Читать книгу Kaltes Grab - Stephen Booth - Страница 13
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Das Altstadtviertel von Edendale mit dem wohlklingenden Namen Buttercross hatte einen besonders pittoresken Glanz, der für die Touristen im Lauf der Jahre aufpoliert worden war und seither sorgfältig in Schuss gehalten wurde. Hier drängte sich ein Antiquitätenladen an den nächsten. Manche waren vollgestopft mit schimmernden Mahagonimöbeln und Messinggeschirr, andere wiederum, in deren Schaufenstern lediglich ein paar bunte Flaschen und eine Keksdose zum diamantenen Jubiläum von Queen Victoria standen, sahen trübe und verstaubt aus.
Hier gab es Geschäfte, die Ben Cooper noch nie geöffnet gesehen hatte, obwohl er sein ganzes Leben in und um Edendale verbracht hatte. Auch heute hingen die »Geschlossen«-Schilder in den Türen, ohne jeden Hinweis, wann der Inhaber den Betrieb wieder aufzunehmen gedachte. Vielleicht ließen sich die Besitzer nur zu besonderen Anlässen blicken, an langen Wochenenden etwa, wenn sich die Touristen mit den dicken Brieftaschen durch die Buttercross schoben. Vielleicht verkauften sie an solchen Tagen so viele Flaschen und Keksdosen, dass sie für den Rest des Jahres ausgesorgt hatten. Vielleicht mussten sie aber auch zusätzlich einer richtigen Arbeit nachgehen.
An diesem Nachmittag entsprach Buttercross jedenfalls genau seinem Touristenprospekt-Image. Der Schnee, die verwitterten Häuserwände und die Maßwerkfenster verströmten das passende Dickenssche Flair, um die alten Möbel ins rechte Licht zu rücken. Leider gab es im Januar keine Touristen, die das Ganze hätten gebührend würdigen können.
Zwischen den Läden wand sich unvermutet ein schmales Sträßchen bergauf. Zu beiden Seiten waren für die Fußgänger Handläufe in die hohen Kalksteinmauern eingelassen, dafür gab es keinen Bürgersteig. Die Mauern waren ursprünglich aus dem traditionellen Trockenstein errichtet worden, wurden jetzt jedoch von Mörtel zusammengehalten, aus dessen Ritzen Immergrün wucherte – einsame grüne Stängel, von gefrorenem Schnee umhüllt.
Gavin Murfin wurde gegen die Tür von Coopers Toyota geworfen, als sie über das Kopfsteinpflaster holperten, scharf abbogen und die nächste steile Gasse in Richtung Underbank hinauffuhren. Hier oben waren die Straßen sogar noch schmaler. An den Türen hingen kleine Klopfer in Gestalt von Eulen und Füchsen, während die Hausnummern auf bunten Fliesen in den Stein eingelassen waren. Weiter oben, unweit der Jugendherberge, stand eine Reihe dreistöckiger Häuser aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Einige davon waren in Mietswohnungen umgewandelt worden, nur das Letzte sah unbewohnt und heruntergekommen aus. Ein zerbrochenes Fenster im ersten Stock war bis zum heutigen Tag nicht repariert worden.
Die Beeley Street war kaum mehr als eine schmale Gasse ohne feste Fahrbahndecke und gerade breit genug für ein Auto. Cooper und Murfin gingen das letzte Stück zu Fuß und überquerten eine kleine schneebedeckte Grasfläche.
»Das ist jedenfalls Eddie Kemps Wagen«, sagte Murfin. »Den habe ich schon oft in der West Street gesehen.«
Es war ein silberfarbener Isuzu Trooper, auf dessen Dachgepäckträger mehrere Leitern festgeschnallt waren. Er parkte mit der Schnauze bergab in Richtung Buttercross auf einer leicht erhöhten Betonrampe vor Kemps Haus. Die Müllmänner hatten einen neuen Plastiksack hinter das Speirohr neben der Tür geklemmt. Obwohl die Straßen inzwischen frei waren, würden sie so bald nicht wieder hier heraufkommen.
Eddie Kemp öffnete persönlich die Tür.
»Ach, Sie sind’s«, sagte er. »Ich beantworte keine Fragen mehr.«
»Ist das Ihr Wagen, Sir?«, fragte Cooper.
»Sind Sie taub? Ich hab eben gesagt, dass ich keine Fragen mehr beantworte.«
»Ich kann auch über das Kraftfahrzeugamt überprüfen lassen, ob Sie als Eigentümer eingetragen sind.«
»Warum denn? Ist was nicht in Ordnung damit?«, wollte Kemp wissen.
»Ich weiß nicht, Sir. Ist denn etwas damit nicht in Ordnung? Sollen wir mal einen Blick darauf werfen, wo wir schon mal hier sind?«
»Nein.«
»Flotte Kiste«, sagte Murfin gut gelaunt. »Bestimmt sehr praktisch.«
»Ihr wisst doch auch so, dass das mein Wagen ist«, sagte Kemp. »Alle Bullen wissen das. Ich parke jedes Mal ordentlich auf eurem Parkplatz, wenn ich die Fenster putzen komme.«
»Allradantrieb, oder?«, fragte Cooper.
»Klar.«
»Fährt sich gut im Schnee.«
»Muss er ja.«
»Sind Sie am Montagabend mit diesem Wagen gefahren, Sir?«
»Er hat hier gestanden.«
»Seit wann?«
»Hat jemand gesagt, ich wäre damit rumgefahren?«
»Das ist keine Antwort.«
»An Ihrer Stelle würde ich Detective Cooper antworten«, sagte Murfin. »Wenn er sauer wird, nennt er Sie nicht mehr ›Sir‹. Und das kann ziemlich hässlich werden.«
Cooper stieg auf die Rampe und betrachtete sich die Reifen des Isuzu. Daraus ließen sich zwar keinerlei Rückschlüsse ziehen, aber das wusste Kemp nicht.
»Wann machen Sie für gewöhnlich Feierabend, Sir?«, fragte er.
»Wenn es dunkel wird.«
»Zurzeit also gegen Viertel nach vier. Sind Sie am Montagabend gleich nach der Arbeit nach Hause gefahren?«
»Ich habe Frau und Kind«, antwortete Kemp. »Die wollen mich ab und zu mal sehen.«
»Darf ich das als ›Ja‹ verstehen?«
»Verstehen Sie’s, wie Sie wollen. Was suchen Sie überhaupt hier?«
Murfin zeigte auf die Straße in Richtung Buttercross. »Ich hatte hier in der Gegend mal eine Freundin. Ich glaube, da hinten an der Ecke war ein kleiner indischer Imbiss, neben dem Friseur. Gibt’s den noch?«
»Ja, der ist noch da«, erwiderte Kemp.
»Und wann macht er auf?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
An den Reifen des Isuzu klebte Schlamm, und im Profil steckten kleine Steinchen, während sich braune Dreckschlieren über die Seiten des Wagens zogen. Cooper arbeitete sich nach hinten und spähte durch die Heckscheibe ins Wageninnere.
»Wann genau sind Sie am Montag weggegangen, Sir?«, fragte Cooper.
»Ich war noch eine Weile im Pub«, sagte Kemp. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»In welchem Pub?«
»The Vine. Das habe ich doch gestern alles schon gesagt.«
»Haben Sie sich dort mit Ihren Freunden getroffen?«
»Ich habe viele Freunde«, sagte Kemp.
»Tatsächlich?«
»Einige von denen trinken auch im Vine.«
»Gibt es dort auch was zu essen?«, erkundigte sich Murfin.
Kemp trat auf die Rampe und stellte sich neben Cooper – weniger, weil er dessen Gesellschaft suchte, sondern eher, um Murfin zu entgehen. Kemp war drei oder vier Zentimeter kleiner als Cooper, aber recht kräftig gebaut. Beide schauten durch die Heckscheibe in den Isuzu. Dort standen Eimer, Schwämme und Plastikwannen mit Kleidern und Fensterledern. Außerdem lagen zwei Rollen steifer blauer Plastikplane darin, jede ungefähr einen Meter zwanzig lang und schmutzig.
»Wofür benutzen Sie die Planen?«, fragte Cooper.
»Da stelle ich die Leitern drauf, damit ich den Leuten ihre schicken Bodenbeläge nicht kaputtmache und so.«
»Wann sind Sie am Montag aus dem Pub nach Hause gekommen?«
»Als er zugemacht hat. Hab ich doch schon gesagt.«
»Sind Sie danach noch einmal mit dem Wagen weggefahren?«
Kemp schwieg. Als er sich an den Wagen lehnte, sah Cooper frischen Schorf auf den Knöcheln seiner Handgelenke. Inzwischen stand er ziemlich dicht neben Eddie und stellte fest, dass die eiskalte Luft wahre Wunder bewirkte, was die Reinigung der Nasenhöhlen und die Schärfung des Geruchssinnes betraf. Cooper dachte an die Leute, die behaupteten, die Aura anderer Menschen sehen zu können. Konnte man Auren auch riechen? Wenn ja, dann wäre Eddie Kemps Aura vermutlich gallig grün und von gelben Streifen durchzogen, wie Erbsensuppe mit Zimt.
»Sind Sie mit Ihren Freunden noch ein Stück die A57 raufgefahren?«, fragte Cooper.
Kemp schwieg noch immer.
»Wer von Ihren Freunden war dabei? Die, mit denen Sie sich im Vine getroffen haben? Haben Sie in dieser Nacht noch mehr als nur zwei Opfer gefunden? Ist irgendwas schief gelaufen?«
Kemp trat den Rückzug in Richtung Haus an.
»Können Sie uns wenigstens eine gute Frittenbude empfehlen?«, sagte Murfin, als Kemp an ihm vorbeikam.
»Wir müssen Ihren Wagen mitnehmen, um ihn uns genauer anzusehen, Sir«, rief ihm Cooper nach.
Kemp schob eine Hand in die Hosentasche, drehte sich um und warf einen Schlüsselbund auf die Betonrampe.
»Wenn Sie schon dabei sind, können Sie ihn auch gleich waschen«, knurrte er und knallte die Haustür hinter sich zu.
Ben Cooper und Gavin Murfin saßen in Coopers Toyota und warteten auf den Abschleppdienst. Es war kalt und wurde allmählich dunkel. Cooper ließ den Motor laufen, damit sie die Heizung anstellen konnten, und fragte sich, was er mit der Wartezeit anfangen sollte. Er sah zu Murfin hinüber, der jedoch den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und die Augen geschlossen hatte, sobald sich die Wärme im Wageninneren ausbreitete. Sein Mund stand leicht offen. Von ihm war keine Unterhaltung zu erhoffen.
Cooper versuchte es mit dem Radio. Auf Radio Four lief eine gesellschaftspolitische Diskussion, auf Radio Sheffield eine Telefonaktion, und Peak 107 brachte Pophits der Achtziger. Er wühlte in seinen Kassetten, fand aber nichts, was er in den vergangenen paar Tagen nicht schon mehrfach gehört hatte. Dann fielen ihm die Bücher ein, die er bei Lawrence Daley gekauft hatte und die immer noch in den Tiefen seiner Wilderertasche vergraben sein mussten.
Er knipste die Innenbeleuchtung an und blätterte in den Inhaltsverzeichnissen der beiden Bücher, ehe er auf das Kapitel mit der Bruchlandung von Lancaster SU-V, Sugar Uncle Victor, stieß. Sie war eine von vielen Maschinen, die über dem Peak District ihrer primitiven Navigationsausrüstung und den tückischen Wetterverhältnissen zum Opfer gefallen waren. Einige davon waren Flugzeuge, die sogar die Deutschen nicht hatten vom Himmel holen können – die Berge des Dark Peak hatten es geschafft.
Ironischerweise war die Mk III Avro Lancaster W5013 ganz in der Nähe gebaut worden, im Werk von Metropolitan Vickers in Bamford. So hatte sie ihre Tage nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt beendet, an dem sie entstanden war. Auf einer neueren Aufnahme des Wracks sah Cooper, dass noch immer etliche größere Trümmer auf dem Berg lagen – ein Teil des Hecks, ein Stück Flügel sowie die Motorengehäuse, wenn auch ohne Propeller.
Wie Frank Baine hatte auch der Autor dieser Bücher aufwändig recherchiert und lieferte umfassende Einzelheiten über die Besatzungsmitglieder. Es hatten sich sieben Männer an Bord der Lancaster befunden – vier britische Flieger, zwei Polen und der kanadische Pilot, Danny McTeague.
Der Bombenschütze und der Heckschütze, die Sergeants Bill Mee und Dick Abbott, wurden tot in einiger Entfernung von der Maschine gefunden. Der Text beschrieb sie als »stark verstümmelt«, doch Cooper entging der Euphemismus nicht. Diese Formulierung wurde heute noch bei offiziellen Erklärungen der Presse gegenüber verwendet, wenn es sich um Opfer schwerer Verkehrsunfälle oder um Selbstmord auf den Schienen handelte. Das hieß, dass sie völlig zerstückelt waren. Der Funker, Sergeant Harry Gregory, und der Schütze in der oberen Kuppel, Sergeant Alec Hamilton, hatten sich nicht aus dem Wrack befreien können und waren in den Flammen umgekommen, die den mittleren Abschnitt des Rumpfs verzehrt hatten. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und anhand der Uniformen unter ihren Fliegerkombinationen und ihres Tascheninhalts identifiziert worden, nachdem man die Toten in die Leichenhalle der Royal Air Force nach Buxton überstellt hatte.
Cooper ließ das Buch sinken. Er fragte sich, ob Alison Morrissey die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, dass eine der Leichen falsch identifiziert worden war. Vielleicht war ihr Großvater doch bei dem Absturz ums Leben gekommen, vielleicht hätte man die ganze Zeit nach einem anderen Besatzungsmitglied fahnden sollen. Seine Gedanken wanderten zu Fliegerleutnant Zygmunt Lukasz, dem Bordingenieur, der überlebt hatte und heute achtundsiebzig Jahre alt war.
Gavin Murfin regte sich und grunzte leise, dann schlug er die Augen auf.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»Underbank«, antwortete Cooper. »Wir warten auf den Abschleppwagen.«
»Hier um die Ecke ist ein guter Inder, wo es auch Sachen zum Mitnehmen gibt«, sagte Murfin. Dann schnaubte er, und sein Kopf sank wieder zurück.
Wetterbedingungen und primitive Ausrüstung – Cooper vermutete, dass so die Standarderklärung für viele dieser Unfälle lautete. Sonst ließ sich der Absturz von Sugar Uncle Victor nicht erklären – die Maschine flog viel zu tief und befand sich nicht auf ihrem vereinbarten Kurs. Im Buch wurde jedoch angedeutet, dass der Grund für die Kursabweichung auch darin liegen konnte, dass der Pilot die Anweisungen des Navigators nicht beachtet hatte. Handelte es sich also lediglich um einen dieser Piloten, die zwischen ansteigendem Gelände und tief hängender Wolkendecke in die Falle gerieten? Hatte er unvermutet direkt vor sich Berge auftauchen sehen, wo er sich doch schon kurz vor dem Heimatflugplatz in Nottinghamshire glaubte? Oder war etwas anderes schief gegangen?
Einer der Augenzeugen, die zum Schicksal von Sugar Uncle Victor zitiert wurden, war Walter Rowland, ein ehemaliges Mitglied der RAF-Bergrettung – der Mann, den auch Alison Morrissey erwähnt hatte und der sich ebenso wie Zygmunt Lukasz weigerte, mit ihr zu reden. Wollte oder konnte er nicht? Im Buch stand, Rowland sei zur Zeit des Absturzes achtzehn Jahre alt gewesen. Nach so langer Zeit verblasst die Erinnerung. Andererseits gab es Erinnerungen, die allzu deutlich waren, um daran zu rühren.
»Noch nichts zu sehen?«, fragte Murfin.
»Nein.«
»Das ist nicht gut, Ben. Ich träume schon von Curry. Ich muss unbedingt herausfinden, ob dieser Inder offen hat.«
»Von mir aus. Ich bleibe hier, bis du wiederkommst.«
»Willst du auch was?«
»Nur ein Fladenbrot.«
»Mehr nicht? Davon kann doch niemand leben.«
»Das hatte ich auch nicht vor.«
Murfin stieg aus, und Cooper beobachtete, wie er die Straße hinunterstolperte und sich vorsichtig am Handlauf festhielt, um nicht zu stürzen. Falls er es mit mehreren Gerichten und einer Tüte Fladenbrot heil zurückschaffte, grenzte das an ein Wunder.
Cooper schaute auf sein Handy und versuchte sich zu erinnern, was Frank Baine gesagt hatte. Wo wohnte Alison Morrissey? Aber es fiel ihm einfach nicht mehr ein. Es gab nicht allzu viele Hotels in Edendale, außerdem konnte er Baine am Morgen anrufen. Bei dieser Gelegenheit konnte er den Journalisten gleich nach der Adresse von Walter Rowland fragen.
Cooper lachte leise auf. Diese ganze Geschichte ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, als hätte er vor, dieses siebenundfünfzig Jahre alte Rätsel zu lösen. Wie lächerlich. Der Chief hatte die Kanadierin schon wieder nach Hause geschickt, und das zu Recht. Sie hatten absolut keine Zeit, sich mit sinnlosen Nebenprojekten zu beschäftigen, weder er noch sonst jemand. Was brachte es ihm also, wenn er wusste, in welchem Hotel Alison Morrissey abgestiegen war? Wozu sollte er Walter Rowland aufsuchen?
In der Überzeugung, das Kapitel Sugar Uncle Victor damit abgeschlossen zu haben, blätterte Cooper um und betrachtete die Aufnahmen, die kurz nach dem Absturz von dem Wrack gemacht worden waren. Teile des zerborstenen Rumpfes lagen im Schnee, wo sie von Polizisten und Militärangehörigen in langen Mänteln untersucht wurden. Auf einem Bild waren deutlich die Buchstaben SU-V auf der Flugzeughülle zu erkennen. Im Hintergrund war nichts vom Irontongue Hill zu sehen, doch der Fotograf hatte eine Panoramaaufnahme über das Hochmoor bis hin zum in der Ferne schimmernden Blackbrook-Reservoir gemacht, so dass hinsichtlich der Örtlichkeit kein Zweifel bestand.
Mit der nächsten Fotoserie nahm die Geschichte mit einem Mal eine menschliche Dimension an. Auf dem ersten Foto war die Besatzung der Lancaster vollzählig versammelt: sieben junge Männer in Irving-Anzügen und Fliegerstiefeln, mit hochgeschlagenen Fellkrägen und umgehängten Kopfhörern. Sie standen vor dem Rumpf eines Flugzeuges, wahrscheinlich der Uncle Victor. Die Sonne stand tief und fiel direkt auf die Männer, was ihre Augen schmal und ihre Gesichter blass wirken ließ, wie bei Bergleuten, die gerade erst wieder ans Tageslicht gekommen waren. Sie wirkten erschöpft, setzten jedoch für die Kamera ein Lächeln auf.
Cooper fand seinen Vergleich mit den Bergleuten nicht unpassend, denn die Arbeit unter gefährlichen Bedingungen schmiedete ein Band zwischen Männern, das nur schwer wieder aufzulösen war. Diese jungen Flieger hatten Tausende von Kilometern auf engstem Raum und unter schwierigen Bedingungen zurückgelegt, Nacht für Nacht über feindlichem Gebiet, ohne zu wissen, ob sie jemals wieder zu ihrem Heimatflughafen zurückkehren würden. Und keiner von ihnen sah älter aus als Anfang zwanzig.
Daneben war eine Aufnahme des Bodenpersonals und der Waffenwarte, die das Flugzeug für den nächsten Einsatz bereitmachten. Es war die Lancaster, wie man deutlich an dem Pfandleiherzeichen auf der Nase der Maschine erkennen konnte; damals war »Onkel« eine weit verbreitete scherzhafte Bezeichnung für Pfandleiher. Cooper fiel auf, dass das Bodenpersonal keine einheitliche Uniform anhatte – die Männer trugen Lederjacken, Fellstiefel, Gummistiefel, Felduniformen, Ölzeug, Waffenröcke, Schals, Fausthandschuhe, Fingerhandschuhe und wollene Balaklavas.
Auf der gegenüberliegenden Seite war das stimmungsvollste Bild. Es war im Inneren des Flugzeuges aufgenommen und an den Stellen, wo das Negativ verschmutzt gewesen war, grobkörnig und fleckig. Die gewölbte Hülle des Flugzeugs war zu erkennen, außerdem die Beschriftung einer Elsan-Chemietoilette. Im Vordergrund stand ein halb der Kamera zugewandtes Besatzungsmitglied. Die Sergeanten-Streifen auf dem Ärmel waren deutlich zu erkennen, und er trug eine lederne Fliegerhaube und einen Fallschirmgurt über der Uniform, als machte er sich gerade zum Absprung bereit.
Doch der Flieger war mit Sicherheit noch fast ein Junge. Es gab keine Bildunterschrift, und er ließ sich nur schwer als einer der Männer auf der Seite gegenüber identifizieren. Die Aufnahmen mussten zu verschiedenen Zeitpunkten gemacht worden sein, denn dieser junge Mann hatte einen zarten Schnurrbart, wohingegen der einzige Flieger auf dem Gruppenfoto mit Schnurrbart als der Pilot, Danny McTeague, angegeben wurde. Das hier war nicht McTeague. Dieser junge Mann besaß eine vorspringende Nase und ein schmales Gesicht, und unter seinem Fliegerhelm lugte eine dunkle Haarsträhne hervor, die ihm in die Stirn fiel. Cooper nahm an, dass es sich um Sergeant Dick Abbott handelte, den Heckschützen, der damals erst achtzehn Jahre gewesen war. Die anderen hatten ihn Lofty genannt, weil er nur einsfünfundsechzig groß war.
Cooper betrachtete das Foto lange und vergaß völlig, zu den vielen anderen Flugzeugen weiterzublättern, die am Dark Peak verunglückt waren. Es kam ihm vor, als wollte der junge Flieger über die Kluft von über fünf Jahrzehnten hinweg mit ihm in Verbindung treten. Vor noch nicht allzu langer Zeit war er selbst so alt wie dieser Junge gewesen. Cooper versetzte sich unwillkürlich in die Lage des jungen Mannes. Er spürte die Fallschirmriemen an den Schultern und den derben Uniformstoff auf der Haut, hörte das Dröhnen der vier Merlin-Motoren und spürte das Vibrieren der primitiven Maschine, die ihn in die Lüfte tragen würde. Er war erst achtzehn Jahre alt, und er hatte Angst.
Ben Cooper bemerkte kaum, wie sich der Abschleppwagen mit blinkenden Warnlichtern und bullerndem Dieselmotor durch die enge Beeley Street schob. Er war so damit beschäftigt, seine Gefühle zu ordnen, dass er zuerst nicht hörte, wie Gavin Murfin an die Scheibe klopfte, weil er mit den tropfenden Behältern im Arm die Tür nicht aufbekam.
Kaum hatte sich Murfin auf den Beifahrersitz gezwängt, füllte sich das Wageninnere mit dem Duft von Curry und Kochreis. Der Dampf aus den Behältern ließ die Fenster beschlagen, bis die Beeley Street und Eddie Kemps Isuzu beinahe vollständig im Dunst verschwanden.
»Hier ist dein Fladenbrot«, sagte Murfin. »Wenn du willst, kannst du es gern bei mir einstippen.«
Doch die Tüte blieb ungeöffnet auf Coopers Schoß liegen, das Fett drang durch das Papier bis zu seinem Mantel.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass es der Ausdruck in den Augen des jungen Mannes war, der ihn so deutlich von den Männern auf dem Gruppenbild unterschied, weshalb man ihn zwischen den posierenden, lächelnden Helden auch nicht wieder erkannte. Es war der ausdruckslose, leere Blick eines Mannes, der keine Ahnung hatte, ob er die nächste Nacht überleben und heil wieder zurückkehren würde. Der Blick des jungen Mannes erzählte von der Aussicht, im Maschinengewehrfeuer eines deutschen Nachtjägers zu sterben, oder davon, dass die Motoren der Lancaster womöglich versagten und sie in der eisigen Nordsee notlanden mussten. Der Bildunterschrift zufolge waren die Lancasters dafür berüchtigt, dass man nur schwer aus ihnen herauskam, sobald sie erst einmal im Wasser waren.
In Wahrheit ließen der gehetzte Blick und die grobkörnigen Grautöne des Bildes den Flieger fast aussehen, als sei er schon nicht mehr da. Es hätte einfach ein verblasstes Porträt sein können, das jemand in die Aufnahme des Flugzeuginneren hineinkopiert hatte, oder das Ergebnis einer versehentlichen Doppelbelichtung.
Ben Cooper hatte den Eindruck, als hätte der Fotograf eine Art Vorahnung oder ein böses Omen festgehalten, einen kurzen Blick in die Düsternis der nahen Zukunft. Mit seinen achtzehn Jahren sah Sergeant Dick Abbott aus wie sein eigener Geist.