Читать книгу Kaltes Grab - Stephen Booth - Страница 10

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Am nächsten Tag hatte der Himmel aufgeklart. Der Nachtfrost hatte den Schnee auf dem Moor mit Glitzer überzogen, und die Luft knisterte, als wäre sie statisch aufgeladen.

Ben Cooper stolperte seufzend in seinem Zimmer hin und her, fest entschlossen, das Frühstück heute nicht ausfallen zu lassen. Als Erstes stand dieser Termin mit der Kanadierin an, den der Chief Superintendent angesetzt hatte. Er hoffte, dass die Angelegenheit möglichst rasch über die Bühne war. Den Berichten des Nachrichtenoffiziers hatte er entnommen, dass es nicht einmal um einen ungeklärten Fall ging, den die Polizei in Derbyshire noch einmal aufgerollt haben wollte. Das Ganze war überhaupt kein Fall.

Wahrscheinlich war es nur wieder mal jemand, der von der Vergangenheit und seiner Familiengeschichte fasziniert war und unnötigen Wirbel verursachte. Chief Superintendent Jepson würde die Kanadierin so rasch wie möglich wieder hinauskomplimentieren.

Wie auch immer, sie war sowieso unwichtig. Im Augenblick konnte sich Cooper, der noch immer nicht ganz wach war, nicht einmal mehr an den Namen der Frau erinnern.

Alison Morrissey hatte sich Frank Baine zur Unterstützung mitgebracht. Baine stellte sich als freier Journalist vor, der die örtliche Geschichte der Royal Air Force und den Hintergrund der Flugzeugwracks, die überall im Peak District herumlagen, recherchiert hatte, und erzählte irgendetwas von einem noch nicht veröffentlichten Buch. Außerdem war er bereits seit Wochen im Auftrag der Kanadierin als Verbindungsmann mit der Polizei aufgetreten, hatte um Informationen gebeten und schließlich den Termin für das Treffen verabredet. Obwohl der Chief Superintendent noch nie persönlich mit Baine gesprochen hatte, ging ihm dessen Beharrlichkeit, von der ihm seine Mitarbeiter berichtet hatten, allmählich auf die Nerven.

Die vier trafen sich im Büro des Chief Superintendent, wo die Sekretärin hin- und herhuschte, Cappuccino servierte und allen Anwesenden von den Bakewell-Cremetörtchen anbot, die Jepson sämtlichen Besuchern auftischte, um seine Verbundenheit mit Derbyshire zu demonstrieren. Cooper konnte sich nicht erinnern, in der West Street schon einmal richtigen Kaffee getrunken zu haben. Er hatte gehört, dass sogar die Leute bei der Anzeigenaufnahme in der neuen Zentrale der Division B dieses Zeug angeboten bekamen, aber das glaubte er erst, wenn er es mit eigenen Augen gesehen hatte.

Die Unterredung begann mit einigen halbherzigen Nettigkeiten über das Wohlergehen von Miss Morrisseys Onkel, seine Familie, seinen Hund und sein Golf-Handicap. Dann ging dem Chief Superintendent der Gesprächsstoff aus, und er sah seine Besucher schweigend an – eine alte Verhörtechnik, in die er aus reiner Gewohnheit verfiel, ein Erbe seiner längst vergangenen Tage bei der Kriminalpolizei. Aber es funktionierte. Alison Morrissey fing sofort an zu reden.

»Wie Sie wissen, meine Herren, habe ich um diese Zusammenkunft gebeten, weil ich die Schmach auf dem Namen meines Großvaters, Daniel McTeague, der bei der kanadischen Luftwaffe als Offizier gedient hat, tilgen möchte. Er wurde im Januar 1945 als vermisst gemeldet, zu einer Zeit, als er der britischen Luftwaffe zugeteilt war.«

»Und das ist inzwischen siebenundfünfzig Jahre her«, sagte Chief Superintendent Jepson freundlich lächelnd, obwohl er damit von Anfang an seinen Standpunkt deutlich machte.

»Zufällig weiß ich, dass Ihre Kollegen von der Polizei in Manchester vergangenes Jahr einen Fall noch einmal aufgerollt haben, der bereits fünfundsiebzig Jahre zurücklag«, konterte Morrissey und sah ihrem Gegenüber direkt in die Augen. »Wenn ein Justizirrtum vorliegt, scheint es keine Rolle zu spielen, wie lange etwas her ist.«

Cooper warf ihr über die Akten hinweg, in die er sich scheinbar vertieft hatte, einen kurzen Blick zu. Er hatte nicht erwartet, dass sie so jung war. Natürlich hätte er sich ihr ungefähres Alter ausrechnen können, wenn es ihn interessiert hätte, schließlich wusste er, dass sie gekommen war, um über ihren Großvater zu sprechen. In den Akten war vermerkt, dass Fliegerleutnant McTeague zu dem Zeitpunkt, als er als vermisst gemeldet wurde, dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war. Seine Tochter, Alison Morrisseys Mutter, war erst wenige Tage vor seinem Verschwinden zur Welt gekommen, folglich musste sie heute siebenundfünfzig sein. Offenbar gehörte sie zu jenen Frauen, die erst in den Dreißigern Mutter wurden, denn Morrissey konnte kaum älter als fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig sein. Cooper gefiel die Art, wie sie dem Chief Superintendent geantwortet hatte. Sie war sehr zielstrebig. Und sie war gut vorbereitet.

»Es hat nie eine Gerichtsverhandlung gegeben«, rief ihr Jepson in Erinnerung. »Die Justiz wurde zu keinem Zeitpunkt eingeschaltet.«

»Die offizielle Justiz«, erklärte Morrissey.

Der Chief Superintendent seufzte leise. »Fahren Sie fort.«

»Mein Großvater war als Pilot eines Lancaster-Bombers bei der Royal Air Force in Leadenhall in Nottinghamshire stationiert, als Angehöriger der 223. Staffel des Bomberkommandos. Damals war er bereits zwei Jahre in der RAF geflogen und konnte eine hervorragende Beurteilung vorweisen. Nachdem er eine beschädigte Wellington nach einem erfolgreichen Einsatz gegen eine deutsche U-Boot-Basis in der Nähe von Rotterdam heil zurückgebracht hatte, wurde ihm eine Medaille erster Klasse verliehen, das Distinguished Flying Cross. Er hatte seiner Mannschaft befohlen auszusteigen, sobald sie über englischem Boden waren, ehe er die Maschine eigenhändig gelandet hatte. Und das, obwohl er selbst von einem Granatsplitter der feindlichen Luftabwehr verwundet worden war. Sobald er wieder gesund war, hat er sich für die Lancasters ausbilden lassen und wurde zur RAF nach Leadenhall versetzt.«

»Sehr interessant«, sagte Jepson. »Aber könnten wir zum Januar 1945 kommen?«

»Ich möchte Ihnen klar machen, was für ein Mensch mein Großvater war«, antwortete Morrissey.

Cooper sah, dass sich ihre Augen beim Sprechen einen Moment lang zornig verengten. Abgesehen von ihrem Alter hatte er vor allem nicht damit gerechnet, dass sie so attraktiv war. Sie verfügte über den Stil und das Selbstbewusstsein, das eine Frau aus der Masse herausragen ließ. Ihre Zuversicht und ihr Stolz gefielen ihm, und er wunderte sich, warum Jepson nicht sanfter mit ihr umging, denn für gewöhnlich hatte auch er eine Schwäche für attraktive junge Frauen. Doch der Chief hatte sein Herz offenbar abgeschottet, und wenn das passierte, wich er keinen Zentimeter von seinem Standpunkt ab. Das Ergebnis dieser Besprechung war bereits beschlossene Sache. Schon jetzt hatte Cooper Mitleid mit der Frau. Jepson würde sich alles anhören, was sie zu sagen hatte, am Ende würde sie unweigerlich enttäuscht werden.

»Hier ist ein Foto von meinem Großvater«, sagte Morrissey und schob erst dem Chief Superintendent ein Bild über den Tisch zu, dann Cooper ein zweites. Bis auf einen kurzen Blick bei der Begrüßung hatte sie ihn bisher kaum angesehen. Cooper hatte den Eindruck, dass sie genau wusste, was sie wollte, und wer ihr dabei am besten helfen konnte. Sofort richtete sie den Blick wieder auf den Chief Superintendent.

»Die Aufnahme wurde gemacht, als er zum Fliegerleutnant befördert wurde, nachdem er sich der 223. Staffel angeschlossen hatte«, erklärte sie. »Wegen seiner Dienstjahre war er ein oder zwei Jahre älter als die meisten anderen Besatzungsmitglieder. Deshalb nannten ihn alle ›Opa‹.«

Dem NO war es nicht gelungen, dieses Foto für die Akte aufzutreiben, obwohl es bestimmt ziemlich leicht zu beschaffen gewesen wäre, da es sich um eine offizielle Aufnahme der britischen Luftwaffe handelte. Entweder war Morrissey aktiver gewesen, oder aber sie hatte die besseren Beziehungen. Cooper sah zu Frank Baine hinüber, während ihm wieder einfiel, dass er ihn in einer Fernsehsendung über den sechzigsten Jahrestag der Schlacht um England gesehen hatte. Das Einzige, was Cooper von diesem Bericht in Erinnerung behalten hatte, war, dass einige der Lancaster-Bomber, die die RAF im Zweiten Weltkrieg eingesetzt hatte, in einem Werk in Bamford gebaut worden waren, das nur wenige Kilometer von Edendale entfernt lag. Selbstverständlich existierte das Werk schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie die Bomber, die man dort zusammengeschraubt hatte. In der Sendung hatte eine Frau erzählt, wie sie als junges Mädchen in der Flugzeugfabrik gearbeitet hatte und dass ihr ein wichtigtuerischer Vorarbeiter erklärt habe, dass sie, wenn sie auch den kleinsten Fehler machte, schuld daran sei, wenn die Deutschen den Krieg gewannen.

»Bitte sehen Sie sich das Foto genau an«, bat Morrissey, »dann müsste Ihnen eigentlich klar werden, wie stolz mein Großvater auf diese Uniform war.«

Fliegerleutnant McTeague sah in seiner RAF-Uniform aus wie aus dem Ei gepellt: mit der Schirmmütze, den nagelneuen Streifen am Ärmel und der Medaille am Band, die an seine Brusttasche geheftet war. Die angelegten Arme wirkten, als würde er strammstehen. Sein Schlips saß perfekt, die Bügelfalten waren messerscharf. Die Uniform war natürlich blau gewesen, nur das Foto war schwarzweiß. Möglicherweise war der ursprüngliche Abzug sepiafarben gewesen, während dieser hier wie eine am Computer vergrößerte Kopie aussah. McTeagues Gesicht war gut zu erkennen: schmaler, dunkler Schnurrbart, stolzes Lächeln und klare Augen, die direkt in die Kamera blickten. Ein gut aussehender Mann, nach dem sich so manches Mädchen umgedreht haben musste. Und in seinem Blick lag eindeutig eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Enkelin.

»Wie Sie sehen, trägt er sein Distinguished Flying Cross«, ergänzte Morrissey.

Jepson legte den Abzug auf seine Akte. »Januar 1945«, sagte er.

Morrissey nickte. »Am 7. Januar 1945 saß mein Großvater im Cockpit des Lancaster-Bombers SU-V«, sagte sie. »Bei der Besatzung hieß das Flugzeug Sugar Uncle Victor.«

An dieser Stelle sprang Frank Baine ein, der Fachmann. Sein Schädel war rasiert, eine Mode, die das Quer-über-den-Kopf-Kämmen zur Kaschierung früh einsetzender Glatzenbildung abgelöst hatte. Sobald er anfing zu sprechen, war Cooper klar, weshalb Alison Morrissey ihn mitgebracht hatte. Baine brauchte kaum auf seine Notizen zurückzugreifen, um darzulegen, was sich am 7. Januar 1945 zugetragen hatte. Jedenfalls die bislang bekannten Tatsachen.

»Die Lancaster SU-V war nach dem Angriff eines deutschen Nachtjägers während eines Luftangriffs auf Berlin am äußeren Steuerbordflügel beschädigt worden«, erklärte er. »Man hatte das Triebwerk ausgetauscht, und die Besatzung war auf einem Testflug mit dem neuen Triebwerk unterwegs. Es war ein reiner Routineflug – sie sollten von der Basis Leadenhall in Nottinghamshire zum Militärflugplatz Benson in Lancashire fliegen. Die Entfernung betrug höchstens 100 Meilen. Die Besatzung hatte schon mehrere Einsätze über Deutschland geflogen und war jedes Mal unversehrt zurückgekehrt. Aber über Derbyshire ging irgendetwas schief. Die SU-V prallte gegen den Irontongue Hill, ungefähr zehn Meilen von hier. Bei dem Absturz starben fünf der sieben Besatzungsmitglieder.«

Cooper hatte die Liste der Besatzungsmitglieder vor sich liegen. Sieben Namen, von denen er bislang nur einen kannte – den des Piloten, Daniel McTeague. »Moment«, sagte er. »Wer von der Besatzung wurde getötet?«

»Erstens der Funker, Sergeant Harry Gregory«, antwortete Baine.

Cooper machte ein kleines Kreuz hinter den Namen.

»Dann der Bombenschütze, Bill Mee, der mittlere Bordschütze, Alec Hamilton, und der Heckschütze, Dick Abbott, allesamt Sergeanten der britischen Luftwaffe.«

»Und wer noch?«

»Einer von den Polen«, sagte Baine. »Der Navigator, Fliegerleutnant Klemens Wach.«

»Bleibt ein weiterer Überlebender außer McTeague«, stellte Cooper fest.

»Genau.«

»Das müsste der Bordingenieur sein. Ich weiß nicht genau, wie man den Namen ausspricht…«

»Lukasz«, sagte Baine. »Wie Gulasch. Der zweite Überlebende war Fliegerleutnant Zygmunt Lukasz.«

Grace Lukasz hatte erfreut bemerkt, dass Zygmunt kein besonderes Interesse mehr daran zeigte, zum Dom Kombatanta, dem Club der ehemaligen polnischen Kriegsteilnehmer, zu gehen. In letzter Zeit schienen sich die alten Soldaten und Flieger nur noch über Krieg und Tod zu unterhalten, als wären die sechzig Jahre ihres Lebens seit 1945 zu einem vierzehntägigen Heimaturlaub zusammengeschnurrt. Einmal hatte sie gehört, wie ein ehemaliger Fallschirmjäger, der zu viel Wodka getrunken hatte, verkündete, dass er sich nie wieder so lebendig gefühlt hätte wie damals im Angesicht des Todes. Und jetzt wiederholte sich das Ganze – die alten Soldaten machten sich bereit für ihren letzten Flug, die letzte Reise ins Unbekannte, nur dass sie diesmal ein Leichenwagen ans Ziel bringen würde.

Früher hatten sich Zygmunt und seine Freunde für die britische Politik interessiert. Sie hatten endlos über die ihrer Meinung nach unglaubliche Gleichgültigkeit der Briten diskutiert, die sich kaum aufraffen konnten, zur Wahlurne zu gehen, geschweige denn, ihren Politikern zuzuhören.

»Seit Winston Churchill sind sie nicht mehr die Alten«, hatte Zygmunt einmal gesagt.

»Dad, das ist sechzig Jahre her«, hatte Peter erwidert.

»Das meine ich ja«, sagte Zygmunt. »Seither ist es mit ihnen bergab gegangen.«

Aber das war zu der Zeit, als er noch Englisch sprechen konnte.

Der alte Mann besaß eine besondere Begabung, Grace spüren zu lassen, dass sie eine Fremde war. Es war ein unangenehmes Gefühl, an das sie sich seit der Hochzeit mit Peter nie ganz gewöhnt hatte. Davor hatte sie Woodward geheißen und ihre Zugehörigkeit niemals in Frage gestellt, sondern sich ganz selbstverständlich als Britin betrachtet. Doch eines Tages war sie plötzlich Mrs Lukasz, und die Leute behandelten sie anders, als wäre sie noch einmal als Fremde auf die Welt gekommen. Sogar Menschen, die sie ihr Leben lang kannte, mit denen sie zur Schule gegangen war, schienen zu glauben, sie hätte die englische Sprache über Nacht verlernt.

Und dann, nach dem Unfall vor sechs Jahren, war Grace mit einem Mal froh gewesen, sich als Fremde zu fühlen. Wenn sie jetzt in ein Geschäft kam und die Unterhaltung plötzlich verstummte, konnte sie sich einreden, es läge daran, dass sie nur ihren Nachnamen gehört hatten und sie für eine osteuropäische Asylantin hielten. Inzwischen wohnten eine Menge Asylanten in den Ferienhäusern an der Buxton Road.

Erst kürzlich hatte Grace in der Zeitung gelesen, dass einige Grüppchen osteuropäischer Frauen und Kinder in den umliegenden Ortschaften aufgetaucht seien, und während die Frauen sich nach dem Weg erkundigt und die Ladenbesitzer abgelenkt hätten, hätten die Kinder die Regale leer geräumt. Sie zweifelte nicht daran, dass diese Geschichte stimmte. Die meisten dieser Leute waren sowieso Zigeuner, und Edendale hatte jahrelang mehr als genug Probleme mit Zigeunern gehabt. Einmal hatte eine Sippe ihre Autos und Wohnwagen auf einer Wiese unmittelbar neben dem Queen’s Park abgestellt; Grace hatte gesehen, wie ihre Hunde herumgestreunt waren und wie sich der Müll am Rand der Wiese mit jedem Tag höher getürmt hatte. Es war ihr vorgekommen, als würde sie zusehen, wie der Winter hereinbrach und die Landschaft starb, als würde sie sehnlichst auf den ersten Frühlingstag warten, an dem die Sonne wieder herauskam und man endlich wieder alles aufräumen und säubern konnte. Mit dem gleichen Gefühl der Ohnmacht, der gleichen Ungeduld hatte sie darauf gewartet, dass dieses Ärgernis aus ihrem Leben verschwand.

Eines Morgens waren die Zigeuner tatsächlich verschwunden. Sie hatten sich vor Tagesanbruch aus dem Staub gemacht und auf der Wiese ein Meer aus Abfall und auf der Straßenböschung allen möglichen anderen Unrat hinterlassen. Was kümmerte es sie, wohin die Zigeuner weiterzogen? Was kümmerte es sie, wohin der Schnee verschwand? Der Schnee wurde irgendwie von der Erde aufgenommen, das war alles, was zählte. Die Natur hatte eine Art Selbstreinigungsrhythmus, den sie tröstlich fand.

Grace wandte sich wieder dem Zimmer zu. Sofort fiel ihr Blick auf das Familienfoto in der Nische neben der Tür. Sie und Peter, Zygmunt und Krystyna, die Enkelkinder auf den Knien. Einmal, noch vor der Hochzeit, hatte sie versucht, Peter zu überreden, ihren Nachnamen zu ändern, weil sie es ihren zukünftigen Kindern leichter machen wollte. »Lucas« wäre doch eine gute Alternative, hatte sie vorgeschlagen. Es wäre eigentlich nur eine Änderung der Schreibweise gewesen, die Aussprache wäre praktisch gleich geblieben. Doch Peter hatte sich geweigert. Er hatte ihr in einem Ton geantwortet, den sie noch nie an ihm gehört hatte, ein Ton, der sie verstummen ließ und schließlich davon abhielt, weiter mit ihm darüber zu streiten. Er hatte seine Ablehnung nie begründet, und sie hatte ihn auch nie mehr danach gefragt.

Sie betrachtete das Gesicht des alten Zygmunt, die stolze Kopfhaltung und den offenen Blick. Mit dem Alter wurde Peter seinem Vater immer ähnlicher. Manchmal, wenn sie genauer hinsah, bemerkte sie einen veränderten Ausdruck in den Augen ihres Ehemannes, wenn sein Vater ihn »Pjotr« nannte. Ihr war es nie gelungen, diesen Blick hervorzurufen, nicht einmal in ihren intimsten Momenten. Wie oft sie seinen Namen auch flüsterte, dieser stolze Blick ließ sich nicht heraufbeschwören. »Peter« hatte für ihn nicht dieselbe Bedeutung wie sein polnischer Name. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, sie könnte diese Wirkung erzielen, indem sie ihn ebenfalls »Pjotr« nannte. Aber sie wusste, dass es zu spät war, diese Gewohnheit jetzt noch zu ändern.

Als sie einen Wagen kommen hörte, rollte Grace rasch zum Fenster. Unmittelbar hinter ihrer Hecke parkte ein Ford am Straßenrand ein. Sie sah einen Mann mit hellem Haar auf dem Fahrersitz. Es war nicht Andrew. Auf der Beifahrerseite stieg eine Frau aus. Einen kurzen Moment blieb ihr Blick auf Grace hängen, dann wandte sie sich ab und ging zu der Tür zwei Häuser weiter, während der Fahrer winkte und davonfuhr. Grace stieß den angehaltenen Atem aus. Auch sie war es nicht. Noch nicht.

Frank Baine wartete, bis er sicher war, dass man ihm immer noch aufmerksam zuhörte. Alison Morrissey ließ Chief Superintendent Jepson nicht aus den Augen. Sie wollte den Chief mit schierer Willenskraft zum Zuhören zwingen, doch Ben Cooper kannte Jepson gut genug, um zu erkennen, dass er längst abgeschaltet hatte. Wahrscheinlich hatte er bereits im Voraus entschieden, wie viel Zeit er der Sache zu opfern bereit war. Cooper wunderte sich, wie schnell die Zeit verging.

»Der ehemalige Fliegerleutnant Zygmunt Lukasz ist der einzige Überlebende der Besatzung der Sugar Uncle Victor«, erklärte Baine. »Lukasz war damals einer der Jüngsten, aber auch er ist inzwischen achtundsiebzig. Und wie es der Zufall will, wohnt er hier in Edendale.«

»Dann wollen Sie ihn bestimmt besuchen«, sagte Jepson, als wollte er damit andeuten, dass es dafür keinen besseren Zeitpunkt gäbe als jetzt. Jetzt sofort.

»Wir haben mit den Lukasz’ Kontakt aufgenommen«, sagte Baine. »Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie nicht sehr daran interessiert sind, mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Schade«, meinte Jepson.

»Am Tag des Absturzes hat der Pilot wie vorgeschrieben die Sichtfluglage bei der Flugkontrolle abgefragt«, fuhr Baine fort. »Man hatte ihn über eine durchbrochene Wolkendecke in zweitausend Fuß Höhe und schlechte Sicht informiert. Aber irgendwie kam er vom Kurs ab und befand sich plötzlich über dem Peak District. Er hat es zu spät bemerkt, als er das Flugzeug durch die Wolkendecke nach unten brachte, um seine Position festzustellen. Direkt vor ihm ragte der Irontongue Hill auf. Er hatte nicht die geringste Chance auszuweichen.«

»Bei dem Absturz kamen fünf Mann ums Leben. Also haben zwei überlebt.«

»Ja. Der siebte war der Pilot, mein Großvater«, sagte Alison Morrissey. »Aber nach dem Unglück hat ihn niemand mehr gesehen.«

Darauf hatte Cooper gewartet. Schließlich war das der Sinn und Zweck dieses Treffens. Alles andere war lediglich Vorgeplänkel gewesen. »Seit dem Unglück gilt er als Deserteur«, sagte er. »Außerdem wurde er nach der Untersuchung für den Absturz verantwortlich gemacht.«

Morrissey wandte sich abrupt zu ihm um. »Er war der Pilot. Das Flugzeug stand unter seinem Befehl. Da es weder Anzeichen für feindliches Einwirken noch für mechanisches Versagen gab, musste er die Schuld auf sich nehmen. Er wurde in Abwesenheit schuldig gesprochen. Und es gibt keinen Beweis dafür, dass mein Großvater desertiert ist. Keinen Einzigen.«

»Aber er wurde gesehen, wie er sich von der Absturzstelle entfernt hat«, sagte Cooper.

»Nein. Das stimmt nicht.«

Chief Superintendent Jepson bewegte sich kaum merklich. Die Stimmen, die plötzlich lauter geworden waren, hatten sein Interesse geweckt. Er warf einen Blick auf den Bericht des Nachrichtenoffiziers. »Soweit ich informiert bin, wurden zwei Jungen befragt, die aussagten, sie hätten gesehen, wie ein Flieger die Straße am Blackbrook-Reservoir entlangging, vom Irontongue Hill herunter in Richtung Glossop. Das erscheint mir ziemlich eindeutig.«

»Diese Aussage war entscheidend. Ich würde mich gern noch einmal mit den beiden Jungen unterhalten, aber ihre Namen sind in den Unterlagen, die mir zur Verfügung gestellt wurden, nicht vermerkt.«

»Das mag von Ihrem Standpunkt aus bedauerlich sein, Miss Morrissey, aber schließlich waren die beiden damals noch Kinder. Zwölf und acht Jahre alt. Warum hätten sie lügen sollen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Außerdem steht hier, dass später am Tag ein Mann in Uniform gesehen wurde, den ein Lastwagenfahrer in der Nähe von Chinley auf der A6 mitgenommen hat. Das war damals so üblich.«

»Dieser Mann ist nie mit hundertprozentiger Sicherheit als Fliegerleutnant McTeague identifiziert worden«, widersprach Morrissey.

»Das war sogar noch bis vor kurzem an der Tagesordnung. Aber seit einigen Jahren nicht mehr.«

»Wovon reden Sie?«

»Davon, dass Autofahrer Soldaten mitnehmen. Früher standen die Jungs am Straßenrand, mit ihren Kleidersäcken und einem Schild, auf dem stand, wohin sie wollten, und die Autofahrer hielten an. Man erkannte die Soldaten schon am Haarschnitt, da alle anderen jungen Männer damals lange Haare hatten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich selbst mehrere Soldaten am Kreisel der M6 in der Nähe von Preston mitgenommen habe, als ich noch bei der Polizei in Lancashire war. Heutzutage kann man niemandem mehr trauen. Man weiß nie, wer an eine Uniform oder an Militärausrüstung herankommt. Wenn man solche Leute mitnimmt, kann man ausgeraubt werden oder noch Schlimmeres. Ich würde der Öffentlichkeit dringend davon abraten, schon um der eigenen Sicherheit willen.«

Alison Morrissey starrte den Chief Superintendent an, und Cooper sah, wie sie leicht errötete. Das machte sie noch anziehender, doch Jepson schien es nicht zu bemerken. Er hatte auf Öffentlichkeitsarbeit-Modus umgeschaltet, als hielte er einen Vortrag vor der Handelskammer oder vor einem Komitee zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bevölkerung.

»Der Mann wurde nie eindeutig als mein Großvater identifiziert«, wiederholte Morrissey.

»Ja, ja, ich habe Sie schon verstanden«, sagte Jepson und schaute in seinen Bericht.

»Und wie soll er zur A6 gelangt sein? Versetzen Sie sich bitte einmal kurz in seine Lage. Ich habe mir die Landkarten angesehen, und die Stelle, an der dieser Mann mitgenommen wurde, ist über zehn Meilen von der Absturzstelle entfernt. Soll mein Großvater etwa so weit zu Fuß gegangen sein? Warum hat ihn dann nicht schon eher jemand gesehen?«

»Es war dunkel«, bemerkte Cooper.

Ihre Blicke trafen sich. Er hatte das Gefühl, dass die Frau unter anderen Umständen gelächelt hätte.

Jepson nickte ihm dankbar zu. »Es war dunkel, natürlich. Der Lastwagenfahrer hat ihn um sieben Uhr morgens mitgenommen. Da ist es in dieser Gegend im Januar noch dunkel. Ben weiß das am besten. Er stammt von hier. Es geht doch nichts über ein bisschen Ortskenntnis. Das ist besser als alle Unterlagen, die Sie hier anschleppen, Miss Morrissey.«

Der Chief Superintendent schob den Bericht beiseite und strahlte Morrissey an. Cooper erkannte das Politikerlächeln, das der Chief normalerweise nur bei hohem Besuch aus der Polizeibehörde aufsetzte, wenn er hoffte, dass seine Gäste endlich abzogen und ihn in Ruhe ließen.

»Der Lastwagenfahrer konnte nicht einmal genau sagen, ob der Mann eine Fliegeruniform anhatte«, sagte Morrissey, in deren Stimme ein Anflug von Verzweiflung lag.

Jepson zog die Akte wieder zu sich heran. Er warf einen Blick auf die erste Seite, dann sah er zu Cooper hinüber, der stumm die Lippen bewegte.

»Es war dunkel«, sprach Jepson stockend nach. »Ja, natürlich war es dunkel … das haben wir doch bereits festgestellt. Miss Morrissey, wir können von einem Kraftfahrer nicht erwarten, dass er im Dunkeln die Einzelheiten einer Uniform erkennt. Wie Sie vielleicht wissen, gab es damals noch keine Straßenbeleuchtung. Es war schließlich…«

»Krieg«, ergänzte Morrissey. »Ich weiß.«

Jepson legte die Fingerspitzen aneinander und sah sich zufrieden um, als wäre dieser Punkt damit geklärt. »Haben Sie noch weitere Informationen beizusteuern, Miss Morrissey? Neue Informationen?«

»Mein Großvater ist nicht desertiert«, sagte Morrissey leise.

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte Jepson, der nun, da er die Ziellinie bereits vor sich sah, allmählich in Schwung kam, »aber ich finde, Sie haben uns bis jetzt nichts wirklich Neues erzählt. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass Ihr Großvater etwas anderes getan hat, als die Absturzstelle zu verlassen, bevor die Rettungsmannschaften eintrafen, dass er sich von einem Lastwagenfahrer auf der A6 hat mitnehmen lassen und…«

»Und was?«, fragte Morrissey.

Jepson blätterte nervös in seinem Bericht. »Na ja, vermutlich ist es ihm irgendwie gelungen, das Land zu verlassen und nach Kanada zurückzukehren.«

»Wie leicht dürfte das für einen Deserteur gewesen sein?«, fragte Morrissey. »Insbesondere damals, im Krieg?«

Es sah aus, als wollte der Chief Superintendent mit den Achseln zucken, doch er überlegte es sich in letzter Sekunde anders. Schließlich hatte er in etlichen Seminaren für Führungskräfte gelernt, dass eine derartige Geste die falschen Signale setzte.

»Bitte. Mein Problem besteht darin, dass meine einzigen Informanten hier in der Gegend – zumal es unmöglich ist, die beiden Jungen ausfindig zu machen, die meinen Großvater gesehen haben – Zygmunt Lukasz und ein Mann namens Walter Rowland sind. Rowland gehörte zu dem Trupp der RAF-Bergrettung, der zur Absturzstelle gerufen wurde. Frank hat sich mit ihnen in Verbindung gesetzt, aber sie weigern sich beide, mit mir zu sprechen.«

»Es tut mir Leid, Miss Morrissey, aber ich kann wirklich nichts für Sie tun«, sagte Jepson.

»Sie können schon – Sie wollen nur nicht«, sagte Morrissey.

»Wie Sie meinen. Tatsache ist aber, dass ich bei weitem nicht genug Personal habe, um Sie bei Ihrem Vorhaben auch nur zu beraten.«

Ben Cooper sah deutlich, dass Alison Morrissey das Wort»Vorhaben« nicht gefiel. Ihre Kiefermuskeln spannten sich an, und ein eigensinniger Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Sie fingerte am Schnappschloss ihrer Aktentasche herum, als wollte sie ihre Unterlagen wieder einstecken.

Cooper nutzte die Gelegenheit, um ihr eine Frage zu stellen. »Miss Morrissey, was glauben Sie denn, was mit Ihrem Großvater passiert ist?«

Morrissey sah ihn einen Augenblick verwirrt an, ehe sie sich mit einer raschen Handbewegung das Haar aus dem Gesicht strich. »Ich glaube, er war verletzt«, sagte sie. »Vielleicht war er benommen oder hatte eine Gehirnerschütterung, so dass er nicht wusste, wo er war und was er tat. Vielleicht konnte er sich nicht mal an den Absturz erinnern. Ich glaube, er hat seine Fliegermontur ausgezogen und am Straßenrand zurückgelassen, weil sie zu schwer war, um sie zu tragen. Ich glaube, dass er zu irgendeinem Haus in der Nähe kam, vielleicht zu einem Bauernhof, und dass man ihn dort aufgenommen hat.«

»Aufgenommen?«

»Sich um ihn gekümmert und ihm ein Dach über dem Kopf gegeben.«

»Obwohl die Leute wussten, wer er war? Sie müssen doch später von dem Flugzeugabsturz gehört haben. Warum hätten sie ihn behalten sollen? Warum haben sie ihn nicht den Behörden übergeben? Wenn er verletzt war, hätten sie sich zumindest um ärztliche Versorgung kümmern müssen.«

»Ich weiß auch nicht, warum«, beharrte Morrissey. »Aber ich weiß, dass der Mann, der auf der A6 mitgenommen wurde, nicht mein Großvater war. Ich glaube, dass es sich um einen Deserteur handelte, der sich unerlaubt vom Fahrzeugdepot in Stockport entfernt hat. Er hieß Fuller. Die Polizei hat ihn später im Haus seiner Eltern in Stoke-on-Trent festgenommen.«

»Und Ihr Großvater?«, fragte Cooper. »Wie kommen Sie darauf, dass er in dieser Gegend geblieben ist? Das kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor.«

»Wie ich darauf komme? Sehen Sie sich das hier an«, erwiderte Morrissey und zog eine kleine Plastiktasche aus der Aktenmappe, die eine Medaille an einem rotgoldenen Band enthielt. Die Medaille war blank poliert und schimmerte im Licht der Neonlampen, funkelte sie an, als wollte sie ihnen eine Botschaft aus der Vergangenheit überbringen.

»Was ist das?«

»Das ist ein Distinguished Flying Cross der kanadischen Luftwaffe«, erklärte Morrissey und drehte die Medaille um. »Jemand hat sie letzten Sommer an die frühere Adresse meiner Großmutter in Ottawa geschickt. Ein kurzer Brief war auch dabei. Er war an meine Mutter adressiert, aber es stand nur ›Vergiss nie deinen Vater, Fliegerleutnant Danny McTeague‹ drin.«

Cooper beugte sich vor, um die Medaille genauer zu betrachten. »Das ist die Medaille Ihres Großvaters? Wo kam sie her?«

»Wir wissen nur«, antwortete Morrissey, »dass das Päckchen hier in Edendale aufgegeben wurde.«

Kaltes Grab

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