Читать книгу Todesstätte - Stephen Booth - Страница 11
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Dr. Rosa Kane war ganz anders, als Fry sie sich vorgestellt hatte. Neue Experten mit unkonventionellen Ideen waren schön und gut, aber sie hätten nicht jung und attraktiv sein, mit irischem Dialekt sprechen und genau die rötliche Haarfarbe haben sollen, für die Detective Inspector Hitchens eine Schwäche hatte. Diese Attribute lenkten Fry von Anfang an ab und hinderten sie daran, Dr. Kanes Ausführungen mit voller Aufmerksamkeit zu lauschen.
»Selbstverständlich können wir aus der Art und Weise, wie er spricht, einige vorsichtige Schlüsse ziehen«, sagte Dr. Kane, nachdem sie sich ihr vorgestellt und den Inhalt der Anrufe zusammengefasst hatten.
»Können wir das?«, entgegnete Fry.
Dann wurde ihr bewusst, ihr überraschter Tonfall könnte verraten, dass sie der Psychologin erst jetzt wirklich zugehört hatte.
»Wenn Sie eine detaillierte Analyse möchten, müssen Sie die Dienste eines forensischen Linguisten in Anspruch nehmen. Ein paar Dinge sind jedoch ziemlich offensichtlich. Das heißt, wenn Sie meine Meinung hören möchten …«
»Bitte fahren Sie fort, Dr. Kane«, sagte Hitchens, der lächelte, als er die Chance erkannte, sich die Kosten für einen weiteren Experten zu sparen.
»Tja, zunächst einmal hat er die Tendenz, zwischen der ersten Person Singular und der ersten Person Plural hin und her zu wechseln und dann auf die dritte Person umzuschwenken. Das ist äußerst interessant. Wenn er ›ich‹, ›mir‹ oder ›mein‹ verwendet, sagt er fast sicher die Wahrheit. Wenn er dagegen zum Plural oder zur dritten Person wechselt oder eine Passivform verwendet, verbirgt er etwas. Das ist ein Zeichen für unbewusstes Ausweichen.«
Fasziniert beugte sich Fry über die Abschrift und markierte einige Sätze mit gelbem Leuchtstift. Vielleicht werde ich einfach warten und die Vorfreude genießen … Ich kann ihn schon jetzt riechen, ihr nicht? … Das verspreche ich … Meine Art zu morden … Und an einer Stelle wechselte es mitten im Satz: Wenn mir ein Hals durch die Finger gleitet …
Es gab noch einige weitere Sätze mit »ich« und »mein«, doch der gesamte letzte Teil war in der ersten Person Plural abgefasst, als wollte er seine Zuhörer in eine Verschwörung miteinbeziehen. Die Frage lautet nicht, ob wir töten, sondern, wie wir es tun. Dieser Abschnitt enthielt auch seine Ausführungen über Freud und Thanatos. Hier war nirgendwo ein »ich« zu finden.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Fry zögerlich.
Sie schob die markierte Abschrift dem Detective Inspector hinüber, der daraufhin lächelte. Ein billiges Ergebnis.
»Die zweite Botschaft enthält einige Sätze, die überhaupt nicht hineinpassen«, sagte Dr. Kane.
Fry war überrascht. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass die Ausführungen eines derart geistesgestörten Menschen einige Formulierungen enthalten könnten, die nicht zusammenpassten. Schließlich passte nichts darin zusammen, oder?
»Ja, natürlich«, sagte Hitchens. Er holte seine Lesebrille aus der Tasche und betrachtete die Abschrift mit einem intelligenten Lächeln. »An welche Sätze dachten Sie dabei im Besonderen, Dr. Kane?«
»›Ein Friedhof, der sich über sechs Meilen erstreckt‹, zum Beispiel. Was hat das damit zu tun? Das ist zu spezifisch.«
»Noch irgendwas?«
»Ja. ›Ich stehe hier in ihrer Mitte.‹ Und ›die Wegweiser am Galgen und am Felsen.‹ Das Auffälligste an diesen Sätzen ist die Tatsache, dass sie alle drei in der zweiten Botschaft vorkommen, die ganz offensichtlich schriftlich aufgesetzt war. Meiner Meinung nach wollte er sichergehen, dass diese Sätze enthalten sind. Sie waren ihm aus irgendeinem Grund wichtig.«
»›Der sich über sechs Meilen erstreckt‹«, sagte Hitchens. »Denken Sie …?«
»Das sind Hinweise«, sagte Fry plötzlich. »Er hat uns Hinweise zu einem bestimmten Ort hinterlassen. Es handelt sich also um einen Ort im Umkreis von drei Meilen von … Tja, wovon?«
»Seiner eigenen Position?«, schlug Dr. Kane vor. »Dem Ort, von dem er den Anruf getätigt hat?«
»Natürlich. ›Ich stehe hier in ihrer Mitte.‹«
Sie setzte ihre Brille ab, und Hitchens tat dasselbe.
»Das würde darauf hindeuten, dass er schon im Voraus wusste, von wo aus er den Anruf tätigen würde«, stellte der Detective Inspector fest.
»Ist das ein Problem?«
»Na ja, es ist nicht das Szenario, das wir uns vorgestellt hatten. Wir sind davon ausgegangen, dass er seinen Text vorbereitet hatte, nicht aber den Ort.«
»Es könnte ja sein, dass er einfach eine Zahl eingefügt hat, die zu dem Ort passt, von dem er schließlich angerufen hat«, sagte Dr. Kane. »Im Umkreis von drei Meilen? Vielleicht ist er in einer bestimmten Gegend herumgefahren, bis er einen geeigneten Ort gefunden hat, der sich in diesem Radius befindet.«
Hitchens wirkte besorgt. »Verdammt, vielleicht hat er die drei Meilen auch einfach nur geschätzt. Wie viele Leute können die Entfernung zwischen zwei Punkten in der Landschaft auch nur annähernd einschätzen? Ich glaube kaum, dass er ein GPS-Gerät benutzt.«
»Und das gilt nur, wenn er die Luftlinie gemeint hat und nicht die Entfernung auf dem Straßenweg, mit der die meisten wahrscheinlich eher etwas anfangen könnten.«
Fry erkannte am Gesichtsausdruck des Detective Inspectors, dass er langsam das Vertrauen in seine Expertin verlor. Dr. Kane schien mehr Hürden zu errichten als aus dem Weg zu räumen. Doch Experten ließen die Dinge gerne komplizierter aussehen, als sie tatsächlich waren, nicht wahr? Das half, ihre Aufwandsentschädigung zu rechtfertigen.
»Und was hat es mit der Todesstätte auf sich?«, fragte Fry. »Und mit dem Galgen? Dem Fleischverzehrer?«
Doch die Psychologin hatte bereits damit begonnen, ihre Unterlagen zusammenzupacken. »Ich glaube, das ist Ihre Aufgabe. Sie haben es hier mit jemandem zu tun, der versucht, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil er vielleicht unbewusst weiß, dass er Hilfe benötigt. Im Moment gibt er sein Bestes, um Sie zu unterstützen. Seine Hinweise sind selbstverständlich ein bisschen obskur und zweideutig. Das liegt daran, dass er seine überlegene Intelligenz unter Beweis stellen möchte. Doch wenn Sie genau zuhören, was er Ihnen sagt, bin ich sicher, dass er Ihnen viel mehr helfen kann, als ich es in diesem Stadium tun kann.«
Dr. Kane erhob sich, um zu gehen, hielt dann jedoch inne. Sie sah Fry an, nicht Hitchens, als sie noch einen abschließenden Ratschlag zum Besten gab.
»Es ist grundsätzlich so«, sagte sie, »dass man eine Menge lernen kann, wenn man anderen Leuten zuhört.«
Der Gebietsleiter von PNL Parking hieß Hicks. Cooper fand ihn in einem beengten Büro im Erdgeschoss mit einem Parkwächter in einer gelben fluoreszierenden Jacke.
»Wir sind verpflichtet, uns an alle möglichen Vorschriften zu halten, wissen Sie«, sagte Hicks. »Wir müssen das Überwachungssystem registrieren lassen und darauf achten, dass wir die Datenschutzbestimmungen einhalten.«
»Niemand behauptet, dass Sie gegen irgendwelche Vorschriften verstoßen haben«, sagte Ben Cooper zum dritten Mal.
Doch Hicks ging überhaupt nicht darauf ein. »Abgesehen davon wird Filmmaterial vor Gericht nicht als Beweis akzeptiert, wenn wir die Bestimmungen nicht einhalten«, sagte er. »Und wenn wir das System registrieren lassen, hat das zur Folge, dass die Leute Filmmaterial von uns haben wollen.«
»Werden solche Wünsche häufig geäußert?«
»Ab und zu. Viele davon sind allerdings zu vage. Die Leute müssen uns schon einen Anhaltspunkt geben, wann sie gefilmt wurden, wo sie sich aufgehalten haben und wie sie aussehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Die meisten überlegen es sich wieder anders, wenn man sie nach Details fragt. Sie fischen nur im Dunkeln. Und dann gibt’s noch einige, bei denen wir zugeben müssen, dass wir sie gar nicht gefilmt haben, weil die Kamera, die sie gesehen haben, eine Attrappe ist. Na ja, wir sagen nicht Attrappe. Wir sagen einfach, dass die Kamera zum fraglichen Zeitpunkt nicht funktioniert hat.«
»Und die Kamera auf der achten Ebene ist eine dieser Attrappen?«, fragte Cooper.
»Ja.«
»Hat sie noch nie funktioniert?«
»Nein, nicht, solange ich mich erinnern kann.« Hicks zögerte. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nie angeschlossen war. Es klingt zwar lächerlich, aber man hielt das damals für wirtschaftlicher. Kameras sollten der Abschreckung dienen, mehr nicht.«
»Ich würde gerne sämtliche Anfragen nach Filmmaterial aus der Kamera auf der achten Ebene sehen, die Sie bekommen haben.«
»Wie gesagt, wir geben kein Filmmaterial aus dieser Kamera heraus, weil sie nicht funktioniert.«
»Genau«, erwiderte Cooper. »Das wissen Sie, und das weiß ich. Und jeder, der jemals Filmmaterial aus dieser Kamera haben wollte, muss es ebenfalls wissen.«
Hitchens stand auf, um Dr. Kane aus dem Gebäude zu begleiten, und ließ Diane Fry allein zurück. Sie sah den beiden nach, als sie den Korridor entlanggingen, wobei die Hand des Detective Inspectors leicht den Ellbogen der Psychologin berührte, während er ihr von seiner Studentenzeit in Sheffield erzählte.
Fry wusste, dass das Hinausbegleiten von Besuchern eine Aufgabe war, die der Detective Inspector normalerweise an einen seiner Untergebenen delegiert hätte. Doch für Dr. Kane machte Hitchens eine Ausnahme. Vermutlich deshalb, weil sie eine Expertin war und mit Respekt behandelt werden musste. Vermutlich.
Um auf andere Gedanken zu kommen, senkte Fry den Blick und starrte die gelben Leuchtstiftmarkierungen auf der Abschrift vor ihr an. Sie wünschte sich, sie hätte nicht ausgerechnet Gelb benutzt. Jetzt, nachdem die Farbe getrocknet war, sah sie leicht ranzig und ungesund aus, wie ein vier Tage alter Bluterguss oder ein Urinfleck. Pink oder Orange hätte viel freundlicher gewirkt.
Doch wem wollte sie etwas vormachen? Ganz egal, welche Farbe sie verwendet hätte – an der Wirkung der durchtriebenen, bösartigen Worte hätte es nichts verändert.
Ich kann ihn schon jetzt riechen, ihr nicht? Er ist so stark, so süß. So unwiderstehlich.
Sie verließ das Büro des Detective Inspectors und ging langsam in die Einsatzzentrale zurück. Ben Cooper saß nicht an seinem Schreibtisch, aber Gavin Murfin und ein paar andere Detective Constables waren da, und sie blickten auf, als sie eintrat.
Wie üblich roch es aus Murfins Richtung nach Teig. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob es sich um Rindfleischpastete oder um Hackfleischpastete handelte. Im Moment war sie nicht in der Lage, den Geruch zu identifizieren. Sie hatte einen anderen, undefinierbareren Geruch in der Nase, etwas Ranziges, Ungesundes, Gelbes und Böses – einen Geruch, von dem sie wusste, dass er noch näher kommen und nicht vom Lüftungssystem aufgesaugt werden würde.
Ich kann ihn schon jetzt riechen, ihr nicht? … Es ist der Duft des Todes.
»Lassen Sie uns eine Landkarte holen«, sagte Hitchens, als er die Einsatzzentrale betrat. »Wir brauchen die Generalstabskarte vom White Peak, Diane.«
»Wir könnten auch das Kartensystem auf dem Computer verwenden«, schlug Fry vor.
»Das ist für einen Umkreis von drei Meilen nicht geeignet. Bei diesem Maßstab sieht man nicht genug Details.«
Er räumte einen Tisch frei, während Fry die entsprechende Karte heraussuchte und sie ausbreitete.
»Wardlow liegt hier«, sagte Hitchens. »Jetzt brauchen wir ein Lineal, um die drei Meilen in alle Richtungen zu messen. Verdammt, die Ortschaft ist zu nah am Rand der Karte – wir müssen sie umdrehen. Warum ist das, was man auf einer Generalstabskarte sucht, eigentlich immer zu nah am Rand?«
Cooper kam herein, während sie nach einem Lineal suchten, und Hitchens rief ihn herbei. »Ben, Sie sind genau derjenige, den wir brauchen. Ich bin sicher, Sie kennen diese Gegend.«
»Ja, Sir. Wonach suchen Sie denn?«
Der Detective Inspector erklärte es ihm, während Fry den Maßstab der Karte überprüfte und mit Hilfe des Lineals und eines Kugelschreibers einen Kreis um die Stelle zog, an der sich die öffentliche Telefonzelle in Wardlow befand. Praktischerweise war sie mit einem großen »T« und einem kleinen blauen Telefonhörer gekennzeichnet.
»Warum ein Drei-Meilen-Radius?«, erkundigte sich Cooper.
»Die Tonbandaufzeichnung enthält einige Hinweise. Oder wir vermuten zumindest, dass es sich um Hinweise handelt.«
Den westlichen Teil des Kreises auf der Rückseite der Karte fortzusetzen, war nicht ganz einfach, aber schließlich schaffte Fry es.
»Wir werden das noch mal ordentlich machen lassen, aber vorerst erfüllt es auch so seinen Zweck«, sagte Hitchens, ohne den verärgerten Blick zur Kenntnis zu nehmen, mit dem ihn Fry bedachte. »Was sagen Sie dazu?«
Cooper beugte sich über die Karte. »Tja, das eingekreiste Gebiet umfasst etwa ein Dutzend Ortschaften und eine kleine Stadt. Im Westen liegen mehrere Täler, darunter ein Teil des Wye Valley. Die A6 zwischen Bakewell und Buxton befindet sich hier unten, und im oberen Bereich verläuft eine kleinere Fernstraße, die die A623 kreuzt.«
»Würden Sie sagen, dass in dieser Gegend viel los ist?«
»Nur in einigen Teilen davon, Sir. Auf den beiden Hauptstraßen herrscht eine Menge Verkehr. Und es gibt ein paar beliebte Touristenorte, wie zum Beispiel Tideswell und Monsal Head. Und Eyam natürlich, im Osten.«
»Das ist das Pest-Dorf, nicht wahr?«
»Pest?«, fragte Fry.
»Oh … Ben wird Ihnen die Geschichte irgendwann erzählen.«
»Da freue ich mich schon drauf.«
Cooper ließ die Hand über die Karte wandern und umspannte mit den Fingern dicht gedrängte Höhenlinien und lange Streifen grüner Wälder. »Aber es gibt hier auch viel ruhigere Ecken. Dieser Bereich gehört zum Derbyshire Dales Nature Reserve. In manche der kleineren Täler gelangt man nur zu Fuß, und die Wälder an den Hängen der Täler sind ziemlich dicht. Die wenigen Wege, die es dort gibt, sind in der Regel einspurig und zu schmal, um einem Fahrzeug Platz zu bieten. Im Osten und im Norden findet man dagegen Kalksteinplateaus. Das ist Ackerland mit ein paar kleinen Ortschaften und vereinzelten, nicht mehr genutzten Steinbrüchen.«
Fry beobachtete, wie Cooper und Hitchens die Karte studierten. Sie sahen dabei aus wie zwei Schuljungen, die ihre Armeen von Spielzeugsoldaten antreten ließen, um eine Schreibtischschlacht auszutragen.
»Wir suchen nach einem Ort innerhalb dieses Gebiets, den man als ›Todesstätte‹ bezeichnen könnte«, erinnerte sie die beiden.
Cooper richtete sich auf und wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Die Möglichkeiten sind endlos.«
Fry seufzte. »Ben, das ist nicht das, was wir hören wollten.«
»Tut mir leid.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Hitchens. »Betrachten wir die Sache doch mal logisch. Was würde denn in Frage kommen?«
»Die ›Todesstätte‹ …«, sagte Fry. »Meint er damit, dass der Ort selbst tot ist, oder spielt er auf einen Ort für Tote an?«
»Wie zum Beispiel auf einen Friedhof?«, fragte Cooper.
»Moment, nehmen wir mal die erste Möglichkeit«, sagte Hitchens. »Wie haben Sie es formuliert – dass der Ort selbst tot ist?«
»Ja. Das hängt davon ab, was für einen Tick er hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, es könnte eine Form von Protest gegen Steinbrüche sein, oder vielleicht ist er ein Farmer, dessen Nerven wegen der Maul- und Klauenseuche blank liegen. Gibt es hier in der Gegend irgendwelche Deponien zur Verbrennung von Viehkadavern?«
»Nicht dass ich wüsste. Die Maul- und Klauenseuche ist nie bis hierher vorgedrungen, aber unten an der Grenze nach Staffordshire waren einige Farmen betroffen.«
»Wie sieht es mit Werksschließungen aus? Haben irgendwelche großen Arbeitgeber bankrott gemacht?«
»Nicht seit die Zechen im Osten von Derbyshire schließen mussten. Dort sind einige Gemeinden fast ausgestorben. Aber hier nicht.«
»Giftmülldeponien?«
»Okay, Moment … ja, da gibt’s eine in der Nähe von Matlock.«
Hitchens schüttelte den Kopf. »Zu weit weg. Das liegt weit außerhalb der Sechs-Meilen-Zone.«
»Und wie sieht es mit einem Ort für die Toten aus?«, fragte Fry. »Ein Friedhof. Wo könnte man eine Leiche besser verschwinden lassen als zwischen Hunderten anderen?«
»Er hätte sie trotzdem vergraben oder sonst irgendwie verstecken müssen«, sagte Cooper. »Friedhöfe werden regelmäßig besucht. Die Leute würden sich bestimmt wundern, wenn sie eine frische Leiche rumliegen sehen würden.«
»Es gibt doch sicher auch einige verlassene Friedhöfe«, sagte Fry.
»Na ja, es gibt eine Menge geschlossene Kirchenfriedhöfe. Die meisten älteren sind inzwischen voll und können nicht erweitert werden. In vielen Ortschaften kommt man deshalb entweder auf den städtischen Friedhof oder ins Krematorium.«
»Vor allem ins Krematorium, oder? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in meinem Leben jemals bei einer Beerdigung war. Alle Leute aus meinem Bekanntenkreis, die gestorben sind, wurden eingeäschert.«
»Aber die Kirchenfriedhöfe gibt es noch.«
»Okay. Fällt dir noch irgendwas ein, Ben?«
»Das kommt darauf an, was du unter Friedhof verstehst. Es gibt eine Menge Grabstätten, die zum Teil Tausende von Jahren alt sind – jungsteinzeitliche Stätten, Ruinen von Grabkammern. Viele davon befinden sich an ziemlich abgelegenen Orten, aber diese historischen Stätten sind sehr beliebt bei Wanderern. Man könnte eine Leiche dort nicht lange rumliegen lassen, ohne dass sie jemand entdecken würde.«
»Wie damals bei den Nine Virgins«, stellte Fry fest.
»Genau.«
Cooper erinnerte sich noch gut an die »Neun Jungfrauen«, einen Steinkreis, in dem die Leiche einer ermordeten Mountainbikerin liegen gelassen worden war. Sie war binnen Minuten nach ihrem Tod gefunden worden. In dem jetzigen Fall war die Sache allerdings nicht so einfach.
»Einige Stätten sind natürlich weniger bekannt«, sagte er. »Da wäre zum Beispiel das Infidels’ Cemetery.«
»Das was?«
»Das Infidels’ Cemetery, der ›Friedhof der Ungläubigen‹. Das ist ein winziger verwahrloster Friedhof aus dem neunzehnten Jahrhundert an der Straße zwischen Ashford in the Water und Monsal Head. Als ich das letzte Mal dort vorbeigekommen bin, war er hüfthoch mit Nesseln und Unkraut zugewuchert. Und er liegt mitten im Niemandsland – wer ihn nicht kennt, würde wahrscheinlich einfach daran vorbeifahren.«
»Und warum befindet er sich dort?«
»Ich glaube, er war ursprünglich der Friedhof einer Baptistengemeinde. Ich nehme an, die waren bei ihren Nachbarn nicht besonders beliebt.«
»Warum ›Ungläubige‹?«
»Tja, es heißt, die Inschriften seien von einem Historiker aus der Gegend untersucht worden, dem aufgefallen war, dass keine davon einen Hinweis auf die Bibel, auf Gott oder auf Jesus enthielt. Das war zur damaligen Zeit so ungewöhnlich, dass es Verdacht erregt hat.«
»Zwischen Ashford in the Water und Monsal Head?« Fry erinnerte sich daran, dass der Detective Inspector Monsal Head erwähnt hatte. »Dann ist er also nicht weit von Wardlow entfernt?«
»Er befindet sich ganz in der Nähe.«
»Sehen wir ihn uns doch mal an. Ich würde mir sowieso gern ein Bild von der Gegend um Wardlow machen.«
Sie sah Hitchens an, der nickte. »Ich komme hier schon zurecht. Wir müssen ohnehin auf den entscheidenden Augenblick warten.«
»Hättest du Zeit, Ben?«, fragte Fry. »Du bist als Führer der naheliegende Kandidat.«
»Ich hole nur meine Jacke.«
Gavin Murfin hatte von der Einsatzzentrale aus beobachtet, wie Dr. Kane nach der Besprechung wieder gegangen war.
»Mir war gar nicht bewusst, dass es so junge Profiler gibt«, sagte er.
»Sie bezeichnet sich selbst nicht als Profilerin«, erwiderte Fry.
»Oh, nein, natürlich nicht. Nicht mehr, seit den Washington Snipers und dem Fall Rachel Nickell. Ganz zu schweigen von dem Soham-Mordfall, als der Ermittlungsleiter den falschen Rat befolgt hat. Selbst Profiler können sich ihren Ruf ruinieren, wenn sie sich zu oft täuschen. Natürlich müssen sie dann ihre Berufsbezeichnung ändern.«
Fry fuhr ihm ausnahmsweise einmal nicht über den Mund. Diesmal war es Detective Inspector Hitchens, der genervt wirkte. »Wissen Sie, Detective Constable Murfin, echte Profis haben schon immer versucht, den Wirbel herunterzuspielen, den die Presse um psychologische Profiler macht. Dr. Kane hat uns gebeten, sie einfach als Spezialberaterin zu bezeichnen, weil sie Publicity vermeiden möchte.«
»Um sich nicht zu sehr zu profilieren«, erwiderte Murfin und lachte.
Hitchens errötete ein wenig um die Ohren. Das war interessant, da der Detective Inspector dafür bekannt war, dass er selbst gerne seine Vorgesetzten auf die Schippe nahm. Einige behaupteten sogar, er sei aus diesem Grund noch nicht zum Chief Inspector befördert worden.
»Dr. Kane ist Kriminalpsychologin«, sagte er. »Sie ist in Verhaltensforschung und Kriminologie ausgebildet und kann uns deshalb wertvolle Hilfe bei dem Ermittlungsprozess geben. Außerdem hat sie auch schon andere Polizeieinheiten bei etlichen Fällen beraten.«
Fry warf Murfin einen warnenden Blick zu, der sich bemühte, einsichtig zu wirken. »Dann gibt’s also noch kein Straftäter-Profil, Sir?«
Hitchens schüttelte gereizt den Kopf. »Wir haben bislang noch nicht genug Informationen. Wir wissen noch nicht einmal, mit welcher Art von Straftat wir es zu tun haben, wenn wir es überhaupt mit einer zu tun haben.«
Murfin schien nachzudenken, was er noch hätte sagen können, überlegte es sich dann jedoch anders und schwieg. Hitchens wartete auf einen weiteren Kommentar und zappelte ein wenig herum, ehe er sich umdrehte und zurück zu seinem Büro ging.
»Außerdem«, sagte er, »ist sie gar nicht so jung. Sie ist dreiunddreißig.«