Читать книгу Kaltes Grab - Stephen Booth - Страница 6
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Es war eine Stunde vor Tagesanbruch, als Detective Constable Ben Cooper die ersten Nachrichten bekam. Die Stunde vor Anbruch des Tages war eigentlich die tote Stunde. Doch in den Schlafzimmern der dreistöckigen Sozialbauten oder in den halbmondförmig an den Berghängen angelegten Wohnstraßen mit den Doppelhaushälften blinzelten die Leute verwirrt in eine fremde Welt aus gedämpften Geräuschen und einem umgekehrten Muster aus Hell und Dunkel. Cooper kannte die Stunde vor Tagesanbruch nur zu genau. Um diese Zeit sollte man sich nicht unbedingt draußen aufhalten. Aber es war Januar, und der Tag dämmerte spät in Edendale. Darüber hinaus hatte der Schnee den Morgen in ein frostiges Chaos verwandelt.
Cooper schlug den Kragen seines Wachsmantels bis zum Rand seiner Mütze hoch und wischte die kleinen Schneeflocken weg, die sich in seinen Kinnstoppeln verfingen, wo er sich am Morgen nicht gründlich genug rasiert hatte. Er war zu Fuß eine der kleinen Seitenstraßen vom Marktplatz heruntergekommen, der frische Schnee hatte unter seinen Sohlen geknirscht. Er war auf dem überfrorenen Kopfsteinpflaster ausgerutscht und vom Lichtkegel einer Straßenlaterne zum nächsten durch die Dunkelheit gestapft. Schließlich war er aus der Gasse in das lärmende Verkehrschaos hinausgetreten, das das Herz von Edendale zum Stillstand gebracht und jedes Vorankommen auf den schneebedeckten Straßen unmöglich gemacht hatte.
Auf der Hollowgate saßen die frustrierten Fahrer Stoßstange an Stoßstange zwischen den Auspuffwolken in ihren Autos fest. Viele von ihnen waren praktisch blind gefahren, hinter halb vereiste oder mit braunen Schlieren überzogene Windschutzscheiben geduckt, auf denen die festgefrorenen Scheibenwischer nichts ausrichten konnten. Das Brummen der Motoren hing über der Straße und brach sich an den Fassaden der Geschäfte und den oberen Stockwerken der Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Das Scheinwerferlicht ließ Fahrer und Insassen zu unheimlichen Schatten erstarren, wie die Silhouetten auf einem Schießstand.
»Wir haben einen schweren tätlichen Angriff auf zwei Personen, möglicherweise mit rassistischem Hintergrund. Ungefähr gegen zwei Uhr morgens. In der Nähe der Underbank.«
Die spröde Stimme aus dem Funkgerät klang fremd und weit entfernt. Sie gehörte einer müden Telefonistin in einer fensterlosen Anrufzentrale, in der man nicht mitbekam, ob es immer noch schneite oder ob die Sonne bereits aufgegangen war. Es sei denn, jemand rief an und gab den Wetterbericht durch. Heute vereinzelt aufkommende Gewaltausbrüche. Gelegentlich etwas Blut auf der Straße. Noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung.
Cooper trat vom Bürgersteig und stand knöcheltief im Schneematsch, der augenblicklich über den Rand seines Schuhs schwappte und seinen Fuß in einen eisigen Schwamm verwandelte. Da es erst sieben Uhr und noch immer stockfinster war, stand ihm eine lange, unangenehme Schicht bevor, falls er nicht bald seinen Spind in der Zentrale der Division E in der West Street erreichte und dort die Socken wechselte.
»Zwei männliche Opfer haben mehrere Verletzungen erlitten, ihr Zustand wird als ernst beschrieben.«
Cooper schlängelte sich zwischen den verkeilten Autos hindurch auf die gegenüberliegende Straßenseite. Um ihn herum waberten Dämpfe aus der Dunkelheit empor, blieben unter den Straßenlampen hängen und wurden von der eisigen Kälte und der absoluten Windstille in den Straßen gefangen.
»Gesucht werden vier Verdächtige, alle männlich, weiß und zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig. Hiesiger Dialekt. Einer der Verdächtigen wurde als Edward Kemp identifiziert, wohnhaft in Edendale, Beeley Street 6. Alter fünfunddreißig. Kurzes, dunkelbraunes Haar, ungefähr einsachtzig groß.«
Das Wetter schlug im Peak District so schnell um, dass die Autofahrer in der Stadt jedes Mal vom Schnee überrascht wurden. Dabei blieben auch diesmal sämtliche kleineren Straßen und Pässe im Umkreis von etlichen Meilen rings um Edendale so lange gesperrt, bis die Schneepflüge durchkamen. Womöglich waren die weiter abseits gelegenen Ortschaften bis morgen oder sogar übermorgen von der Außenwelt abgeschnitten.
Cooper war wegen des Wetters rechtzeitig aufgebrochen und mit seinem Toyota auf dem Weg von der Bridge End Farm in die Stadt durch die vom ersten Schneepflug gefräste Schneise gefahren. Die Hügel ringsumher hatten jungfräulich geglitzert und wie überdimensionale, mit Zuckerguss überzogene Hochzeitstorten in die Dunkelheit aufgeragt. Allerdings hatte er auf sein Frühstück verzichten müssen. Was er jetzt brauchte, waren ein paar Käsetoasts und eine Tasse schwarzer Kaffee. Vor den Fenstern des Starlight Cafés, dessen Lichter von den noch unberührten Schneewehen zurückgeworfen wurden, geriet er einen Moment lang in Versuchung.
»Edward Kemp ist der Beschreibung nach kräftig und besitzt einen auffälligen Körpergeruch. Er wurde zuletzt in einem dunklen Mantel und mit einem Hut gesehen. Momentan liegt keine genauere Beschreibung vor.«
Cooper warf einen Blick in das Café. Hinter der beschlagenen Scheibe sah er in Jacken, Anoraks, Schals und Handschuhe gehüllte Gestalten mit einer breiten Auswahl an Kopfbedeckungen aus Fell, Leder und Wolle. Sie sahen aus wie Models in einem Katalog für Polarforscherausrüstung.
»Die Verdächtigen führen möglicherweise Baseball-Schläger oder ähnliche Waffen mit sich. Größte Vorsicht bei der Annäherung.«
Inzwischen konnte er den Kaffee beinahe schmecken, spürte den bröseligen, leicht gerösteten Toast und den weichen, angenehm klebrigen Schmelzkäse förmlich auf der Zunge. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Cooper zog den Handschuh zurück und sah auf die Uhr. Jede Menge Zeit.
Gerade als er die Nase noch näher an das Fenster presste, wurde drinnen eine Hand sichtbar und wischte die Scheibe frei. Vor ihm erschien das Gesicht einer Frau mit empört aufgerissenen Augen. Ihre Lippen formten einen obszönen Fluch, ehe sie zwei Finger in einem blauen Wollhandschuh reckte. Cooper wich zurück. Also keine Toasts heute Morgen, und auch keinen Kaffee.
»Zentrale, ich brauche einen Wagen zum Starlight Café in der Hollowgate.«
»Kommt in zwei Minuten, DC Cooper… Ist es da draußen immer noch dunkel?«
»Es ist eine Stunde vor Tagesanbruch«, antwortete Cooper. »Was dachten Sie denn?«
Das Eis und der böige Wind waren schuld an Marie Tennents schlimmsten Wahnvorstellungen. Es war, als bohrte jemand Dolche in ihr Gehirn, und zwar so tief hinein, dass die Klingen in ihrem Schädel aneinander schabten und dabei einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten.
In der letzten Stunde vor ihrem Tod glaubte Marie, Musik durch den Wind heulen zu hören, das Zischen von Reifen auf einer vereisten Straße und murmelnde Stimmen tief unter dem Schnee. Ihr Verstand versuchte verzweifelt, die Geräusche zu deuten, das, was mit ihr geschah, einzuordnen. Doch die Musik war nicht greifbar, wie das Gebrabbel eines schlecht eingestellten Radios, kurz bevor die Batterien den Geist aufgeben.
Marie lag inmitten der Gerüche von zerdrücktem Schnee und feuchter Luft, den Geschmack ihres eigenen Blutes im Mund, und ihr Körper war eine irritierende Landschaft aus kalten Stellen, Taubheit und Schmerzen. Dort wo der Schnee in ihren Kleidern geschmolzen und wieder gefroren war, brannten ihre Arme und Beine. Das Hämmern in ihrem Kopf war zu einer zornigen, unerträglichen Qual angewachsen.
Trotz ihrer Schmerzen war sich Marie in einem lichten Augenblick darüber bewusst, dass die Geräusche, die sie hörte, von den winzigen Knochen in ihrem Innenohr herrührten, die beim Gefrieren schrumpften und sich zusammenzogen. Sie rieben gegeneinander und erzeugten ein Flüstern und Murmeln, eine Parodie von Geräuschen, die sich über ihren langsamen Rückzug aus der Wirklichkeit lustig machten. Es war ein verstörender und unartikulierter Abschied, eine letzte rätselhafte Botschaft aus der Realität, das Einzige, was ihr Sterben begleitete.
Die Sonne war hinter dem Rücken vom Irontongue Hill verschwunden. Das schneebedeckte Hochmoor lag im Schatten, und die Temperatur sank rasch. Marie spürte den zarten Kuss von Schneeflocken im Gesicht. Auf der Bergspitze lagen die letzten Sonnenstrahlen, das Licht färbte den Schnee auf den Felsen bläulich. Der Irontongue selbst war nicht zu erkennen, seine schrundige Säule aus dunklem Sandstein ragte nach Süden über das Tal. Doch weiter im Norden sah sie irgendwo Wasser aufblitzen, dort, wo das Blackbrook-Reservoir in einer Mulde eingebettet lag.
Das Letzte, was Marie sah, bevor sich ihre Lider schlossen, war ein schmaler, dunkler Umriss, der den Himmel über dem Hügel teilte. Er schien den grauen Wolkenbauch wie eine Rasierklinge zu zerschneiden. Maries Verstand klammerte sich an diesen Gedanken, und sie bot ihre letzte Widerstandskraft auf, um gegen den Schmerz anzukämpfen. Letztendlich war dieses zerfallende Denkmal in der Mitte des Schneefeldes nicht der Ort, an dem sie sterben sollte. Es gehörte den Männern, die gemeinsam gelebt hatten und gemeinsam gestorben waren. Allein zu sterben war etwas völlig anderes.
Auf der Leinwand ihres inneren Auges blitzte eine Folge leicht unscharfer Dias auf. Sie verschwanden zu schnell, als dass sie erkannt hätte, was sie bedeuteten, trotzdem wusste Marie, dass sie etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hatten. Auf jedem Bild wankten und zappelten undeutliche Gestalten vor einem dunklen Hintergrund. Jedes Bild brachte einen kurzen Ausbruch an Gerüchen, Geschmäcken und Geräuschen mit sich, ein Kaleidoskop aus Sinneseindrücken, das ihr sämtliche Gefühle entzog und sie von ihr wegrissen, bevor sie erkannte, worum es sich eigentlich handelte.
Da war auch eine Stimme … die Stimme eines Menschen, den sie kannte, an den sie sich tatsächlich erinnerte, kein Schneephantom. »Bald sind wir zusammen«, sagte sie. »Bist du glücklich?«, fragte sie.
Und dann gab es nur noch vier allerletzte Worte. Inmitten einer Woge unerträglichen Schmerzes waren sie plötzlich da, inmitten des Geruchs nach schmutzigen Laken und dem Geräusch trippelnder Schritte über ihr. Dieselbe Stimme, aber wiederum doch nicht.
»Es ist zu spät«, sagte sie.
Und Marie Tennent sollte den neuen Tag nicht mehr erleben.
Ben Cooper betrat das Café. Es war voller Gäste, die noch halb schlafend vor ihren Teetassen saßen und sich durch den Dampf, der ihnen in die Nasen stieg, nur mit Mühe wach hielten. Als Cooper kräftig aufstampfte, um sich den Schnee von den Füßen zu treten, wandten sich wie gewöhnlich einige von ihm ab.
In der Nähe des Tresens saß ein einzelner Mann. Er trug einen dunklen Mantel und eine Manchester-United-Kappe. Cooper schob sich von hinten an ihn heran, bis er an ihm riechen konnte. Der Mann verströmte einen Geruch, der sich nicht nur von dem Duft nach Schinkenspeck und Spiegelei abhob, sondern auch von dem Mief nach nassem Hund, der von den feuchten Mänteln und dem schmutzigen Fliesenboden aufstieg.
Cooper trat einen Schritt zur Seite, um das Profil des Mannes zu betrachten.
»Morgen, Eddie«, sagte er.
Der Gast nickte beiläufig. Mehr konnte Cooper unter diesen Umständen nicht erwarten. Eddie Kemp war für die meisten Polizeibeamten der Division E ein alter Bekannter und regelmäßiger Gast in ihren Verwahrungszellen und Befragungsräumen, aber in letzter Zeit hatte er auch andere Teile des Reviers in der West Street besucht, wenn auch nur von außen. Eddie Kemp hatte sich als Fensterputzer selbstständig gemacht.
»Mieses Wetter fürs Geschäft, was?«, sagte Cooper.
»Verdammt mies. Meine Fensterleder sind prügelhart gefroren. Die Dinger sehen aus wie vertrocknete Kuhfladen.«
Kemp sah aus, als wäre er in keiner besonders guten Verfassung. Seine Augen wirkten müde und waren gerötet, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Das Starlight öffnete um fünf Uhr morgens – für die Postbeamten, deren Schicht im Sortierdienst um diese Zeit anfing, für die Busfahrer und die Eisenbahner und auch für den einen oder anderen Polizisten. Kemp sah aus, als wäre er an diesem Morgen der erste Gast gewesen.
»Legen Sie bitte die Hände auf den Tisch«, forderte Cooper ihn auf.
Kemp sah ihn missmutig an. »Sie wollen mir doch nicht das Frühstück verderben?«
»Tut mir Leid, aber ich muss Sie festnehmen.«
Der Mann hob seufzend die Handgelenke. »Die haben bloß gekriegt, was sie verdient haben«, sagte er.
Doch, es war das Geräusch von Schritten. Schritte, die rings um sie herum im Schnee knirschten. Marie Tennents Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihr Zwerchfell, und ein Adrenalinstoß schoss wie Säure in ihre Muskeln. Sie hörte eindeutig Schritte, menschliche Schritte, die ihr zu Hilfe eilten, aber auch Schritte von etwas Schnellerem und Leichterem, das über die Schneeoberfläche jagte. Sie war überzeugt davon, dass ein Suchhund sie gewittert hatte, dass Arme ausgestreckt wurden, um sie aus dem Schnee zu ziehen und in eine Wärmedecke zu hüllen, dass jeden Augenblick freundliche Hände ihre Haut wärmen und besänftigende Stimmen den heftigen Schmerz in ihren Ohren lindern würden.
Aber die Schritte gingen an ihr vorbei. Sie konnte nicht um Hilfe rufen, weil ihr Körper nicht mehr genug Kraft aufbrachte, um zu reagieren. Ihre Lippen und ihre Zunge weigerten sich, dem Schrei in ihrem Kopf zu gehorchen.
In diesem Moment wusste Marie, dass sie einer Täuschung erlegen war. Die Schritte, die sie gehört hatte, stammten von Wölfen oder anderen wilden Tieren, die im Hochmoor lebten. Sie spürte, wie sie näher kamen und sich hastig wieder zurückzogen, wie die haarigen Bäuche über den nassen Schnee schleiften und sie gierig darauf warteten, ein Stück von ihrem Körper zu ergattern. Sie malte sich aus, wie ihnen der Geifer von den Lefzen troff, wie sie darauf lauerten, Stücke aus ihrem erkaltenden Fleisch zu reißen, obwohl ihnen der Menschengeruch, der noch immer daran haftete, zugleich Angst einflößte. Das leichte Prickeln auf ihren Wangen und in den Fältchen um ihre Augen verriet Marie, dass die Räuber schon so nahe waren, dass sie ihren Atem auf dem Gesicht spürte. Wenn sie die Augen öffnete, würde sie in ihre Mäuler blicken, auf den triefenden Speichel und die weißen Zähne. Aber sie konnte die Augen nicht mehr öffnen. Die Tränen hatten ihre Lider festgefroren.
Die Angst schwand, als die Bilder Marie wieder entglitten. Sie standen ihr immer noch vor Augen, doch die Kälte hatte ihnen alle Farbe entzogen. Die Farben waren zerschmolzen und verlaufen, bestanden nur noch aus verwaschenen Grautönen und dunklen Ecken, beraubten Maries Erinnerungen jeder Bedeutung. Sie konnte die Geräusche, die Gerüche und den Geschmack nicht mehr festhalten, nicht einmal mehr dieses eine überwältigende Gefühl, das so übermächtig geworden war, dass es ihre gesamte Vorstellung erfüllte … und sich ihr dennoch entzog. War es Kummer oder Zorn, Angst oder Scham? Oder war es nur diese stete, unbestimmbare Sehnsucht, die sie ihr ganzes Leben lang heimgesucht hatte?
Marie hatte vergessen, wie es dazu gekommen war, dass sie jetzt im Schnee lag, doch sie wusste, dass es einen Grund gab, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Sie wusste auch, dass es etwas mit Sugar Uncle Victor zu tun hatte. Aber die Finger aus Eis wrangen unbarmherzig jedes Bewusstsein aus ihr heraus, und bald schon würde sie überhaupt nichts mehr wissen.
Marie bemerkte nicht, dass ihre Blase nachgab und einen warmen Strom entließ, der einen unregelmäßigen Schneefleck auftaute. Bald darauf stellten auch alle anderen körperlichen Empfindungen ihre Funktion ein. Als Maries Haut gefror und ihr Blut langsam eindickte, wichen sogar die imaginären Geräusche hinter die Wahrnehmungsschwelle ihrer Sinneseindrücke zurück. Die Schritte verblassten und die Stimmen verstummten, weil niemand mehr da war, der sie hörte. Maries Herzschlag verlangsamte sich, bis die Klappen nur noch nutzlos flatterten und kein Blut mehr durch ihren Körper pumpten.
Schließlich war Marie Tennent nur noch ein Fleck, wie ein Sandkorn, das auf den öligen Rückständen der Erinnerung trieb. Dann strudelten auch diese letzten Reste durch ein Loch weit hinten in ihrem Bewusstsein und waren verschwunden.
Zum fünften Mal spähte Ben Cooper zur Ecke Hollowgate und High Street hinüber. Die Ampel hatte auf Grün geschaltet, aber die Fahrzeuge hatten sich mitten auf der Kreuzung verkeilt.
»Wo bleibt denn nur der Wagen?«, brummte Cooper und tastete nach dem Funkgerät in seiner Tasche. Er überlegte, ob es die Sache wert war, den Kollegen in der Zentrale die Laune mit einer Beschwerde über die lange Verzögerung noch mehr zu verderben. »Er müsste schon längst hier sein.«
Eddie Kemp trug schwarze Gummistiefel mit über die Ränder gerollten Wollsocken, und sein Mantel war lang genug, um seit damals, als er ihn in einem Armeeladen gekauft hatte – höchstwahrscheinlich um 1975 herum –, schon zwei- oder dreimal wieder in Mode gekommen zu sein.
Es sah aus, als wäre er bestens gegen die Kälte gerüstet. Er hatte bestimmt trockene Füße.
»Wir können ja ein Taxi herwinken«, schlug Kemp vor. »Oder wir nehmen den Bus. Haben Sie Kleingeld dabei?«
»Klappe.«
Etwas weiter unten auf der High Street war der Verkehr noch in Bewegung. Autos krochen durch die weißen Wirbel, die an ihren Scheinwerfern vorüberstoben. Eine ältere Dame mit pelzgefütterten Stiefeln suchte sich im Rinnstein einen Weg über den Schnee. Einen Augenblick musste Cooper an seine Mutter denken. Er hatte sich geschworen, am Abend so lange mit ihr zu reden, bis sie begriffen hatte, dass es ihm ernst damit war, aus der Bridge End Farm auszuziehen. Gleich nach Dienstschluss wollte er zu ihr gehen.
»Ich gehe auf keinen Fall den ganzen Hügel da zu Fuß rauf«, sagte Kemp. »Das ist viel zu gefährlich bei dieser Witterung. Ich könnte ausrutschen und mich verletzen. Dann könnte ich Sie verklagen. Ich könnte der Polizei Tausende Pfund abknöpfen.«
Cooper wäre am liebsten ein Stück von Kemps überwältigendem Körpergeruch abgerückt, doch er traute sich weder seinen Griff zu lockern, noch seine Position links hinter dem Gefangenen zu verlassen.
»Halten Sie die Klappe«, sagte er. »Wir warten auf den Wagen.«
Er war sich der Gäste bewusst, die ab und zu aus dem Café herauskamen und die Türglocke auslösten. Zweifellos blieben sie allesamt kurz auf der Schwelle stehen und starrten die beiden Männer auf dem Gehsteig an. Cooper verlagerte das Gewicht. Als er den Fuß aufsetzte, spürte er den Schneematsch in seinem linken Schuh hochquellen.
»Vielleicht ist der Wagen kaputt«, meinte Kemp. »Vielleicht ist er nicht angesprungen. Sie wissen ja, wenn es morgens so kalt ist, ist das die Hölle für diese billigen Autobatterien.«
»Er kommt bestimmt gleich.«
Auf der gegenüberliegenden Seite der Hollowgate befreiten die Ladenbesitzer den Bürgersteig vor ihren Geschäften vom Schnee und schaufelten ihn zu hässlichen Haufen in den Rinnstein. Die Schönheit des Schnees war dahin, sobald ihn ein Fuß oder der erste von einem Lastwagen aufgeworfene Matschschwall berührt hatte. Bei Tagesanbruch wäre er bis zur Unkenntlichkeit besudelt.
»Ich habe übrigens sehr empfindliche Atemwege«, sagte Kemp. »Sehr anfällig für Kälte und Feuchtigkeit, ehrlich. Wenn ich zu lange in dieser Witterung im Freien stehen muss, kann es gut sein, dass ich einen Arzt brauche.«
»Wenn Sie nicht bald den Mund halten, werde ich echt sauer.«
»Hoppla! Was wollen Sie denn machen? Mir einen Schneeball in den Kragen stopfen?«
Ein blinkendes Blaulicht erleuchtete die Fassade des Rathauses am Marktplatz unmittelbar hinter der Kreuzung High Street. Cooper und Kemp schauten zu dem Licht hinüber. Es war ein Krankenwagen, dessen Fahrer sich bemühte, zwischen den kriechenden Autoschlangen voranzukommen.
»Das war schlau«, sagte Kemp. »Erst den Krankenwagen bestellen, bevor Sie mich verprügeln.«
»Halten Sie die Klappe«, schnappte Cooper.
»Wenn Sie mir kurz die Handschellen abnehmen, kann ich auf dem Handy meine Alte anrufen. Dann holt sie den Schlitten raus und spannt die Hunde an. Es sind zwar nur Corgis, aber damit wären wir bestimmt wesentlich schneller.«
Hinter ihnen lachte jemand. Cooper warf einen Blick über die Schulter. Vor dem Café lehnten drei Männer an der Schaufensterscheibe, die Hände in den Taschen ihrer Anoraks und Militärjacken vergraben. Sie trugen schwere Stiefel, einer sogar welche mit Stahlkappen, wie die Sicherheitsstiefel, die Bauarbeiter anhatten, für den Fall, dass ihnen ein Ziegelstein oder ein Teil des Gerüsts auf die Zehen fiel. Drei Augenpaare erwiderten Coopers Blick herausfordernd. Vier Verdächtige, alle männlich, weiß, zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig. Die Verdächtigen führen möglicherweise Baseball-Schläger oder ähnliche Waffen mit sich. Größte Vorsicht bei der Annäherung.
Endlich meldete sich Coopers Funkgerät.
»Tut mir Leid, DC Cooper«, sagte die Stimme aus der Zentrale. »Die angeforderte Einheit wurde durch einen Stau in der Hulley Road aufgehalten. Die Kollegen sind so schnell wie möglich bei Ihnen, aber es kann noch fünf Minuten dauern, meinen sie.«
Einer der Männer an der Scheibe fing an, zwischen seinen behandschuhten Fäusten einen Schneeball zu formen und ihn mit kurzen Handkantenschlägen in eine Handgranate zu verwandeln.
»Verdammt«, sagte Cooper.
Kemp wandte den Kopf und grinste. »Finden Sie nicht, wir sollten wieder reingehen und noch einen Tee trinken?«, fragte er. »Ich glaube, es fängt auch wieder an zu schneien. Hier draußen frieren wir uns noch den Arsch ab.«
Bis zum Morgen war Marie Tennents Körper in seiner Fötusstellung erstarrt und wie ein Tiefkühlhuhn im Supermarkt mit Frost überzogen. In ihren Herzklappen und Blutgefäßen hatten sich Eiskristalle gebildet, ihre Finger, Zehen und die ungeschützten Stellen ihres Gesichts waren durch die Erfrierungen weiß und brüchig geworden.
In der Nacht hatte sich nichts an Maries Körper herangewagt – nicht einmal der Schneehase, der über ihre Beine gehoppelt war und sich auf ihrer Schulter niedergelassen hatte, um sich das Fell zu kratzen. Der zerzauste braune Hase hatte sein tarnendes Winterfell noch nicht angelegt. Er köttelte auf Maries Hals und ließ etliche Fellbüschel, abgestorbene Hautzellen und sterbende Flöhe für den Gerichtsmediziner zurück. Danach lag Marie eine ganze Weile einfach nur da und wartete, so wie sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte.
Am späten Vormittag wäre sie beinahe von einem Peak Park Ranger gefunden worden, aber er kehrte kurz vor dem Gipfel um, weil er sah, dass die blaugrauen Wolken, die über das Bleaklow-Moor zogen, noch mehr Schnee mitbrachten. Er kehrte in den Schutz der Rangerstation im Tal zurück, ohne die kleinere Spur zu bemerken, die einige Meter weiter bergaufwärts plötzlich endete.
Der Neuschnee hatte Maries Leichnam rasch bedeckt und seinen Umriss sanft geglättet. Am späten Nachmittag war sie nur noch eine kleinere Erhebung inmitten der unendlichen weißen Weite, die sich oberhalb des Eden Valley über das Hochmoor erstreckte.
In der Nacht fiel die Temperatur auf den ungeschützten Schneeflächen auf minus sechzehn Grad. Jetzt war es Marie nicht mehr eilig damit, rasch gefunden zu werden. Sie würde hier noch eine Weile ausharren.