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Die Leiche vom Snake Pass war in die Leichenhalle des Krankenhauses von Edendale gebracht worden. Dort lag der Tote zumindest so lange auf Eis, bis er identifiziert werden konnte oder sich jemand meldete, der ihn kannte. Diane Fry hatte DC Murfin vor der Leichenhalle im Auto sitzen lassen, wo er zweifellos damit beschäftigt war, den Haufen Bonbonpapiere auf dem Wagenboden zu vergrößern.

In der Leichenhalle war es wärmer als draußen auf der Straße. Es roch auch besser – nach Desinfektionsmittel und Duftspray, die den Geruch nach Körperflüssigkeiten und Eingeweiden überdecken sollten.

»Solche Kandidaten bekommen wir kaum noch rein«, sagte Mrs Van Doon. »Normalerweise tragen die Leute alle möglichen Ausweise bei sich. Wenn nicht, haben wir ihre Fingerabdrücke, ihre Zahnformel oder ihre DNS. Aber wie ich höre, haben Sie damit bisher keinen Erfolg gehabt? Keine übereinstimmenden Daten?«

»Nichts«, antwortete Fry. »Natürlich haben wir Anfragen losgeschickt, aber seine Beschreibung passt auf niemanden, der uns als vermisst gemeldet wurde.«

»Vielleicht hat noch niemand bemerkt, dass er verschwunden ist.«

»Viele Leute laufen durch die Gegend und kriegen nichts mit«, konterte Fry.

Die Gerichtsmedizinerin warf ihr einen verdutzten Blick zu. »Für mich sieht er nicht wie der typische Durchschnittsvermisste aus«, sagte sie. »Zum einen ist er dafür zu gepflegt und zu gut gekleidet. Seine Schuhe waren teuer.«

»Stimmt. Auf die Schuhe und seine anderen Kleidungsstücke setzen wir am meisten Hoffnung. Sie sind eigentlich sehr bezeichnend.«

»Er war nicht per Anhalter unterwegs. Nicht mit diesen Schuhen. Der Schnee hat sie völlig ruiniert.«

»Nein, ein Tramper war er nicht.«

»Vielleicht ein Autofahrer, dessen Wagen liegen geblieben ist? Vielleicht wollte er ja zu Fuß in die Stadt zurück.«

»Möglich. Bis jetzt konnten wir alle liegen gebliebenen Autos lebenden Eigentümern zuordnen, aber es gibt immer noch etliche Seitenstraßen, zu denen die Schneepflüge noch nicht durchgedrungen sind.«

»Sie klingen trotzdem nicht besonders zuversichtlich.«

»Nein. Bin ich auch nicht.«

»Warum nicht?«

»Sehen Sie ihn sich doch an – wie er angezogen ist. Sie haben selbst gesagt, wie teuer er gekleidet ist. Hätte er sich wirklich in diesem Aufzug zu Fuß auf den Weg gemacht? Ohne Mantel? Warum ist er nicht beim Wagen geblieben und hat gewartet, bis jemand kommt? Wir sind hier schließlich nicht in der Antarktis. Spätestens innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden wäre jemand vorbeigekommen. Und warum hat er nicht übers Telefon Hilfe gerufen? Herrgott noch mal, heutzutage hat doch jedes Schulkind ein Handy. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann wie der hier keines dabei hat.«

»Vermutlich haben Sie Recht. Ich sollte mich lieber auf die medizinischen Tatsachen beschränken und den psychologischen Teil Ihnen überlassen.«

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Fry, die spürte, dass sie die Gerichtsmedizinerin mit ihrer Bemerkung gekränkt hatte.

»Schon gut.«

»Und noch etwas. Wie wahrscheinlich ist es, dass er sich zu Fuß auf den Weg gemacht hat und die ersten Menschen, denen er begegnet ist, zufällig ein paar Straßenräuber waren, die zufällig mitten im Schneesturm über den Snake Pass gefahren sind und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen haben?«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Dann sind wir wohl einer Meinung.«

Fry warf einen Blick auf den Toten. Er war gewaschen und zugedeckt, so dass nur noch das Gesicht zu sehen war. Ihrer Schätzung nach war er etwa dreißig Jahre alt, etwas dicklich um den Hals, sonst aber recht gut in Form. Sein Haar war dunkel, kurz geschnitten und gepflegt, mit ein paar grauen Strähnen an den Schläfen. Die Stoppeln auf seinen Wangen wirkten unpassend; er war der Typ Mann, der normalerweise glatt rasiert ist. Sie betrachtete seine Hände: kräftig, aber ohne Schwielen, die Nägel sorgfältig geschnitten.

»Was ist mit seinen Verletzungen?«, erkundigte sie sich.

»Er hat eine große Bauchwunde am Unterleib. Die Bauchhöhle ist geöffnet, die seitlichen Muskeln sind durchtrennt, und der linke Arm ist oberhalb des Ellbogens fast abgerissen.«

»Das war wohl das Blatt des Schneepflugs, oder?«

»Ich kann nur sagen, dass es sich um einen scharfkantigen, ungefähr drei Meter breiten Metallgegenstand mit einem Gewicht von ungefähr einer halben Tonne gehandelt haben muss«, erwiderte Mrs Van Doon.

»Genau.«

»Außerdem haben wir noch Schürfwunden am Kopf, im Gesicht, auf dem Rücken und an den Beinen, die wahrscheinlich davon herrühren, dass der Tote ein Stück über den Asphalt geschleift wurde. Darüber hinaus habe ich zahlreiche Quetschungen sowie zwei gebrochene Rippen auf der rechten Seite des Brustkorbs festgestellt, die auf einen Sturz zurückzuführen sind.«

»Einen Sturz?«

»Genau. So wie er dalag, würde ich sagen, seine Verletzungen sind darauf zurückzuführen, dass er vom Schneepflug auf die Steinbrocken am Straßenrand geschleudert wurde. Er lag halb auf den Steinen. Ein paar Zentimeter links oder rechts, und er wäre sanfter gelandet, im Schnee oder auf Erdreich.«

»Vermutlich hat ihm das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel ausgemacht.«

»Nein. Sämtliche Verletzungen, die ich aufgezählt habe, hat er post mortem erlitten.«

»Als er schon tot war.«

»Genau das bedeutet post mortem in aller Regel. Sonst würden sich meine Kunden wahrscheinlich beschweren, wenn ich ihnen die inneren Organe entnehme.«

»Dann kommt jetzt die Eine-Million-Pfund-Frage …«

»Sie meinen … woran er gestorben ist?«

»Bingo.«

»Dazu müsste ich noch ein paar Tests durchführen«, sagte die Gerichtsmedizinerin. »Im Gegensatz zu Ihrem Inspector, der auf Vermutungen angewiesen ist, steht mir ein modernes Labor zur Verfügung.«

»Aber…«

»Ich muss mir die Beschaffenheit der Hauptwunde genauer ansehen, bevor ich irgendetwas mit Sicherheit sagen kann.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Konkrete Indizien«, erwiderte Mrs Van Doon und deutete auf eine der Plastiktüten mit der Kleidung des Opfers. »Ihr Inspektor hat sich geirrt, als er sagte, es gäbe kein Blut. Es gab welches, wenn auch nicht viel. Am Unfallort war nichts zu sehen, weil die Kleidung das Blut aufgesaugt hatte. Der Tote trug eine Thermojacke, ein Hemd und einen Baumwollpullover. Eine kleine Menge Blut ist durch all diese Schichten gedrungen und hat Flecken im Futter seiner Anzugjacke hinterlassen, deshalb war äußerlich nichts zu erkennen. Zum Glück war er schon eine Weile tot, als ihn der Schneepflug erwischt hat. Wenn die Hauptwunde stark geblutet hätte, wäre mir womöglich überhaupt nichts aufgefallen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass der Mann bereits eine Verletzung hatte, die von der späteren überdeckt wurde?«

»Genau. Das ist im Moment zumindest eine Theorie, die ich weiterverfolge. Die Schaufel des Schneepflugs hat eine regelmäßige Form. Ich habe mir sagen lassen, dass sie ganz neu ist, was eine sehr hilfreiche Information ist. Die Wunde weist jedoch eine Unregelmäßigkeit auf, die zur Position des Blutflecks auf der Kleidung passt. Wir müssen das aber noch genauer abgleichen. Dazu muss ich tiefer ins Gewebe.«

»Tiefer? Glauben Sie, es handelt sich um einen Messerstich?«

»Gut möglich. Zu welchem Schluss ich gekommen bin, können Sie dann in meinem Bericht nachlesen.«

»Dann wurde der Mann also erstochen und anschließend mit dem Auto dorthin gebracht?«

»Das würde auch besser in Ihren angenommenen Zeitrahmen passen, nicht wahr?«

»Aber als er gefunden wurde, war er schon eine ganze Weile tot…«

»Ja, aber wenn er mit einem Auto dorthin gebracht wurde, lautet die Frage: Wann hat man ihn dort abgeladen? Meiner Meinung nach hätten andere Autofahrer die Leiche sehen müssen – wenn es nicht geschneit hätte. Andererseits war dort nach den Schneefällen wahrscheinlich ohnehin nicht mehr viel Verkehr.«

Fry dachte angestrengt nach. »Falls ihn jemand dort abgeladen hat, muss es schon so heftig geschneit haben, dass niemand mehr freiwillig über den Snake Pass gefahren ist. Deshalb kam auch niemand vorbei, der etwas gesehen haben könnte. Wahrscheinlich waren die Schneewarnlampen am Anfang der Straße bereits eingeschaltet, und die Autofahrer haben wieder kehrtgemacht. Wann die Warnlampen angeschaltet wurden, lässt sich leicht feststellen. Aber das Ganze muss auch passiert sein, bevor die Straße völlig unpassierbar wurde. Bei so schwerem Schneefall bleibt ein Zeitfenster von höchstens einer halben Stunde. Und wir sollten nach einem Fahrzeug mit Allradantrieb suchen. Mit einem anderen Wagen hätte sich da niemand hinaufgewagt, der noch halbwegs bei Verstand ist. Das Risiko, mit einer Leiche im Kofferraum dort oben einzuschneien, wäre zu groß gewesen. Das hilft uns schon ein gutes Stück weiter. Vielen Dank.«

Mrs Van Doon strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und lächelte matt. »So viel kann man aus einem bisschen Blut ableiten«, sagte sie. »Zumindest darin stimme ich mit Ihrem Inspector überein: Blut macht eine Leiche tatsächlich wesentlich ergiebiger.«

Ben Cooper begleitete die Besucher die Treppe hinunter und durch den Flur zur Anzeigenaufnahme. Alison Morrissey ging schnell und sah stur geradeaus, während Frank Baine es jedoch nicht besonders eilig zu haben schien und neugierige Blicke in die Büroräume warf, an denen sie vorbeikamen. Cooper betrachtete Morrisseys schmale schwarze Aktentasche. Er hätte etwas darum gegeben, alle Akten darin an sich nehmen und sich in die Einzelheiten der Geschichte vertiefen zu dürfen, die bei ihrem Termin nicht einmal ansatzweise besprochen worden waren. Die Erklärungen des NO waren zwar einigermaßen brauchbar gewesen, aber sie verrieten nichts über die menschliche Dimension der Tragödie, um die es Alison Morrissey ganz offensichtlich in erster Linie ging.

Doch kaum ertappte er sich bei dem Gedanken, Morrissey würde ihn die Akten vielleicht lesen lassen, wenn er sie darum bat, verwarf er ihn auch schon wieder. Er hatte auch so schon mehr als genug zu tun. Nur weil ihn ein Fall interessierte, hieß das nicht automatisch, dass er sich darum kümmern musste.

Als Cooper den Besuchern die Sicherheitstür aufhielt, drehte sich Morrissey um und sah ihn an. Ihr unverblümter Blick verunsicherte ihn. Er hatte das Gefühl, dass sie direkt in ihn hineinsah, als könnte sie alles über ihn aus seinem Gesichtsausdruck und seinem Verhalten ablesen, was sonst nur sehr wenigen Menschen gelang. Verlegen straffte er die Schultern und spürte, dass er vom Hals aufwärts rot wurde.

»Und was halten Sie davon?«, fragte sie. »Würden Sie nicht auch gern wissen, was damals wirklich passiert ist?«

»Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, mich zu so einem Fall zu äußern«, antwortete Cooper. »Ich tue nur, was man mir sagt.«

Sie betrachtete ihn mit einem skeptischen Lächeln. Anfangs war er sich nicht ganz sicher gewesen, aber jetzt sah er, dass sie tatsächlich hellgraue Augen hatte.

»Das ist schade«, sagte sie.

Cooper hatte das Gefühl, als wäre er gewogen und für zu leicht befunden worden. Er blickte der jungen Frau nach, die jetzt eilig durch die Anzeigenaufnahme ging und mit ihrem schicken schwarzen Kostüm und der Aktenmappe wie eine erfolgreiche Abteilungsleiterin aussah. Frank Baine blieb im Türrahmen stehen.

»Hier meine Visitenkarte«, sagte er. »Falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann.«

Geistesabwesend nahm Cooper die Karte entgegen. »Danke.«

Dann beugte sich Baine vor und deutete grinsend mit dem Kinn auf die Gestalt.

»Denken Sie dran: Wenn die Leidenschaft einer Frau erst mal entfacht ist, kann sie nichts mehr aufhalten«, sagte er.

Die Buchhandlung Eden Valley Books befand sich in Nick i th’ Tor, einer der kopfsteingepflasterten Gassen, die vom Marktplatz zum Viertel um die Eyre Street führten. Der Laden befand sich in einem hohen schmalen Haus, das aussah, als hätte man es nachträglich zwischen zwei wesentlich breitere Gebäude gezwängt, oder wie ein Lückenfüller, bei dem die Architekten der Yorkshire Bank sämtliches Material verbaut hatten, das bei der Errichtung des großen Nachbargebäudes übrig geblieben war. Die ersten beiden Etagen des dreistöckigen Hauses waren für die Bücher reserviert, und nach den winzigen Fenstern im Giebel zu schließen, gab es oben noch ein paar Wohnräume. Ben Cooper fiel wieder ein, dass das Haus sogar einen Keller hatte, der sich bis unter die Straße erstreckte und in dem ebenfalls Bücher untergebracht waren.

Es gab wesentlich modernere Buchläden in Edendale, aber Cooper hatte schon oft bei Eden Valley Books herumgestöbert und war sich sicher, dass er das Gesuchte dort finden würde, auch wenn er nur eine halbe Stunde von seiner Mittagspause abzwacken konnte. Lawrence Daley, der Besitzer, schien sich darauf spezialisiert zu haben, obskure Bücher zu allen möglichen esoterischen Themen zu sammeln.

Die Grundzüge der Schaufenstergestaltung waren noch nicht bis zu Eden Valley Books vorgedrungen. Durch die verschmierte Scheibe konnte Cooper nur ein paar Holzregale erkennen, an denen Reklamezettel für allerlei Veranstaltungen in und um Edendale klebten, die schon vor Monaten stattgefunden hatten. Das Konzert einer Folk-Gruppe, ein parapsychologischer Abend im Gemeindezentrum sowie ein Herbstfest zur Unterstützung des Katzenschutzvereins.

Der Schnee in Nick i’ th’ Tor verwandelte sich zusehends in Matsch, überall rann Wasser über das abschüssige Pflaster Richtung Marktplatz. Die schmale Tür des Buchladens klemmte, so dass Cooper sich dagegen stemmen musste, bis sie schließlich nachgab. Sie erinnerte ihn eher an ein Bollwerk zur Verteidigung als an einen Eingang, insbesondere, als über ihm eine Glocke ertönte und irgendwo im Laden ein nervöses Scharren zu hören war.

Cooper war sofort von Büchern umringt. Gleich hinter der Tür standen sie in langen Regalen aufgereiht, und die winzigen Räume war so voll gestopft, dass man nicht an den Stapeln vorbeikam, ohne sie zu streifen. Weiter hinten türmten sie sich bis zur Decke, stapelten sich auf dem Fußboden und auf der Holztreppe, und zweifellos waren auch die oberen Räume voll damit. Auf einem Tisch sah Cooper eine ganze Reihe von Enid Blytons »Fünf Freunde«-Geschichten sowie ein Jahrbuch von 1945, dessen Einband mit Schimmelflecken gesprenkelt war. Es roch betäubend nach modrigem Papier – Papier, das jahrzehntelang den Mief ungeheizter Steinhäuser an feuchten Berghängen aufgesogen hatte.

»Hallo?«, rief Cooper.

Lawrence Daley trug eine nicht besonders saubere Seidenweste mit ausgefallenem Muster, dazu eine braune Cordhose, die durch das stundenlange Hocken vor den unteren Regalbrettern schlabberig und ausgebeult war. Manchmal hatte Cooper den Buchhändler auch schon mit einer Fliege gesehen, heute trug er jedoch ein kariertes Hemd mit offenem Kragen und hatte die Ärmel über den bleichen Unterarmen hochgerollt. Sein Haar war ungekämmt, und er sah staubig und verschwitzt aus, als herrschte draußen Hochsommer mit tropischen Temperaturen und nicht eisiger Winter kurz vor dem nächsten Schneefall.

»Ich räume gerade ein bisschen die Naturgeschichte auf«, erklärte Lawrence, als er Cooper hinter den Bücherstapeln erspähte. »Manche von diesen Bänden liegen hier schon seit Großmutters Zeiten herum. Hier – da stehen immer noch Preise in Shilling drin. Gestern kam ein Kunde mit so einem an und hat darauf bestanden, nur fünfzehn Pence dafür zu bezahlen. Ich musste nachgeben, denn so stand es auf dem Preisschild, umgerechnet in heutige Währung.«

»Werfen Sie die weg?«, erkundigte sich Cooper und rümpfte die Nase über den muffigen Geruch und die Staubwolke, die in der Luft hing.

»Wegwerfen? Soll das ein Witz sein? Ich kann sie nicht wegwerfen. Sie müssen nur neu ausgepreist werden.«

»Aber wenn sie doch schon hier stehen, seit Ihre Großmutter den Laden betrieben hat…«

»Ich weiß, ich weiß. Man reißt sie mir nicht grade aus den Händen. Aber wenn das mein Ziel wäre, würde ich mir den Laden bis zur Decke mit Harry Potter vollstellen, wie alle anderen Buchhändler. Sie sind doch Detective Cooper, hab ich Recht?«

»Ben Cooper, genau. Ich suche ein Buch über Flugzeugabstürze. Hier in der Gegend liegen so viele Wracks herum, dass bestimmt mal jemand etwas darüber veröffentlicht hat.«

»Gehen Sie nach hinten und links durch den Vorhang, dann ein paar Stufen nach unten, dort müssten Sie eigentlich auf halber Regalhöhe etwas dazu finden«, sagte Lawrence.

»Danke.«

Cooper schlängelte sich durch die Regalreihen, vorbei an Lyrik und Belletristik, an Biographien und Philosophie, bis er bei der Geographie in einer Sackgasse landete. Also wandte er sich bei Bildender Kunst nach links und entdeckte hinter einem Vorhang in einer Nische die Musik, unmittelbar vor der Treppe zum Keller. Auch links und rechts der Treppe waren Regale angebracht. Nach ein paar knarrenden Stufen stand Cooper vor der Luftfahrt. Es wunderte ihn nicht, dass diese Abteilung so schwer zu finden war, da dieses Thema für Eden Valley Books geradezu unpassend modern anmutete. Er spähte in die Dunkelheit am Fuß der Treppe und fragte sich, was Lawrence dort unten noch alles verstaut haben mochte – wahrscheinlich Gebiete wie Computer und Informationstechnologie.

Er fand tatsächlich zwei schmale Bände über Flugzeugwracks im Peak District, genau das, wonach er gesucht hatte.

»Guter Tipp, Lawrence«, sagte er, als er zur Kasse zurückgefunden hatte. »Gleich zwei Stück.«

»Erstaunlich«, meinte Lawrence. »Steht ein Preis drauf?«

»Also … eigentlich nicht.«

Lawrence seufzte. »Dann kann ich ja wohl kaum etwas dafür verlangen.«

»Aber ich bitte Sie!«

»Nicht, wenn kein Preis draufklebt. Das ist gesetzlich verboten.«

»Von solchen Sachen verstehe ich nichts«, sagte Cooper. »Jedenfalls kann ich die Bücher nicht mitnehmen, ohne zu bezahlen.«

»Dann also … fünfzig Pence.«

»Wie Sie meinen.«

Cooper wühlte in seinen Taschen. Er zog die Immobilienprospekte heraus, um weiter unten nach Kleingeld zu suchen. Ausgerechnet jetzt meldete sich auch noch sein Piepser, aber das konnte warten.

»Oha«, sagte Lawrence, »sind Sie in die Fänge der Halsabschneider geraten?«

»Wie bitte?«

»Na ja, Immobilienmakler«, sagte er und zeigte auf die Broschüren. »Wollen Sie ein Haus kaufen?«

»Das kann ich mir nicht leisten«, antwortete Cooper. »Ich suche nur vorübergehend eine Mietwohnung.«

»Aha. Eine eigene Wohnung, hm? Oder ist da irgendwo ein Mitbewohner mit im Spiel?«

»Nein.«

»Und? Schon was gefunden?«

»Nein.«

Cooper reichte ihm die fünfzig Pence, die Lawrence in die Kasse warf, ehe er unter dem Tresen eine gestreifte Papiertüte hervorzog. Cooper betrachtete die Postkarten und Werbebroschüren, die an die Wand geheftet waren. Auf den meisten wurden die Dienste von Schreibagenturen, Hellsehern und Aromatherapeuten angeboten, dazwischen befand sich jedoch eine Anzeige, die ihn näher hinsehen ließ.

»Hier wird eine möblierte Wohnung angeboten«, sagte er. »In der Welbeck Street, unten am Fluss.«

»Ach ja«, sagte Lawrence.

»Das wäre praktisch, für die Stadt. Von dort aus könnte ich zu Fuß zur Arbeit gehen. Auch die Miete klingt vernünftig. Kennen Sie die Vermieterin? Eine Mrs Shelley?«

»Leider ja. Sie ist meine Tante.«

»Tatsächlich?«

»Sie wohnt selbst in der Welbeck Street, und das Haus neben ihrem gehört ihr auch«, sagte Lawrence. »Mein Onkel hat immer davon geträumt, die beiden Häuser abzureißen und ein palastartiges Stadthaus zu errichten. Keine Ahnung, warum – denn die beiden waren immer zu zweit, ohne Kinder.«

»So einen Onkel habe ich auch. Er liebt unvollendete Projekte. Wahrscheinlich fühlt er sich auf diese Weise unsterblich. Er glaubt, dass er auf keinen Fall stirbt, bevor er nicht alle seine angefangenen Sachen zu Ende geführt hat.«

»Bei Onkel Gerald hat das nicht funktioniert. Bevor er auch nur eine einzige Wand einreißen konnte, war er tot.«

»Das tut mir Leid.«

»Tante Dorothy nicht. Sie war selig, dass sie ihn endlich los war, und ließ das Nebenhaus in zwei Wohnungen umwandeln. Das ist ihr hervorragend gelungen. Ich glaube, die Arbeiter sollten mit ihren Vorschlaghämmern die Erinnerung an Onkel Gerald auch gleich kurz und klein schlagen und dann eine dicke Schicht Putz und eine nette Blümchentapete draufkleben.«

»Und eine der Wohnungen steht leer?«

»Jedenfalls stand sie noch leer, als sie mich gebeten hat, den Zettel anzuhängen«, antwortete Lawrence. »Vielleicht ist sie inzwischen auch schon vergeben, Tante Dorothy hat nichts mehr davon erwähnt. Ich habe ihr eingeschärft, darauf zu achten, an die richtigen Leute zu vermieten. Zuverlässige, vertrauenswürdige Leute mit einem festen Job. Manchmal mache ich mir Sorgen, wen sie dort reinlässt, wo sie doch ganz allein lebt.«

»Ich würde mich für die Wohnung interessieren, wenn sie immer noch frei ist«, sagte Cooper.

»Sie entspricht vielleicht nicht ganz Ihren Ansprüchen. Tante Dorothy ist schon ein bisschen verwirrt. Nicht direkt übergeschnappt, verstehen Sie mich nicht falsch, aber sie kommt mit den alltäglichen Kleinigkeiten manchmal nicht mehr so ganz klar.«

Cooper sah sich die Karte noch einmal an. »Zuverlässig und vertrauenswürdig? Was meinen Sie, Lawrence, trifft das auf mich zu?«

»Nein. Aber Sie können ja schwindeln.« Der Buchhändler lachte. Dann streckte er die Hand aus und tätschelte den Cordkragen von Coopers Wachsmantel. »Ich mag übrigens Wetterschutzkleidung«, schmunzelte er. »Normalerweise ziehen sich Polizisten immer so langweilig an. Aber die Mütze steht Ihnen. Sie betont Ihre Augen.«

Cooper wich einen Schritt zurück. »Vielleicht versuche ich es einfach mal«, sagte er. »Mrs Shelley, Welbeck Street 6? Darf ich mich auf Sie berufen?«

Lawrence kicherte in sich hinein. »Glauben Sie mir«, sagte er, »mit Schwindeln kommen Sie weiter.«

Auf dem Weg hinaus fiel Cooper eine in Saffianleder gebundene Ausgabe von Eine Geschichte zweier Städte ins Auge. Es sah fast aus, als wäre Mr Dickens persönlich eines Tages in den Laden spaziert, hätte das Buch auf das Regal gelegt, und seither hatte es niemand mehr in die Hand genommen.

Draußen auf der High Street sah Cooper einen Bus nach Hulley wie ein dunkelblaues Schiff durch den Matsch pflügen. Er schleuderte eine Bugwelle nach beiden Seiten, die die Fußgänger von den Bürgersteigen zu spülen drohte.

Auf dem Weg durch die Einkaufsmeile Clappergate zurück zur West Street klopfte sich Cooper nachdenklich auf die Manteltaschen. In der geräumigen Wilderertasche auf der Innenseite waren die beiden Bücher über die Flugzeugwracks im Peak District verstaut, das eine speziell über die Lancaster SU-V, jenen Absturz, der Alison Morrissey nach Edendale geführt hatte. In einer anderen Tasche steckten die Maklerangebote mit den Eigentumswohnungen, die nicht in Frage kamen. Cooper wusste, dass er eigentlich nicht allein leben wollte. Er zog aus der Bridge End Farm aus, weil er ein starkes Bedürfnis nach Veränderung hatte – das war alles.

Er fragte sich, ob Alison Morrissey allein lebte. Wahrscheinlich nicht. Außerdem ging ihn das ohnehin nichts an. Sie war nur zu Besuch in Edendale und würde bald nach Kanada zurückfliegen, in eine andere Welt, und er würde sie nie wieder sehen. Aber vielleicht durfte er hoffen, dass es irgendwo eine andere Frau gab, die ein bisschen so wie Alison Morrissey war und auf ihn wartete.

Kaltes Grab

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