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Vor jeder Tür auf dem schmucklosen Korridor stand ein Paar Schuhe, darunter ein Paar Turnschuhe mit dicken Gummisohlen, ein Paar braune, an der Seite aufgerissene Straßentreter, und ein Paar hohe Doc Martens. Den Anfang bildeten Eddie Kemps Gummistiefel, von denen der geschmolzene Schnee rann und auf dem Fußboden Pfützen bildete. Im Hintergrund spielte Nigel Kennedy Die Vier Jahreszeiten.

»Hat er nach einem Arzt verlangt?«, fragte Ben Cooper.

»Nach einem Arzt?« Der Sergeant runzelte die Stirn und blätterte die Papiere durch. »Nein. Er hat nur gesagt, dass er zwei Stück Zucker in den Tee nimmt, wenn ich dann so weit bin.«

»Geben Sie ihm Gelegenheit, um einen zu bitten, Sarge, nur für alle Fälle.«

Der Sergeant war gut einsachtzig groß und strahlte ebenfalls diese typische Verdrossenheit aus, die Cooper bei allen Beamten festgestellt hatte, nachdem sie ein paar Monate mit der Aufnahme von Gefangenen in die Untersuchungshaft zu tun gehabt hatten. Sie bekamen zu viel von der schäbigen Seite des Lebens zu sehen, zu viele Gefangene, die immer wieder ein- und ausgingen.

»Wieso? Glaubt er, mit ihm sei was nicht in Ordnung?«, erkundigte sich der Sergeant. »Mal abgesehen davon, dass sein Geruchssinn hinüber ist.«

»Er riecht ziemlich reif, was?«

»Reif? Ich würde eher verfault sagen.«

Eddie Kemp verbreitete einen seltsam ranzigen Geruch. Es lag nicht an seinem Atem, sondern dieser säuerliche Geruch drang ihm aus sämtlichen Poren. Der Geruch stieg auf, sobald er sich bewegte, und nur seine Kleidung verhinderte, dass jeder, der sich ihm bis auf zwanzig Meter näherte, davon betäubt wurde. Als er den alten Mantel und die Thermoweste ausgezogen hatte, war fast die Farbe von den Wänden gefallen.

Kemps Sachen waren so rasch wie möglich in Tüten verfrachtet und die Verwahrungsstelle durch einen uniformierten Beamten desinfiziert worden. Im Arrestteil für die Frauen waren drei Zellen belegt, und die Insassinnen würden sich garantiert bald erneut beschweren. Cooper fürchtete, der Geruch würde ihn noch den ganzen Tag begleiten, genau wie sein erfrorener Fuß.

»Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis er zur Vernehmung geholt wird«, meinte der Sergeant. »Eine unserer Prostituierten da hinten hat sich bereits zum Thema Menschenrechte schlau gemacht. Es könnte durchaus einen Paragrafen geben, der Gefangenen ein Recht auf frische Luft zuspricht.«

»Ich weiß nicht, wer Eddie Kemp vernimmt. Hauptsache, nicht ich«, meinte Cooper. »Abgesehen davon könnte er draußen auf der Straße einiges an Unterstützung haben. Ich bin sicher, dass drei seiner Kumpels vor dem Café standen. Aber er ist der Einzige, zu dem es eine klare Zeugenbeschreibung gab.«

»Die Öffentlichkeit hat nicht das Recht, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen«, sagte der Sergeant und hörte sich dabei an, als zitierte er aus einem Buch.

Die beiden schwer verletzten jungen Männer waren spät in der vergangenen Nacht im Underbank-Viertel von Edendale aufgefunden worden, einem Labyrinth aus engen Gassen, das sich von den eigentlichen Touristengebieten der Stadt hügelaufwärts erstreckte. Obwohl die beiden übel zugerichtet waren, hatte man nicht aus ihnen herausbekommen, warum sie überfallen worden waren.

Am Morgen sah sich die Polizei mit dem Problem konfrontiert, die Angreifer zu identifizieren. Die meisten Anwohner hatten offenbar nichts gesehen. Lediglich ein Ehepaar, das wegen des Lärms ans Schlafzimmerfenster gegangen war, hatte ausgesagt, sie hätten Eddie Kemp erkannt, weil er immer ihre Fenster putze. Eddie war stadtbekannt. Cooper hatte die Nachteile einer örtlichen Berühmtheit am eigenen Leib erfahren, weshalb er ein wenig mit Eddie mitfühlte.

»Ich habe übrigens die Namen der Opfer überprüft«, sagte er. »Beides alte Bekannte von Ihnen, Sarge. Heroin-Dealer aus den Devonshire-Wohnblocks.«

Auf den Korridoren näherte sich, wenn man Nigel Kennedy glauben wollte, das Ende des Frühlings.

»Ich verstehe nur nicht, warum es in der Funkmeldung hieß, dass es sich vermutlich um einen Angriff mit rassistischem Hintergrund handelt«, sagte Cooper. »Eines der Opfer ist Asiate, aber der andere ist weiß.«

»Wir gehen auf Nummer Sicher«, sagte der Sergeant, »und halten uns für alle Fälle den Rücken frei. Wo wir gerade von den Insassen der Anstalt sprechen…«

Erst kürzlich war eine Anzahl von Asylanten auf Derbyshire verteilt worden, von denen man einige in Edendales leer stehende Ferienunterkünfte eingewiesen hatte. Bis dahin hatte kaum ein Einwohner von Edendale in seiner Stadt Menschen anderer ethnischer Herkunft zu Gesicht bekommen, es sei denn als Betreiber eines Restaurants oder eines Cafés oder als Touristen – aber die zählten nicht. Das plötzliche Auftauchen von Iranern, Kurden, Somalis und Albanern in den Schlangen an den Bushaltestellen war in etwa so gewesen, als hätte jemand eine Tonne Unkrautvernichter in einen Teich gekippt, um anschließend zuzusehen, wie es anfing zu blubbern und zu brodeln. Zum ersten Mal sah man ein Logo der National Front auf einer Scheibe eines leer stehenden Ladens in Fargate, und angeblich hielt die British National Party in einem Pub unweit von Chesterfield Rekrutierungsversammlungen ab.

»Ihr Gefangener ist ’n ziemlicher Scherzkeks«, sagte der Sergeant. »Hat behauptet, er heißt Homer Simpson.«

»Tut mir Leid.«

»Ach, machen Sie sich nichts draus. Sie würden sich wundern, wie viele Homer Simpsons hier bei uns durchlaufen. An manchen Tagen könnte man denken, in der Stadt findet ein Treffen statt. Früher war es mal Mickymaus, klar. Aber dieser Name ist inzwischen aus der Mode. Jedenfalls hab ich ihm gesagt, dass ich ihn ins Gästebuch eintragen muss, sonst kriegt er morgen kein Frühstück.«

»Manchmal geht’s hier bestimmt ziemlich bunt zu.«

»Das perlt von mir ab wie Wasser von einer Ente, Junge. Sie haben doch die Richtlinien gelesen? ›Dumme und blödsinnige Bemerkungen werden ignoriert.‹ Das hilft ungemein, wenn irgendein wichtigtuerischer Inspector daherkommt und mir sagen will, was ich zu tun habe. Man kann ihn einfach links liegen lassen und sagen: ›Tut mir Leid, steht so in den Richtlinien.‹«

»Und was ist mit der Musik?«, wollte Cooper wissen.

»Die entspannt die Kunden«, antwortete der Sergeant, obwohl Cooper fand, dass er sich nicht gänzlich überzeugt anhörte.

»Tatsächlich?«

»Hat man mir jedenfalls gesagt.«

Der Sergeant hielt einen Augenblick inne, und die beiden Männer lauschten den Klängen Vivaldis. Kennedy läutete soeben den Sommer ein.

»War die Idee von unserer Frau Inspector«, erklärte der Sergeant.

»Aha«, erwiderte Cooper. »Hat sie nicht kürzlich an einer Fortbildung teilgenommen?«

»Eine Fortbildung? Selbstverständlich hat sie an einer verdammten Fortbildung teilgenommen! Sagen Sie mir eine Woche, in der die sich nicht fortbildet! Die hier nannte sich ›Durchführung einer Mittelüberprüfung Ihrer Schnittstelle mit der Öffentlichkeit‹. Was zum Teufel soll das denn heißen? Sie werden schon sehen, es dauert nicht mehr lange, dann lässt sie uns hier drin Spiegel und Topfpalmen aufstellen, und als Nächstes müssen wir die Türen und Schreibtische hin und her rücken, damit die Energie besser fließen kann, oder sonst so ein Quatsch.«

»Feng shui«, sagte Cooper.

»Wie bitte?«

»Feng shui.«

»Sie haben sich wohl bei der Warterei da draußen eine Erkältung geholt«, brummte der Sergeant.

»Die Energie fließen lassen«, sagte Cooper. »Kommt aus Japan.«

Der Sergeant starrte ihn an. »Klar«, sagte er. »Was bin ich bloß für ein Dummkopf.«

Er war viel zu groß für den Tresen, an dem er arbeitete, und musste sich umständlich nach vorn beugen, um seine Unterlagen bearbeiten zu können. Wenn die Kommission für Gesundheit und Sicherheit hier nicht bald die Arbeitsplatzgestaltung revolutionierte, war in ein oder zwei Jahren, wenn der Sergeant nur noch wie Quasimodo herumlaufen konnte, ein saftiges Schmerzensgeld fällig. Doch bis dahin verfolgten ihn wohl eher Nigel Kennedys Klänge als die Glocken von Notre Dame.

Coopers Piepser vibrierte in der Hosentasche. Es war der fünfte Anruf in der letzten halben Stunde. Noch während er seinen Gefangenen durch die verschneiten Straßen von Edendale geführt hatte, war ihm die Zentrale mit anderen Ermittlungsanfragen auf die Nerven gefallen.

»Was sollen diese ganzen neuen Ideen eigentlich bewirken?«, fragte der Sergeant. »Manchmal komme ich kaum zum Luftholen. Hier geht es zu wie in einem Irrenhaus. Und damit meine ich nicht nur unsere Gäste.«

Hinter dem Sergeant kam ein Streifenbeamter aus dem Büro und händigte Cooper einen Zettel aus, auf dem DC Cooper – Bericht an DS Fry, dringend stand. Widerwillig verabschiedete sich Cooper von dem Plan, den er sich in den vergangenen Minuten zurechtgelegt hatte. Er hatte gehofft, seinen Spind aufsuchen, sich dort ein Paar trockene Socken holen und anschließend eine Razzia in Gavin Murfins Schreibtisch durchführen zu können, um nach etwas Essbarem zu fahnden.

»Aber ich habe natürlich nichts gesagt«, erinnerte ihn der Sergeant. »Meine Arbeit macht mir großen Spaß, ehrlich.«

Als die Passagiere des Air-Canada-Fluges 840 am Gate von Terminal 1 des Flughafens Manchester ankamen, wartete dort ein hoch gewachsener, blonder Mann mit Bart. Er begrüßte die Frau mit einem herzlichen Händedruck, doch einen Augenblick lang sahen beide so aus, als bedauerten sie, dass sie von so vielen Menschen umgeben waren. Alison Morrissey lächelte, als sie seinen stark ausgeprägten Dialekt hörte, als wäre ihre Reise nach England erst jetzt Wirklichkeit geworden.

»Schön, dass Sie mich abholen«, sagte sie.

»Ich wollte nicht, dass Sie ganz allein hier stehen.«

»Das ist sehr nett.«

Es entstand ein kurzes Schweigen. Während die Passagiere links und rechts an ihr vorbeidrängten, ließ die Frau den Blick über die ungewohnten Namen an den Flughafen-Shops schweifen: W. H. Smith, Virgin, Boots the Chemist. Als sie den Kopf neigte, um einer Durchsage zu lauschen, sah sie einen Moment wie ein Schulmädchen aus.

»Wir müssen ein ganzes Stück bis zum Parkplatz gehen«, sagte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Schaffen Sie das? Sie sehen blass aus.«

»Aber ja. Mir geht’s gut.«

Er fand einen Gepäckwagen und schob ihn für sie zum Ausgang. Alison Morrissey blieb stehen, um sich die Beine zu massieren, obwohl sie während des ganzen Fluges über den Atlantik gewissenhaft ihre Übungen durchgeführt hatte.

»Scheußliches Wetter«, sagte er. »Aber vermutlich sind Sie in Kanada Schnee gewöhnt.«

»Ich wohne in einem Vorort von Toronto, Frank. Dort gibt es weit und breit weder Grizzlybären noch Holzfäller.«

Sie wirkte benommen und leicht desorientiert, doch sie riss sich zusammen und verwandelte sich wieder in eine selbstbewusste Frau Mitte zwanzig.

»Das Treffen findet doch hier im Polizeirevier statt?«, fragte sie.

»Natürlich. Keine Sorge, es ist alles gut organisiert.«

»Tut mir Leid, Frank. Es hat mich ganz plötzlich erwischt. Diese Reise ist mehr für mich als ein Urlaub in einem anderen Land – es ist wie eine Reise in die Vergangenheit.«

»Das kann ich gut verstehen.«

»Und zwar in eine gefährliche Vergangenheit. Ich habe wirklich den Eindruck, als stünde ich an der Grenze zu feindlichem Gebiet.«

»Sie dürfen nicht von allen Seiten Feindseligkeit erwarten«, widersprach er. »Das muss nicht so sein.«

Vor dem Gebäude sah Alison Morrissey zum grauen Himmel hinauf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Sie haben Recht. Diese Atlantikflüge machen mich immer fertig. Hier ist die Frühstückszeit wohl schon vorbei?«

»Eigentlich ist schon fast Zeit zum Mittagessen. Wenn Sie wollen, essen wir gleich hier am Flughafen etwas.«

»Können wir nicht erst raus nach Derbyshire fahren? Wie lange dauert das?«

»Kommt darauf an, ob die A57 inzwischen frei ist«, antwortete er. »Auf dem Weg hierher musste ich die Autobahn nehmen. In der letzten Verkehrsdurchsage, die ich gehört habe, hieß es, der Snake Pass sei immer noch zu. Keine Ahnung, warum … normalerweise sind sie mit den Schneepflügen immer ziemlich schnell durch, jedenfalls auf den Hauptverkehrsstraßen. Vielleicht gab es einen Unfall oder so was.«

Grace Lukasz spähte vorsichtig um die Ecke in das Hinterzimmer des Bungalows. Sie hielt die Räder des Rollstuhls fest umfasst, um kein Geräusch zu verursachen. Zygmunt saß in seinem Lehnstuhl am Tisch. Es sah aus, als schliefe er. Seine Hände lagen auf der Tischplatte, die blauen Adern traten deutlich hervor, als litte er tatsächlich an dem hohen Blutdruck, über den er stets klagte, von dem die Ärzte jedoch nichts wissen wollten. Sein Kopf ruhte an der Stuhllehne, und er hatte die Brille abgenommen. Grace sah die roten Druckstellen auf beiden Seiten der Nase und die kleinen Büschel weißer Haare, die sich über die Ohren geschoben hatten. Auch in den Ohren sprossen Haarbüschel, und noch mehr Haare wucherten auf seinem Nacken, dort, wo er sich einfach immer wieder zu rasieren vergaß.

Die Augen des alten Mannes waren geschlossen, doch Grace war sich nicht sicher, ob er tatsächlich schlief. Er saß häufig einfach so da. Zygmunt behauptete immer, er denke nach, falls er sich überhaupt die Mühe machte, eine Erklärung abzugeben. Grace vermutete, dass er im Geiste sein Leben Revue passieren ließ und der Vergangenheit nachhing. In letzter Zeit schien er selten etwas anderes zu tun. Aber vielleicht tat sie ihm ja Unrecht. Vielleicht dachte der alte Mann an seine Frau Roberta. Doch sie bezweifelte es. Wahrscheinlicher war, dass er an Klemens Wach dachte. In letzter Zeit dachte er hauptsächlich an Klemens.

Am kommenden Sonntag fand in Edendale wieder das Oplatek-Festessen statt. Zu diesem Anlass kam fast die gesamte polnische Gemeinde im Dom Kombatanta, dem Veteranenclub, zusammen. Grace wusste, dass dieser Tag für Zygmunt den Höhepunkt des Jahres darstellte und wichtiger war als Wigilia, die Feier am Heiligen Abend. Das Festessen war der Tag, an dem für alle ein neues Jahr begann, aber es war auch eine Gelegenheit, über ihre Geschichte und ihren Platz in der Welt nachzudenken. Natürlich waren die meisten Teilnehmer des Festessens keine gebürtigen Polen, doch seit Solidarnosc und Demokratie und mit der Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU setzten sich einige dieser Leute wieder mehr mit ihrer Kultur, ihren Wurzeln und ihrer Stellung in Europa auseinander. Zygmunt nicht. Zygmunt sprach in letzter Zeit nicht viel. Und wenn, dann nur über die Vergangenheit.

Trotzdem stand das Festessen unmittelbar bevor. Obwohl die Gemeindefeierlichkeiten in den Januar verschoben worden waren, war der Anlass kein geringerer, und alles musste korrekt über die Bühne gehen. Grace konnte die Rote-Bete-Suppe, den marinierten Hecht, den Karpfen mit Meerrettichtunke und die mit Pilzen gefüllten Tomaten fast schon riechen. Die Frauen, die das Festmahl organisierten, hielten zäh an den Traditionen fest, egal welcher Aufwand dafür betrieben werden musste.

Auch für das Wigilia im Kreise der Familie waren sämtliche Register gezogen worden. Alle hatten sich zu dem traditionellen, fleischlosen zwölfgängigen Menü mit dem zusätzlichen Platz für den unerwarteten Gast an den Tisch gesetzt. Zuerst hatten sie die Oplatki, die dünnen Oblaten, miteinander geteilt. In diesem Jahr bedeuteten ihnen diese Symbole der Versöhnung und der Vergebung mehr als je zuvor. Natürlich war es nicht so einfach zu vergeben. Grace wusste, dass Peter an ihren ältesten Sohn in London dachte, der bis auf diese gefärbte Blondine niemanden hatte, der Wigilia mit ihm feierte. Wie immer hatten sie Andrew eine Oplatek geschickt, doch ob er sie mit seiner Blonden gebrochen hatte, war fraglich. Soweit sich Grace erinnern konnte, hatte es in der ganzen Mietwohnung in Pimlico nichts gegeben, was überhaupt an Oplatek erinnerte, ausgesprochen wenig, das von Vergebung kündete.

Ginge es nach den jüngeren Familienmitgliedern, würden sich die Traditionen bald ändern. Richard und Alice war die ganze Angelegenheit einfach nur peinlich. Sie hätten aus Oplatek ein sinnentleertes Ritual gemacht, nur um es rasch hinter sich zu bringen, so dass man sich endlich dem Essen widmen und sich anschließend irgendeinen amerikanischen Spielfilm im Fernsehen anschauen konnte. Aber sie kannten Zygmunt zu gut, um ihn in dieser Jahreszeit zu verärgern, erst recht nicht in den vergangenen paar Monaten. Es war die Zeit der Vergebung, in der sie einander ihre Verfehlungen und die Fehler des zurückliegenden Jahres verzeihen konnten. Es war nicht die Zeit für Streitigkeiten.

Also hatte Zygmunt als der Älteste die erste Oplatek genommen und sie an seine Schwester Krystyna weitergereicht, sie gesegnet und ihr für das kommende Jahr Gesundheit und alles Gute gewünscht. Und sie hatte ihn angeschaut und ihm ebenso Gesundheit und Glück im kommenden Jahr gewünscht. Sie hatte seine Worte wiederholt, wie es Brauch war, doch dann war ihre Stimme gekippt, und die alte Frau hatte angefangen zu weinen. Grace war zu ihr gerollt und hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt. Doch es hatte ganz so ausgesehen, als wollte die alte Frau gar nicht mehr aufhören zu weinen, vielleicht die gesamten zwölf Weihnachtstage nicht, bis zum Fest der Heiligen Drei Könige. Die Vorderseite ihres besten Kleides war von den Tränen ganz fleckig geworden.

Zygmunt hatte lediglich die Stirn gerunzelt und gewartet, dass er mit der Zeremonie fortfahren konnte, bis alle ihre Oblaten miteinander gebrochen und in die Krippenszenen gebissen hatten, die in das ungesäuerte Brot geprägt waren. Dann, erst dann, hatten sie sich zum Essen hingesetzt und angefangen, die zwölf fleischlosen Gänge einzunehmen, einen für jeden Apostel. Die Familie hatte sichtlich erleichtert aufgeatmet. Einige hatten erwartet, dass Zygmunt eine Rede halten und über die Versäumnisse und Sünden des vergangenen Jahres sprechen würde, so wie es seinen Worten nach sein Vater und sein Großvater immer getan hatten, indem sie alles auflisteten, was die jungen Leute falsch gemacht hatten, bevor sie ihnen verziehen und damit reinen Tisch für das neue Jahr machten.

Doch damit hätte Zygmunt alles nur noch viel schwieriger gemacht. Es war einfacher, so zu tun, als wären die Dinge nicht geschehen, indem man sie nicht offen ansprach.

Grace warf Zygmunt einen letzten Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er noch atmete, dann rollte sie durch den Korridor zurück. Peter war im Wintergarten bei seinen Kakteen und Pelargonien. Auf dem Glasdach lag immer noch eine dünne Schicht Schnee, die dem Licht im Raum einen fahlblauen Schimmer verlieh.

»Ist mit Dad alles in Ordnung?«, fragte Peter, ohne sich von seiner Untersuchung einer stachligen Monstrosität auf einem Regal ablenken zu lassen. Sein Ohr war auf das Geräusch ihres Rollstuhls geeicht. Sogar Zygmunt besaß ein sehr feines Gehör. Es hätte Grace nicht gewundert, wenn der alte Mann die ganze Zeit über gewusst hätte, dass sie da war, als sie ihn von der Zimmertür aus beobachtet hatte. Es hätte ihm geradezu ähnlich gesehen, so zu tun, als bemerkte er sie nicht. Peter war genauso, wahrscheinlich wäre er seinem Vater in zehn oder zwanzig Jahren noch ähnlicher. Beide waren abwechselnd eigensinnig und hitzköpfig, unnachgiebig oder aufbrausend. Nicht zuletzt diese Unberechenbarkeit hatte sie damals so anziehend an Peter gefunden. Doch in letzter Zeit hatte er seine Launen sehr im Zaum gehalten und sich in sich zurückgezogen.

»Es geht ihm gut«, antwortete sie. »Er schaut sich die Fotoalben an.«

Eigentlich hätte Grace das nicht speziell erwähnen müssen. Die Fotoalben lagen fast immer vor Zygmunt auf dem Tisch. Es waren Familienaufnahmen, Bruchstücke der Geschichte der Lukasz’, so gut es ging zusammengesetzt angesichts der vielen Lücken, des jähen Todes so vieler Familienmitglieder. Über jene Albumseite, auf der das Foto eines fröhlich lächelnden Achtzehnjährigen klebte, der Rest aber bis auf die nahezu unkenntliche Aufnahme einer Metallplakette leer war, gab es nichts zu sagen.

Zur Wigilia hatte es immer viele stille Gebete gegeben, in denen die Familie Lukasz versucht hatte, zu dem Teil der Verwandtschaft Kontakt aufzunehmen, der nicht in England lebte. In erster Linie hatten sie an Zygmunts und Krystynas Cousins und Cousinen in Polen gedacht, inzwischen aber auch an Andrew, den in Anwesenheit der alten Leute alle wieder Andrzej nannten.

Krystyna sagte, sie versuche immer, die Erinnerung an ihre toten Eltern in Polen heraufzubeschwören, um den Zusammenhalt zu stärken. Grace wollte sie fragen, ob ihre Gebete wirklich halfen, doch ein kurzer Blick in Krystynas Gesicht in einem unbeobachteten Moment verriet ihr alles, was sie wissen wollte.

Wie immer hatte man in der Kirche der heiligen Maria von Tschenstochau in der Harrington Street unter den Ikonen der Schwarzen Madonna eine Mitternachtsmesse gefeiert. Neben der Kirche stand die polnische Samstagsschule, in der immer noch eine Hand voll Schüler die Sprache lebendig erhielt, indem sie für die mittlere Reife auf Polnisch lernten und in der Geschichte Polens sowie im katholischen Glauben unterrichtet wurden. Die Kinder aus der Sonntagsschule führten auch das Krippenspiel beim Oplatek-Festmahl am kommenden Sonntag auf.

In der Kirche hatten alle mitgesungen. Ein paar Männer rochen nach Wodka, und auch einige der Frauen hatten rote Gesichter. Trotzdem versuchten alle zu singen. Die Polen waren nicht unbedingt mit schönen Gesangsstimmen gesegnet, was sie aber durch ihren Eifer wieder wettmachten. Sogar Zygmunt hatte in einige Koledy, seine Lieblingsweihnachtslieder, die nach der Messe gesungen wurden, eingestimmt.

Und natürlich hatte man sich unterhalten und Neuigkeiten ausgetauscht. Graces polnischen Verwandten war ausnahmslos ein bisschen Klatsch und Tratsch jederzeit willkommen. Jeder Versuch, sich gegen diese Einmischung in ihr Leben zu wehren, war zwecklos. Grace war dankbar für den Schnee, der ihr einen Vorwand lieferte, das Haus nicht verlassen zu müssen, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, wenn ihre Freunde sich nach Andrew erkundigten.

Sie sah zu, wie Peter über die prallen Blätter des Kaktus strich und mit der Fingerkuppe die sieben Zentimeter langen Stacheln befühlte. Er drückte dagegen, bis es aussah, als bohrten sie sich wie Nägel in seine Haut.

»Ich habe heute einen Anruf bekommen«, sagte er.

»Und?«

»Es war dieser Mann. Frank Baine.«

Grace erstarrte. Am liebsten hätte sie einen Kaktustopf aus dem Regal gezogen und gegen die Wand geschleudert. Sie wollte ihn durch die Glasscheibe hinaus auf die Steinfliesen im Garten werfen, seine hässlichen, gemeinen Stacheln zerstören und zusehen, wie der Saft aus seinem geschwollenen Körper spritzte. Aber sie reichte nicht einmal so hoch hinauf.

»Dann ist sie also hier«, stellte Grace fest.

»Heute Morgen in Manchester gelandet.«

»Willst du es ihm sagen?«

Peter schüttelte den Kopf. »Lass ihn noch eine Weile«, sagte er. »Er braucht seine Ruhe.«

Grace erinnerte sich an den freien Platz, der zur Wigilia gedeckt worden war. Für einen unerwarteten Gast, hatte Krystyna gesagt. Die alte Frau erklärte immer wieder, dass es sich um eine Tradition handelte. Es bedeutete, dass sie jedem Wanderer, der in dieser Nacht in den Straßen unterwegs war, mit Gastfreundschaft begegneten, jedem Fremden, der an ihre Tür klopfen könnte, wer immer er auch sein mochte. Denn zu Wigilia könnte dieser Fremde Jesus selbst sein. Bei der Vorstellung, Jesus könnte am Weihnachtsabend durch Woodland Crescent in Edendale spazieren und beschließen, an der Tür von Nummer 37 zu klingeln, hätte Grace am liebsten laut losgelacht. Er hatte mit Sicherheit Besseres zu tun, so wie der Weihnachtsmann am Weihnachtsabend – den Worten ihrer Eltern zufolge – Besseres zu tun hatte.

Doch Grace hatte nichts gesagt. Zygmunt selbst hatte bei den Worten seiner Schwester den Kopf geschüttelt und gelächelt. Dann hatte er mit seiner leisen, kaum hörbaren Stimme auf Polnisch richtig gestellt, dass das zusätzliche Gedeck für all jene aufgelegt werde, die nicht unter ihnen weilten; für entfernte oder verstorbene Familienmitglieder, womit er natürlich seinen Vetter Klemens meinte. Zu Wigilia war Zygmunt zum Vorstand seines eigenen Haushalts geworden, und seither war es Jahr für Jahr so geblieben.

Doch Grace wusste, dass dieses Jahr das Letzte war. Bei der nächsten Wigilia wäre der zusätzliche Platz nicht mehr für Klemens bestimmt, sondern für Zygmunt.

Vielleicht war nicht nur die Kälte daran schuld, dass Alison fröstelte und den Mantel enger um die Schultern zog. Tatsächlich ging gerade die Sonne über Stanage Edge und dem Bamford-Moor auf. Noch eine Stunde, dann hatte sie der Luft ihre schneidende Kälte genommen und den Nebel aufgelöst, der sich noch immer an der schwarzen Wand des Irontongue Hill festklammerte. Alison sah aus, als wäre mehr als ein wenig Wintersonne notwendig, damit ihr wieder warm wurde.

Sie blickte über eine struppige Grasfläche auf ein schneebedecktes Torfmoor, aus dem sich nackter Fels erhob. Der Wind fegte von einem weiter entfernten Berg im Norden über das Moor.

»Der Berg dort drüben ist der Irontongue«, erklärte Frank Baine. »Weiter hinten sieht man den Bleaklow.«

»Sieht ziemlich trostlos aus, jetzt im Schnee.«

»Auch ohne Schnee ist es hier ziemlich öde.«

Aufmerksam sah sie zum Irontongue Hill hinüber. Baine hatte ihr bereits erzählt, dass der Berg seinen Namen einem Durchbruch schwarzen Gesteins auf seinem Gipfel verdankte, einer extrem harten Steinplatte, die bei einem urzeitlichen Vulkanausbruch herausgeschleudert worden war.

Morrissey wandte sich ab. Das Tal unter ihnen sah in der Dunkelheit unermesslich und geheimnisvoll aus. Es lag da wie ein zerknittertes Bettlaken, das von einem ruhelosen Schläfer zwischen Bergspitzen und Tälern festgezurrt worden war. Doch die Lichter der verstreuten Dörfer und Gehöfte verschwanden nach und nach im undefinierbaren Grau des Tagesanbruchs. Die Schatten der Hügel wurden dunkler und streckten ihre dunklen Finger über einen Flickenteppich aus Äckern und Feldern aus, tasteten über die Höfe zwischen Bauernhäusern und in die Gärten unsichtbarer Weiler.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es in England so kalt ist«, sagte sie. »Ich habe nicht die passende Kleidung eingepackt.«

»Egal, was Sie eingepackt hätten«, erwiderte er, »es hätte sowieso nicht gepasst. In dieser Gegend ändert sich das Wetter alle paar Minuten. Schon morgen kann der ganze Schnee wieder verschwunden sein.«

»Wollen wir’s hoffen. Ich muss die Stelle sehen. Daran liegt mir sehr viel.«

»Verstehe«, sagte Baine.

»Wollen die Lukasz’ mit mir reden?«

»Nein«, erwiderte Baine.

»Ich könnte sie umstimmen«, sagte sie. »Wenn ich nur die Möglichkeit hätte, persönlich mit ihnen zu reden, dann würden sie sehen, dass ich auch nur ein Mensch bin, genau wie sie. Wir wollen doch alle dasselbe.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Aber natürlich. Wir alle wollen die Wahrheit erfahren, oder etwa nicht?«

Sie starrten beide geradeaus auf die Windschutzscheibe und warteten darauf, dass der Beschlag sich auflöste. Die Hügel vor ihnen waren weiß und spiegelglatt wie Marmorplatten. Morrissey fröstelte.

»Die Polen sind überzeugt davon, dass sie die Wahrheit kennen«, sagte Baine. »Tut mir Leid, aber so ist es nun mal.«

Als sie weiter die A57 entlangfuhren, musste er immer wieder den Kopf aus dem Seitenfenster strecken. Auf halbem Weg blickte Morrissey zurück, während sie in der Manteltasche nach der kleinen Autofocus-Kamera suchte, die sie nicht benutzt hatte. Postkarten mit Aufnahmen von diesem Ort schienen immer nur die andere Richtung, das in Sonnenlicht gebadete Tal zu zeigen, Irontongue Hill war hingegen nie darauf abgebildet.

Kurz vor dem Snake Inn mussten sie hinter einer Autoschlange halten, die darauf wartete, dass sie ein Polizist mit einem Leuchtstab weiterwinkte. Die andere Straßenhälfte war von zwei Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern blockiert. Dahinter stand ein Schneepflug, hinter dem sich eine zweite Autoschlange gebildet hatte.

»Sehen Sie«, sagte Baine, »ich habe Ihnen ja gesagt, da muss jemand mit dem Schneepflug zusammengestoßen sein.«

Neugierig spähte Morrissey im Vorbeifahren aus dem Fenster, doch sie sah nirgendwo eine Beschädigung und konnte sich auch nicht vorstellen, womit der Schneepflug zusammengestoßen sein könnte. Vielleicht hatte man das andere Fahrzeug bereits abgeschleppt. Trotzdem standen immer noch jede Menge Leute am Straßenrand, und eine Frau in einem weißen Overall kauerte in einer Schneewehe.

»Von hier aus geht es nur noch bergab«, sagte Baine. »Bald sind wir in Edendale.«

Er stellte das Radio an, wo gerade die Acht-Uhr-Nachrichten liefen, ehe ein Bericht über Familien folgte, die ihren alltäglichen Verrichtungen nachgingen, sich über die Benutzung des Badezimmers und die letzte Tasse Kaffee in der Kanne stritten, hastig nach den richtigen Schuhen suchten und vor sich hin fluchten, als ihnen einem nach dem anderen einfiel, was sie heute alles zu erledigen hatten. Morrissey schloss die Augen.

»Schlafen Sie doch noch ein bisschen«, schlug Baine vor.

»Frank«, sagte sie, »jedesmal, wenn ich die Augen schließe, kommen die Bilder. Die Bilder der toten Männer.«

Baine nickte. »Jemand hat mal gesagt, Erinnerungen sind Fotos auf der falschen Seite der Augen.«

»Mein Leben lang bin ich mir nie ganz sicher gewesen, wo die Erinnerung aufhört und die Fantasie anfängt. In letzter Zeit weiß ich nicht mehr so genau, auf welcher Seite meiner Augen die toten Männer tatsächlich sind.«

Sie schlug die Augen wieder auf. Ein schwarzer Kleinbus mit abgedunkelten Scheiben und ohne Aufschrift fuhr langsam an ihnen vorbei. Morrissey drehte sich auf dem Sitz um und beobachtete, wie der Polizist ihn an den Straßenrand dirigierte. Eine blonde Frau in einem schwarzen Mantel und einem roten Schal sah sie an, bis sie sich wieder umdrehte. Dann fuhren sie weiter nach Edendale.

Kaltes Grab

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