbreiteten, überfiel ihn wie jedes Mal ein Glücksgefühl, nach Hause zu kommen.
Cooper warf abermals einen Blick auf die Akte, die auf dem Beifahrersitz lag. Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Gegend, in die er fuhr, auch Jane Raven Lees Heimat gewesen. Irgendwo in den Tälern und den kleinen Städten des White Peak musste sich der Ort befinden, an dem sie gelebt hatte, ein Haus, das voll von ihren Habseligkeiten war, und Angehörige, die sie noch immer vermissten und sich fragten, was aus ihr geworden war. Doch Angehörige, die einen liebten und vermissten, meldeten einen auch als vermisst, oder etwa nicht?
Am vorangegangenen Wochenende war Cooper mit seinen Freunden Oscar und Rakesh zwei Tage in den Black Mountains beim Wandern gewesen. Dort hatte er sich lange genug an der frischen Luft aufgehalten, um einen klaren Kopf zu bekommen, und die Chance genutzt, seinen Job für eine Weile zu vergessen. Trotzdem hatte er ein unterschwelliges Unbehagen verspürt, das er nicht genau bestimmen konnte, bis sie wieder auf dem Heimweg waren und auf der M5 durch Südwales zurückfuhren.
Rakki hatte die erste Bombe platzen lassen. Er wollte im kommenden April heiraten und hatte erwähnt, dass er darüber nachdachte, nach Kenia zurückzugehen. Seine Gründe hatten fadenscheinig geklungen, selbst in Coopers Ohren – er hatte irgendetwas vom Geruch von Zitronenpfeffer gesagt, von winzigen grünen Fröschen in der Wiese und dem Mondlicht am Strand von Mombasa. Doch Rakki war fünf Jahre alt gewesen, als seine Familie Ende der 70er-Jahre nach Großbritannien emigriert war, und diese Erinnerungen waren die einzigen, die er an seine Heimat hatte. Als sie später an einer Autobahnraststätte angehalten hatten, hatte er die indische Provinz Gujarati erwähnt, aus der seine Großeltern stammten. Rakki war selbst noch nie dort gewesen, aber sein Bruder Pradesh war letztes Jahr dorthin gereist. Für Menschen mit guter schulischer Bildung gab es in Gujarati offenbar endlos viele Möglichkeiten.
Und Cooper hatte sich daran erinnert, dass auch Oscar bereits seit einem Jahr in einer festen Beziehung lebte. Er spürte, wie ihm seine alten High-Peak-College-Freundschaften langsam entglitten, ein Prozess, der begonnen hatte, als sie beruflich verschiedene Wege gegangen waren: Oscar war Rechtsanwalt geworden, und Rakki hatte sich für die IT-Branche entschieden. Und eines Tages in naher Zukunft, wenn sie irgendwo auf dem Land auf einem Hügel standen, würden sie stillschweigend übereinkommen, dass dies ihr letztes gemeinsames Wochenende gewesen war.
Cooper drückte das Gaspedal ein Stück weiter durch, als die Silhouette des Fox House Inn vor dem Hintergrund des Abendhimmels ins Blickfeld kam. Er spürte, wie der Toyota beschleunigte und bereitwillig Boden gutmachte. Ihn hatte ein irrationales Gefühl überkommen, das vermutlich aus seiner Erleichterung geboren war, die Stadt hinter sich zu lassen. Es handelte sich um ein plötzliches Aufwallen von Zuversicht, um das unerschütterliche Wissen, dass er seine Aufgabe meistern würde.
Die Gesichtsrekonstruktion hatte ihm die Chance eröffnet, die er brauchte, und er zweifelte nicht daran, dass er sie würde nutzen können. Sobald er diesen Hügel erklommen hatte, würde auch Jane Raven Lee nach Hause kommen.
Diane Fry trat mit dem rechten Fuß schwungvoll nach hinten und stieß die Haustür zu. Doch der Lärm aus der Wohnung im Erdgeschoss ließ kein bisschen nach. Disco-House mit Urban Drumloops in voller Lautstärke. Wie fest sie die Tür auch zuschlug, die verdammten Studenten hörten bei dem Getöse aus ihrer Stereoanlage das Geräusch einfach nicht.
Einen Moment lang zog sie in Erwägung, bei ihnen zu klingeln und sich zu beschweren. Vielleicht hätte es ihr kurz Genugtuung verschafft, sie anzuschreien. Ihr war jedoch bewusst, dass sie damit nur ihre Zeit verschwenden und sich unnötig aufregen würde. Von der Arbeit nach Hause zu kommen, sollte einem schließlich dabei helfen, sich zu entspannen, und nicht noch mehr Stress verursachen, oder etwa nicht?
Fry blickte die Treppe hinauf zu ihrer eigenen Wohnungstür. Ja. Es bestand noch Hoffnung.
In ihrer Wohnung war es still bis auf das dumpfe Pochen der Bässe, das von unten durch die Decke drang. Angie war also unterwegs. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, keinen Hinweis, wann sie wieder zurück sein würde. Fry öffnete die Tür zum Zimmer ihrer Schwester und warf einen Blick hinein. Bei jedem anderen hätte sie womöglich anhand der fehlenden Kleidungsstücke sagen können, ob er in den Pub, zum Laufen oder zu einem Bewerbungsgespräch gegangen war. Aber nicht bei Angie. Ein T-Shirt und Jeans genügten ihr völlig, egal, für welchen Anlass.
Seit ihre Schwester bei ihr eingezogen war, machte Fry sich fast ebenso viele Sorgen wie damals nach Angies Verschwinden. Vielleicht sogar mehr. In all den Jahren, in denen sie voneinander getrennt gewesen waren, hatte ihre Unkenntnis über Angies Verbleib ständig Anlass zu schwerer, quälender Sorge gegeben, war aber gleichzeitig zu einem Aspekt ihres Lebens geworden, den sie zu akzeptieren gelernt hatte wie einen amputierten Finger. Jetzt war die Sorge bohrender und schmerzhafter, und sie wurde tagtäglich daran erinnert. Durch die Gegenwart ihrer Schwester in der Wohnung.
Fry fand eine Käse-Zwiebel-Quiche im Gefrierfach und schob sie in die Mikrowelle. Dann öffnete sie einen Tetrapack Orangensaft, setzte sich an den Küchentisch und widmete sich der Micky-Ellis-Akte. Sie hatte schon oft vor dem Bezirksgericht als Zeugin ausgesagt, empfand es aber trotzdem immer wieder als eine schwierige Erfahrung. Die Verteidiger stürzten sich jedes Mal auf den kleinsten Fehler von ihr, auf das geringste Anzeichen von Unschlüssigkeit in ihrem Verhalten, auf die belangloseste Abweichung zwischen ihrer mündlichen Aussage und dem Protokoll. Schon die kleinste Unsicherheit während der Verhandlung konnte dazu führen, dass man einen Prozess verlor. Die Schuldfrage spielte dabei keine Rolle. Das gehörte zum Rechtssystem von gestern.
Doch dieser Angeklagte war eindeutig schuldig. Daran bestand nicht der geringste Zweifel.
In der Devonshire-Siedlung in Edendale kursierte der alte Witz, dass man drei Möglichkeiten hatte, wenn ein Familienangehöriger starb: Man konnte ihn begraben, man konnte ihn einäschern, oder man konnte ihn einfach dort liegen lassen, wo man ihn mit dem Schürhaken niedergeschlagen hatte. Micky Ellis hatte sich für die dritte Möglichkeit entschieden.
Als Fry am Tatort eingetroffen war, hatte die Leiche von Mickys Freundin noch genau dort auf dem Boden gelegen, wo sie gestürzt war – halb auf dem Teppich und halb unter dem Bett, im ersten Stock ihrer gemeinsamen Sozialamt-Doppelhaushälfte. Sie erinnerte sich noch, dass sich an den Wänden des Schlafzimmers blasszitronengelb gestreifte Tapeten befunden hatten und dass auf der Frisierkommode ein tragbares Fernsehgerät gestanden hatte. Auf der linken Seite des Bettes, wo ein Walkman und ein halb gelesener Bridget-Jones-Roman auf dem Nachttisch gelegen hatten, waren ihr eine Reihe von Zigaretten-Brandlöchern auf dem Bettdeckenbezug in der Nähe des Kopfkissens aufgefallen. Fry hatte daraufhin an der Zimmerdecke nach einem Rauchmelder Ausschau gehalten, jedoch keinen entdeckt. Und sie erinnerte sich, dass sie sich gedacht hatte, Denise Clay habe vielleicht sogar Glück gehabt, überhaupt so lange am Leben geblieben zu sein.
In diesem Fall hatten uniformierte Polizisten die Verhaftung vorgenommen. Als sie am Tatort eingetroffen waren, hatten sie Micky Ellis in der Küche vorgefunden, wo er sich Blut von den Händen gewaschen und sich Sorgen gemacht hatte, wer den Hund füttern würde. Die Bearbeitung des Falls war ein Spaziergang gewesen, und alles hatte sich wie von selbst gelöst. Natürlich hatte jemand die Aufgabe übernehmen müssen, die Vernehmungen durchzuführen sowie die Aussagen zu Protokoll zu nehmen, die forensischen Beweise zu sammeln und die Anklage vorzubereiten. Und das war Sache der Kriminalpolizei. Der Detective Inspector würde den Fall zu seinem Lebenslauf hinzufügen und eine weitere erfolgreiche Morduntersuchung für sich verbuchen können. Die ganze Angelegenheit war völlig vorhersagbar, doch zumindest nahm sie keine Kapazitäten in Anspruch, die die Division nicht entbehren konnte. Niemand mochte Fälle, die sich monatelang, manchmal sogar jahrelang hinzogen – jene Fälle, die Gavin Murfin als »Rätselfälle« bezeichnete.
Fry hörte ein Geräusch und blickte von der Akte auf. Doch es war nur einer der Studenten, der das Haus verließ. Das erkannte sie daran, dass die Musik lauter wurde, als sich die Wohnungstür öffnete, und dann wieder das normale dumpfe Dröhnen zu hören war.
Die Mikrowelle klingelte, und Fry wurde bewusst, dass sie vergessen hatte, einen Teller für die Quiche herzurichten. Doch zunächst stellte sie den Orangensaft zurück und öffnete stattdessen ein Bier. Sie hatte im Kühlschrank ein ganzes Fach voller Grolsch-Flaschen mit Bügelverschluss. Vielleicht würde sie sich heute Abend allein ein bisschen betrinken. Das würde zwar ihr Fitnessprogramm ruinieren, aber sie brauchte irgendetwas, das ihr beim Einschlafen half. Sobald es Morgen war, würde sie sich auf das Gespräch mit dem Bestattungsunternehmer freuen können, ehe sie in einem kleinen, schmuddeligen Mordprozess vor Gericht zu erscheinen hatte, der sich womöglich tagelang hinziehen würde. Und dann, falls die Kollegen in Ripley es bis dahin endlich auf die Reihe gebracht hatten, würde sie das zweifelhafte Vergnügen haben, der Stimme eines kranken, geistesgestörten Individuums mit Gewaltfantasien und intellektuellen Ambitionen zu lauschen.
Fry stieß ihre Gabel in die Quiche. Sie war außen heiß, aber innen noch eiskalt. An manchen Tagen lief einfach alles schief.