Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 6
Оглавление1
Bald wird sich ein Mord ereignen. Vielleicht geschieht er schon in den nächsten Stunden. Wir könnten unsere Uhren abgleichen und die Minuten zählen. Was für eine Gelegenheit, um Zeuge zu werden, wie ein Leben verstreicht, um es in jenem letzten, vollkommenen Augenblick zu begleiten, wenn das Dasein erlischt und die Seele sich vom Körper trennt.
Das Ende ist immer so nah, nicht wahr? Das Schicksal lauert unter unseren Füßen wie eine Ratte in der Kanalisation. Es hängt in der Zimmerecke wie eine Spinne in ihrem Netz, die auf ihren großen Moment wartet. Und der Augenblick unseres Todes existiert bereits in uns, tief in uns. Er ist ein dunkles Gespenst an der Schwelle zu unseren Träumen, ein Gewicht, das an unseren Füßen zerrt, ein Flüstern im Ohr in der dunkelsten Stunde der Nacht. Wir können ihn weder sehen noch greifen. Aber dennoch wissen wir, dass er da ist.
Aber vielleicht … vielleicht werde ich auch einfach warten und die Vorfreude genießen. Schließlich heißt es doch, das wäre das halbe Vergnügen, oder etwa nicht? Das Warten und das Planen, die ungetrübte, gespannte Erwartung. Wir können unsere Fantasie vorauseilen lassen wie einen Hund, der mit zuckender Schnauze und vor Erregung geifernd einer Fährte folgt. In Gedanken können wir uns das Blut ausmalen und uns daran ergötzen. Wir können die Augen schließen und den Duft einatmen.
Ich kann ihn schon jetzt riechen, ihr nicht? Er ist so stark, so süß. So unwiderstehlich. Es ist der Duft des Todes.
Auf dem Flur näherten sich Schritte. Jemand mit schweren Stiefeln ging langsam über den Linoleumfußboden. Dieser Mensch hatte keine Eile, war in Gedanken anderswo, dachte an sein Mittagessen oder an das Ende seiner Schicht, machte sich Sorgen wegen der stechenden Schmerzen in seinem Rücken und weil sein Hosenbund zu eng geworden war. Ein ganz gewöhnlicher Mensch, der nur selten ans Sterben dachte.
Die Schritte machten in der Nähe der Tür halt, und es war das Rascheln von Papier zu hören, gefolgt von einem Augenblick der Stille. Der Duft von Kaffee schwebte durch die Luft, warm und metallisch wie der Geruch von Blut, der aus der Ferne hertrieb.
Während Detective Sergeant Fry der Stille lauschte, rieb sie mit einem Taschentuch an den schwarzen Flecken an ihren Fingern. Mit dem Faxgerät war es immer dasselbe. Jedes Mal, wenn sie sich dem verdammten Ding näherte, bekam sie Druckerschwärze auf die Haut. Entweder leckte die Kartusche, oder auf dem Gehäuse befanden sich Fingerabdrücke. Heute Abend kam es ihr allerdings vor, als versuchte sie, sich einen viel dunkleren Fleck als Faxtoner von den Händen zu wischen.
»Er ist ernsthaft geistesgestört«, sagte sie. »Das ist alles. Ein Irrer. Ein Fall für die Psychiatrie.«
Sie erwartete jedoch keine Antwort. Es war nur eine Taktik von ihr, um das Lesen des Rests der Abschrift hinauszuzögern. Fry rieb abermals an ihren Fingern, wodurch die Flecken aber nur verschmierten und noch tiefer in ihre Poren eindrangen. Sie würde sie später mit Seife und einer Handbürste bearbeiten müssen.
»Verdammte Maschinen. Wer hat die eigentlich erfunden?«
Auf der anderen Seite des Schreibtischs wartete Detective Inspector Paul Hitchens geduldig, während er sich mit seinem Stuhl hin und her drehte und zufrieden über das schrille Quietschen lächelte, das bei jeder Drehbewegung aus dem Metallgestell drang.
Fry seufzte. In der Einsatzzentrale warteten die Unterlagen zu mehreren Fällen auf sie, die dafür sorgten, dass ihr die Arbeit ohnehin bereits bis zum Hals stand. Am nächsten Vormittag hatte sie einen Gerichtstermin, um in einem Mordprozess als Zeugin auszusagen, und im Lauf des Tages stand noch eine Besprechung mit der Strafverfolgungsbehörde auf dem Programm. Sie hatte keine Zeit, um noch irgendetwas anderes anzunehmen, was ihr Detective Inspector eigentlich hätte wissen müssen.
Außerdem hatte sie letzte Nacht schon wieder schlecht geschlafen, und nach einem langen Arbeitstag schmerzte ihr Kopf, als drückten Stahlfedern gegen ihre Stirn und bohrten sich tief in die Nerven hinter ihren Augen. Ein aufkeimendes Übelkeitsgefühl sagte ihr, dass sie nach Hause gehen und sich eine Weile hinlegen sollte, bis sie sich wieder besser fühlte.
Und dieses Mal wird es sich um einen echten Mord handeln – nicht um eine trunkene Schlägerei im Hinterhof eines Pubs. Es wird keinen unkontrollierten Ausbruch sinnloser Gewalt geben, kein erbärmliches Aufflackern unreifer Leidenschaft. Niemand wird unüberlegt ein Messer zücken oder jemandem mit dem Stiefel gegen die Schläfe treten. Es wird kein Urin im Blut sein, kein Kot auf den Steinen, es wird kein Schreien und kein Zappeln geben, wenn ein Hals durch meine Finger gleitet wie eine glitschige Schlange …
Nein, es wird nichts derart Ekelerregendes geschehen. Nicht dieses Mal. All das sind Anzeichen für ein verwirrtes Gehirn, das einem irrationalen Impuls nachgibt. Das ist nicht meine Art zu töten.
Mein Mord wurde sorgfältig geplant. Dieser Tod wird ein Musterbeispiel für Perfektion. Er wird in allen Details vollkommen sein, makellos in der Konzeption, fehlerfrei in der Ausführung. Eine Leistung, auf die ich für den Rest meines Lebens werde stolz sein können.
ANMERKUNG ZUR ABSCHRIFT: KURZE PAUSE, GELÄCHTER.
Ein kalter Wurm wand sich in Frys Magen. Sie blickte von den gefaxten Seiten auf und unterdrückte ein Übelkeitsgefühl, das beim Lesen des letzten Satzes in ihr aufgestiegen war.
»Ich muss mir die originale Tonbandaufnahme anhören«, sagte sie.
»Selbstverständlich. Sie ist aus Ripley unterwegs zu uns. Wir bekommen sie gleich morgen früh.«
»Wie wird sie denn versendet? Mit einer Brieftaube?«
Hitchens drehte sich zu ihr um und sah sie an. Er strich sich mit den Handflächen über die Ärmel seines Jacketts – eine Angewohnheit, die er in den letzten Wochen entwickelt hatte, als sorgte er sich unentwegt um sein Äußeres. Heute Abend wirkte er besonders angespannt. Vielleicht schlief er auch nicht gut.
»Diane, ich habe mir dieses Tonband angehört«, sagte er. »Dieser Kerl klingt überzeugend. Ich glaube, er meint es ernst.«
Als sich die Schritte vor der Tür entfernten, folgte Fry ihrem Klang und ließ ihre Gedanken durch die Flure des Hauptquartiers der E-Division wandern: die Treppe hinunter, vorbei an der Spurensicherungsabteilung und der abgesperrten, verdunkelten Einsatzzentrale und dann durch einen Korridor voller gedämpfter, widerhallender Stimmen. Nachdem die Geräusche verklungen waren, irrten auch ihre Gedanken ziel- und orientierungslos umher. Wie so oft in ihren Träumen hatten sie sich in einem Labyrinth verirrt, aus dem es kein Entrinnen gab.
»Nein, er lacht«, sagte sie. »Er macht sich über uns lustig.«
Hitchens zuckte mit den Schultern. »Dann glauben Sie mir eben nicht. Warten Sie einfach, bis Sie das Tonband gehört haben, und bilden Sie sich selbst ein Urteil.«
Fry betrachtete den Detective Inspector interessiert. Sie wusste, dass er trotz seiner mangelhaften Führungsqualitäten über gute Instinkte verfügte. Wenn Hitchens sich die Tonbandaufnahme angehört hatte und der Meinung war, sie sei ernst zu nehmen, war sie gewillt, ihm zu glauben. Die auf Papier gedruckten Worte des Anrufers allein reichten nicht aus. Ihre wirkliche Bedeutung würde dem Klang seiner Stimme zu entnehmen sein, der Art und Weise, wie er sprach, der hörbaren Überlagerung von Wahrheit und Lüge.
»Anscheinend will er andeuten, dass er schon einmal getötet hat«, stellte sie fest.
»Ja, es gibt ein paar vielsagende Formulierungen. ›Nicht dieses Mal‹, zum Beispiel.«
»Allerdings missbilligt er im selben Atemzug etwas. Würden Sie sagen, er missbilligt sich selbst?«
Hitchens nickte und fing erneut an, sich über die Ärmel zu streichen. Er hatte kräftige Hände mit sauberen, kurz geschnittenen Fingernägeln. Über die mittleren Knöchel von drei Fingern zog sich eine weiße Narbe.
»Vielleicht wird er sich als interessantes psychologisches Untersuchungsobjekt erweisen«, merkte er an.
Der Tonfall des Detective Inspectors klang zu beiläufig. Und plötzlich glaubte Fry zu wissen, weshalb er so angespannt wirkte.
»Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass wir bereits einen Psychologen auf den Fall angesetzt haben?«
»Es war nicht meine Entscheidung, Diane. Vergessen Sie nicht, dass uns die Sache aus Ripley übertragen wurde.«
Sie schüttelte verärgert den Kopf. Irgendein hochrangiger Polizist im Hauptquartier der Derbyshire Polizei musste von dem Telefonanruf Wind bekommen und beschlossen haben, sich einzumischen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie malte sich aus, wie einer dieser »Association of Police Officers«-Typen mit seinen silberfarbenen Tressen in Ripley durch den Konferenzraum schlenderte und einer Gesandtschaft des Polizeikomitees seine praxisnahe Arbeitsweise demonstrierte, weil er hoffte, dass man sich an ihn erinnern würde, wenn die nächste Beförderungsrunde anstand.
»Okay, und wer ist der Psychologe?«, erkundigte sich Fry. »Oder genauer gesagt, mit wem ist er zur Schule gegangen?«
»Tja, in diesem Punkt täuschen Sie sich«, erwiderte Hitchens. Er zog eine geprägte Visitenkarte aus der Klammer heraus, von der die Akte zusammengehalten wurde. Als Fry die Karte in die Hand nahm, stellte sie fest, dass die Akte bislang noch ziemlich dünn war. Doch das würde sich schnell ändern, wenn erst einmal die Expertenberichte auf ihren Schreibtisch prasselten.
»Dr. Rosa Kane«, sagte sie. »Wissen Sie irgendwas über sie?«
Die Liste der offiziell zugelassenen Experten und Berater war kürzlich aktualisiert worden. Irgendjemand war neue Wege gegangen und hatte der Liste seinen eigenen Stempel aufgedrückt, indem er Leute mit unorthodoxen Ideen hinzugefügt hatte.
»Nicht das Geringste«, sagte Hitchens, »aber wir haben morgen einen Termin mit ihr, um sie kennenzulernen.«
Fry nahm das »wir« zur Kenntnis. Sie machte eine große Show daraus, sich Dr. Kanes Daten aufzuschreiben, ehe sie Hitchens die Visitenkarte wieder zurückgab. Falls sich herausstellen sollte, dass die Psychologin beleibt und vierzig war oder sich als verschrumpelte, alte Akademikerin mit grauem, zum Knoten gebundenem Haar entpuppte, würde vermutlich sie ihr Ansprechpartner werden und nicht Hitchens.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Blick auf Edendale aus dem ersten Stock war nicht gerade inspirierend. Sie sah zahllose Dächer, die auf den Hängen zu ihrer Rechten nach unten glitten und beinahe die Hügel in der Ferne verdeckten, wo die Spätnachmittagssonne über Baumreihen hing.
Wer auch immer das Hauptquartier der E-Division in den 1950er-Jahren entworfen hatte, hatte sich nicht allzu viele Gedanken über Ästhetik gemacht. Und über Zweckmäßigkeit ebenso wenig. Die Bevölkerung wurde von einem Besuch in der West Street durch den Mangel an Parkplätzen und die Aussicht auf einen mühseligen Aufstieg auf den Hügel abgeschreckt. Aufgrund der Lage des Gebäudes vermisste Fry das Gefühl, dass vor der Tür normales Leben stattfand. Als sie noch in den West Midlands tätig gewesen war, hatte sie dieses Gefühl immer gehabt – allerdings nur so lange, bis man angefangen hatte, Polizeireviere in der Art von Festungen zu bauen.
»Sie haben die Abschrift noch nicht zu Ende gelesen«, erinnerte Hitchens sie.
»Ich glaube, ich werde auf das Tonband warten, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Es kommt nicht mehr viel, Diane. Sie können sie genauso gut zu Ende lesen.«
Fry biss sich auf die Lippe, bis der Schmerz ihre Gedanken ordnete. Selbstverständlich gab es auch in Derbyshire die dunkelsten Seiten der menschlichen Erfahrung, doch hier verbargen sie sich unter Schindeldächern und lauerten zwischen Hügeln. Schließlich handelte es sich um eine malerische ländliche Gegend.
Sie hatte die Abschrift noch immer in der Hand und hielt sie ins Licht, das durch das Fenster fiel, als sie auf die letzte Seite umblätterte. Der Detective Inspector hatte recht gehabt – es folgten nur noch drei Absätze. Allerdings gab der Anrufer auch darin nichts von sich preis. Fry verstand jedoch, weshalb jemand auf die Idee gekommen war, eine Psychologin einzuschalten.
Detective Constable Ben Cooper beobachtete, wie sich das Gesicht der Toten langsam nach links drehte. Jetzt schienen ihre leeren Augen an seiner Schulter vorbei ins grelle Neonlicht der Laborbeleuchtung zu starren. Ihre Haut war schmutzig braun und ihr Haar nicht mehr als ein zufälliges Muster auf ihrem Schädel, das Wirbeln im Sand glich, die die Ebbe zurückgelassen hatte.
Cooper war völlig unsinnigerweise enttäuscht, dass sie nicht so aussah, wie er sie sich vorgestellt hatte. Schließlich hatte er sie nicht gekannt, als sie noch am Leben war. Auch jetzt war ihm die Frau noch unbekannt, und er wusste nicht einmal, wie sie hieß. Sie war tot und bereits in die Erde zurückgekehrt.
Doch er hatte sich in seiner Fantasie ein Bild von ihr gemacht, ein Bild anhand von spärlichsten Anhaltspunkten: ihrer Größe, ihrer ethnischen Abstammung, ihres mutmaßlichen Alters. Er wusste, dass sie einen verheilten Unterarmbruch hatte. Sie hatte mindestens ein Mal entbunden und besaß für eine Frau ungewöhnlich breite Schultern. Abgesehen davon war sie bereits seit ungefähr achtzehn Monaten tot.
In den zwölf Jahren, seit Cooper bei der Polizei von Derbyshire angefangen hatte, waren im Peak District etliche unidentifizierte Leichen gefunden worden. In den meisten Fällen hatte es sich um junge Menschen gehandelt, und der Großteil von ihnen hatte Selbstmord begangen. Im Zuständigkeitsbereich der E-Division wurden sie in der Regel bereits kurz nach ihrem Tod gefunden, es sei denn, sie wurden aus einem der Staubecken gezogen. Doch auf diese Frau traf nichts von beidem zu.
Im Profil wirkte das Gesicht besonders unheimlich. Die Beleuchtung warf Schatten unter den Wangenknochen und in den Augenhöhlen und betonte die Falten an den Augenwinkeln. Cooper konnte erkennen, dass es sich um ein Gesicht mit Charakter handelte, vom Leben gezeichnet und von der Erfahrung geformt. Eine Frau Anfang vierzig. Irgendjemandes Tochter und irgendjemandes Mutter.
Doch die menschlichen Überreste, die von Spaziergängern in den Wäldern des Ravensdale-Tals gefunden worden waren, hatten lange Zeit dort gelegen und waren der Witterung und Aasfressern ausgesetzt gewesen. Der Leichnam war bis zur Unkenntlichkeit verwest. Er hatte bereits begonnen, unter einem Bewuchs aus Moos und Flechten zu verschwinden, und dicke Grashalme, die durch die Augenhöhlen im Schädel gewachsen waren, hatten seine Silhouette unkenntlich gemacht.
Der Kopf drehte sich weiter. Er machte eine volle 360-Grad-Drehung, zeigte seinen Nacken und dann das andere Profil, bis er schließlich wieder mit dem Gesicht nach vorn zum Halten kam.
»Was ist mit den Augen?«, erkundigte sich Cooper. »Haben ihre Augen so ausgesehen?«
»Wir können verschiedene Farben ausprobieren. Blau und braun vielleicht.«
Suzi Lee hatte kurz geschnittenes dunkles Haar und schmale Hände mit langen Fingern. Sie war forensische Rekonstrukteurin und im Institut für Pathologie der Sheffield University beschäftigt. Cooper beobachtete, wie sie mit den Fingern seitlich über den rekonstruierten Kopf strich, als tastete sie nach der Form des Schädels, der sich unter der Lehmschicht befand.
»Blau und braun? Wir wissen nicht, welche Farbe?«
»Die Augen gehören zu den ersten Körperteilen, die verwesen. Wir können unmöglich beurteilen, welche Farbe sie zu Lebzeiten hatten.«
»Das war eine dumme Frage«, entgegnete Cooper.
»Machen Sie sich deshalb keine Gedanken.«
»Okay, dann habe ich noch eine: Wie genau stimmt diese Rekonstruktion?«
»Tja, das Aussehen von Nase und Mund kann man ebenso wenig mit Sicherheit bestimmen wie das der Augen, also handelt es sich auch da zum größten Teil um Vermutung. Wenn ich eine bestimmte Perücke anstelle ihrer Haare auswähle, ist dies ebenfalls ein Schuss ins Blaue. Aber die Kopfform stimmt ziemlich genau. Sie ist die Grundlage für die äußere Erscheinung eines Menschen. Es ist alles eine Frage der Knochenstruktur und der Gewebedicke. Sehen Sie sich die hier mal an.«
Sie zeigte ihm mehrere Fotos von dem Schädel, auf denen dieser zunächst mit Markierungen der Gewebedicke an den entscheidenden Stellen zu sehen war, dann mit einem Plastilingerüst um die Markierungen. Die Nummern an den Markierungen schimmerten wie ein seltsamer weißer Ausschlag durch das Plastilin.
»Hoffen wir mal, dass die Rekonstruktion gut genug ist, um irgendjemandes Erinnerung auf die Sprünge zu helfen«, sagte Cooper.
»Dann ist das also die letzte Hoffnung?«, sagte Lee. »Das ist eine Gesichtsrekonstruktion nämlich meistens.«
»Die Kleidungsstücke, die bei der Leiche gefunden wurden, lassen sich nicht identifizieren. Es gibt weder Schmuck noch irgendwelche anderen Habseligkeiten. Und natürlich auch keine Merkmale an der Leiche, die der Identifizierung dienen könnten.«
»Waren die Überreste vollständig skelettiert?«
»So gut wie«, erwiderte Cooper. Doch das stimmte nicht ganz. Er erinnerte sich noch an die Fleischreste an den Fingern und an die Sehnen, die in dünnen, lederartigen Streifen an den Knochen hingen. Einige Körperteile der Frau hatten sich noch lange nach ihrem Tod beharrlich aneinandergeklammert.
»Übrigens, ich habe sie Jane Raven getauft«, sagte Lee. »Jane wie in Jane Doe, der Durchschnittsbürgerin, Raven nach dem Ort, an dem sie gefunden wurde. Das stimmt doch, oder?«
»Ja, im Ravensdale-Tal in der Nähe von Litton Foot.«
»Abgesehen von den grundlegenden Fakten und ein paar Maßen, ist das alles, was ich von ihr weiß. Ich mag es nämlich nicht, wenn eine Person völlig anonym bleibt. Es ist einfacher, ein Gesicht zu interpretieren, wenn ich der Person einen Namen gebe.«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
»Also habe ich sie Jane Raven Lee getauft. Dann kann ich mir vorstellen, sie wäre meine Schwester. Das hilft mir, die Details zu entwerfen, wissen Sie.« Lee lächelte, als er die Augenbrauen hochzog. »Meine englische Halbschwester natürlich.«
Cooper blickte auf die Akte, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. Sie enthielt eine Kopie des Berichts des forensischen Anthropologen, in dem der Toten eine Referenznummer zugeteilt worden war. Das war ihre biologische Identität – alles, was offiziell über die Person bekannt war, die sie einst gewesen war. Eine Frau kaukasischer Abstammung, vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, einen Meter siebzig groß. Der Zustand ihrer Zähne ließ erkennen, dass sie regelmäßig zum Zahnarzt gegangen war. Irgendwo mussten nützliche Aufzeichnungen darüber existieren, welche Zahnbehandlungen sie gehabt hatte – wenn er nur gewusst hätte, an welche Praxis er sich wenden sollte.
Doch vielleicht war es der Hinweis auf die Breite ihrer Schultern, der ihm zu seinem mentalen Bild von der Toten verholfen hatte. Er stellte sich Schultern vor, wie man sie für gewöhnlich mit Schwimmerinnen assoziierte. Mit fünfundvierzig Jahren, nach mindestens einer Schwangerschaft, waren ihre Muskeln vermutlich ein wenig schlaff geworden, ganz egal, wie sehr sie auf ihr Äußeres geachtet hatte. Vielleicht war sie üppig gebaut gewesen, als sie noch am Leben war. Ein properes Mädchen, hätte seine Mutter gesagt.
»Die Gesichtsrekonstruktion ist noch immer ebenso sehr eine Kunst wie eine Wissenschaft«, sagte Lee. »Die Form des Gesichts hat nur eine begrenzte Ähnlichkeit mit der darunterliegenden Knochenstruktur. Eine exakte Übereinstimmung erreicht man nie.«
Cooper nickte. Eine Rekonstruktion konnte zwar nicht als Beweis zur Identifizierung herangezogen werden, funktionierte jedoch als Stimulus für das Gedächtnis. Die Genauigkeit der Nachbildung war unter Umständen weniger wichtig als die Tatsache, dass sie die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen und das Interesse der Bevölkerung zu wecken vermochte. Die Identität musste durch Zahnbehandlungsdaten oder durch DNA bestätigt werden.
»Die Erfolgsquote beträgt fünfzig Prozent«, sagte Lee. »Vielleicht haben Sie ja Glück.«
Cooper ließ sich mehrere Fotos von ihr geben und fügte sie der Akte hinzu, die sich sofort dicker und gehaltvoller anfühlte. Referenznummer DE05092005, auch bekannt als Jane Raven Lee, einen Meter siebzig groß, mit Schultern wie eine Schwimmerin. Ein properes Mädchen.
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen«, sagte er.
Lee lächelte ihn noch einmal an. »Viel Glück.«
Doch als Cooper das Labor verließ und in den Nieselregen von Sheffield hinausging, fragte er sich, ob er sich nicht zu viel Fleisch an der unidentifizierten Frau vorstellte. Vielleicht war das eine emotionale Reaktion, um das zu kompensieren, was er tatsächlich von ihr gesehen hatte: jene letzten Hautfetzen auf den verblichenen Knochen.
Zumindest stand jetzt ihre biologische Identität fest. Der Anthropologe und die forensische Rekonstrukteurin hatten die Verantwortung an ihn zurückgegeben. Er musste herausfinden, wer Jane Raven tatsächlich gewesen war.
Fünfundzwanzig Meilen entfernt, im Zentrum von Edendale, war Sandra Birley stehen geblieben, um zu lauschen. Hatte sie gerade Schritte gehört? Und wenn ja, wie nahe waren sie?
Sie drehte langsam den Kopf. Hallende Räume, ölbefleckter Beton. Eine Reihe von Pfeilern und Maschendraht in den Lücken dazwischen, durch die sie sich in die Tiefe hätte stürzen können. Ein Lichtschimmer in einem der Fenster des Bürogebäudes auf der anderen Straßenseite. Aber keine Bewegung, zumindest nicht auf dieser Ebene.
Sandra drückte ihre Handtasche fester gegen die Hüfte und erklomm die Stufen zur nächsten Ebene. Sie fand nichts unheimlicher als Parkhäuser bei Nacht. Tagsüber, wenn sie von Leuten mit Einkaufstüten und Kinderwagen bevölkert waren, die ihre Taschen nach Kleingeld durchwühlten, während sie sich durch den Motorenlärm und die heißen Abgase den Weg zu ihrem Stellplatz bahnten, waren sie einigermaßen erträglich. Doch nachdem alle nach Hause gefahren waren, verwandelte sich ein Parkhaus wie dieses in einen verlassenen, seelenlosen Ort. Wenn es menschenleer war, wirkte selbst seine architektonische Struktur bedrohlich.
Sandra drückte die Tür zur achten Ebene auf und hielt sie einen Moment lang offen, ehe sie, alle Sinne in Alarmbereitschaft, hindurchtrat. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie nicht besser Schuhe mit flacheren Absätzen hätte anziehen sollen, um schneller laufen zu können. Sie fischte ihr Mobiltelefon aus der Handtasche und hielt es in der Hand. Seine vertraute Form und das schwache Schimmern des Displays beruhigten sie ein wenig.
Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, an diesem Abend so lange zu arbeiten. Doch eine in letzter Minute anberaumte Besprechung hatte sich endlos hingezogen, dank der Wichtigtuerei einiger ihrer Kollegen – mittlere Führungskräfte, die nicht als Erste nach Hause gehen wollten. Sie war stundenlang gefangen gewesen. Und als die Besprechung endlich zu Ende gewesen war, hatte der Niederlassungsleiter sie zur Seite genommen und gefragt, ob sie ein paar Minuten Zeit habe, um mit ihm ihren Bericht durchzugehen. Hätte er sich nicht wenigstens die Mühe machen können, ihn vor der Besprechung zu lesen? Aber warum auch, da er ja wusste, dass er ihr Überstunden abverlangen konnte, ohne dass sie irgendetwas dagegen hätte sagen können?
Ihr blauer Skoda war ganz hinten auf der achten Ebene geparkt. Er stand ganz allein da, und die Farbe seiner Lackierung war im Neonlicht kaum auszumachen. Als Sandra über den Betonfußboden ging und dem Klang ihrer eigenen Absätze lauschte, fröstelte sie in dem schwarzen Blazer, den sie im Büro trug. Sie hasste all die Rampen und Pfeiler. Sie waren für Maschinen entworfen worden, nicht für Menschen. Der Maßstab des Gebäudes war völlig verkehrt: die Wände waren zu dick, die Decken zu niedrig und die Auffahrten zu steil, um sie zu Fuß zu erklimmen. Sie kam sich vor ein Kind, das sich in einer fremden Stadt verlaufen hatte. Die Betonmassen drohten sie zu zerquetschen und sie mit einem von Auspuffgasen gesättigten Rülpser in ihre Tiefen zu verschlucken.
Und da waren sie wieder, die Schritte.
Sandra kannte das Parkhaus gut und erinnerte sich sogar daran, als es in den 80er-Jahren gebaut worden war. Irgendein Konstruktionsmerkmal sorgte dafür, dass auch das leiseste Geräusch über sämtliche Ebenen nach oben wanderte. Deshalb klangen Schritte, die aus einer mehrere Etagen tiefer liegenden Ebene zu hören waren, so, als folgten sie ihr auf dem Weg zu ihrem Wagen.
Obwohl Sandra diesen Effekt schon viele Male erlebt hatte, ließ sie sich noch immer davon täuschen. Als er an diesem Abend abermals auftrat, konnte sie nicht umhin, sich umzudrehen, um nachzusehen, wer ihr folgte. Aber natürlich war niemand hinter ihr.
Jedes Mal, wenn sie das Geräusch der Schritte hörte, blickte sie sich um.
Und jedes Mal, wenn sie sich umblickte, war niemand da.
Jedes Mal, bis auf das letzte Mal.
War es nicht Sigmund Freud, der gesagt hat, dass jedes menschliche Wesen über einen Todestrieb verfügt? In jedem Menschen liefert sich der böse Thanatos eine endlose Schlacht mit Eros, dem Lebenstrieb. Und Freud zufolge dominiert immer das Böse. Im Leben muss es Tod geben. Zu töten ist ein natürliches Bedürfnis von uns. Die Frage lautet nicht, ob wir töten, sondern, wie wir es tun. Unser Verstand sollte diesen Urinstinkt verfeinern, ihm einen Sinn und Zweck verleihen.
Ohne einen Zweck ist der Akt des Tötens bedeutungslos. Er wird zur Zeitverschwendung, zum sinnlosen Mord, halbherzig und unvollkommen. Nur allzu oft scheitern wir beim letzten Schritt. Wir wenden uns ab und schließen die Augen, wenn sich die Pforten zu einer ganz neuen Welt öffnen: zu den duftenden fleischlichen Gärten der Verwesung. Wir weigern uns, die fließenden Säfte zu bewundern, die blühenden Bakterien, die dunklen, aufgedunsenen Blüten der Verwesung. Das ist die wahre Natur des Todes. Wir sollten die Augen öffnen und lernen.
Doch in diesem Fall wird alles perfekt sein. Denn dies wird ein echter Mord werden.
Und er könnte heute Abend geschehen oder vielleicht nächste Woche.
Aber er wird bald geschehen. Das verspreche ich.