Читать книгу Kaltes Grab - Stephen Booth - Страница 7

Оглавление

2

Detective Sergeant Diane Fry wusste, dass sie eines Tages unter einer Lawine sterben würde – einer Lawine sinnloser Büroarbeit. Es wäre ein tragischer Unfall, das Resultat einer instabilen Aktenablage, die unter dem Gewicht der hoch aufgetürmten Zeugenaussagen zusammenbrach. Der Erdrutsch würde ihren Schreibtisch samt Stuhl mit sich reißen und an der Wand ihres Büros zermalmen. Es würde Tage dauern, bis die Suchtrupps ihre Leiche entdeckten, und dann wäre sie bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert, sämtliche Knochen genauso platt wie jetzt schon ihr Hirn, auf dem der ganze Papierkram wie Blei lastete.

Die Papierstapel erinnerten sie an etwas. Sie wandte den Kopf, schaute aus dem Fenster und kniff die Augen zusammen, um durch die Streifen auf der beschlagenen Fensterscheibe zu blicken. Genau. Schnee, der sich draußen so hoch und weiß wie der Papierkram auf ihrem Schreibtisch türmte. Sie konnte nicht sagen, was schlimmer war.

Plötzlich spürte sie einen warmen Hauch. Er kam von dem lautstarken Heizlüfter, den sie am Morgen aus der Spurensicherung hatte mitgehen lassen, bevor die Kollegen zur Arbeit erschienen waren. Vielleicht war ja der Papierkram doch einen Deut angenehmer als der Schnee. Zumindest durfte sie im Warmen sitzen. Nur Masochisten und Wahnsinnige spazierten an so einem Morgen freiwillig durch Edendale. Zum Beispiel Ben Cooper. Sie zweifelte nicht daran, dass Cooper sogar jetzt auf seinem Ein-Mann-Kreuzzug gegen das Verbrechen draußen herumlief und tapfer den Eiszapfen trotzte, die an seinen Ohren hingen.

Die Kollegen von der Spurensicherung würden das Gebäude schon bald nach dem verschwundenen Heizlüfter durchkämmen. Früher oder später musste Diane sich wieder von ihm trennen, es sei denn, sie versteckte ihn, wenn sie das Suchkommando kommen hörte. Die Kriminaltechniker erkannte man schon von weitem an ihrem Knurren. Aber der Lüfter war die einzige Wärmequelle im ganzen Raum. Fry legte eine Hand auf den Heizkörper an der Wand, der höchstens lauwarm war. Er fühlte sich an wie eine Leiche, die noch nicht ganz kalt war, aber bereits in die Leichenstarre überging. Für diese Erkenntnis brauchte man nicht erst einen Gerichtsmediziner zu konsultieren. Das Ding war seit mindestens zwei Stunden tot.

Fry reckte witternd die Nase in die Luft. Eine Duftwolke, die nach Würstchen mit Tomatensoße roch, schwebte ins Zimmer und senkte sich auf den Einbruchsbericht, der aufgeschlagen vor ihr lag. Gerüche wie dieser waren daran schuld, dass die Wände dieses eigentümliche Grün annahmen und die Fliegen tot auf die Innenseite der Verkleidungen der Leuchtstoffröhren fielen, wo sie schon seit Monaten vor sich hinbrutzelten.

»Gavin«, sagte sie.

»Hmm?«

»Wo bist du?«

»Mmm-mmpf-mm.«

»Ich weiß, dass du hier irgendwo bist. Ich kann dich riechen.«

Über einem Schreibtisch tauchte ein Kopf auf. Rotblondes Haar, ein rosiges Gesicht und Tomatensoße auf der Oberlippe. Detective Constable Gavin Murfin war Diane Frys derzeitiger Fluch – nicht so launisch wie Ben Cooper, dafür war bei ihm die Gefahr umso größer, dass er Currysoße auf den Boden ihres Wagens kleckerte. Außerdem war er übergewichtig. Als Mann in den Vierzigern sollte er dringend darüber nachdenken, was er seinem Herzen antat.

»Ich dachte, ich mach eine kleine Frühstückspause«, mampfte er.

»Würdest du das bitte in der Kantine erledigen?«

»Geht nicht.«

Fry seufzte. »Ach ja, das habe ich ganz vergessen.«

»Wir haben keine mehr. Wir müssen uns selber behelfen. Steht jedenfalls auf allen schwarzen Brettern. Jetzt arbeite ich schon zweiundzwanzig Jahre hier, und plötzlich nehmen sie uns die Kantine weg.«

»Wo hast du bloß dieses widerliche Würstchen im Brotteig her?«

»Vom Bäcker auf der West Street«, antwortete Murfin. »Hättest du was gesagt, dann hätte ich dir was mitgebracht.«

»Nein danke! Ist dir klar, wie viel Cholesterin in diesem Ding steckt? Genug, um deine Arterien so zu verstopfen, dass du innerhalb von fünf Minuten tot umfällst.«

»Ach was! Bei meinem Glück…«

Der Geruch von gebratenem Fleisch stellte merkwürdige Dinge mit Diane Frys Magen an. Er zog sich zusammen und zuckte vor Abscheu, als wäre Nahrung etwas völlig Undenkbares und Widerliches.

»In der Wurst ist auch noch Knoblauch«, stellte sie fest.

»Stimmt. Aber den muss man extra bestellen.«

Detective Inspector Paul Hitchens öffnete die Tür. Er schien etwas zu Fry sagen zu wollen, besann sich jedoch offenbar eines Besseren, machte einen Schritt ins Zimmer und blickte sich um.

»Tomatensoße? Knoblauchwurst?«, fragte er schnüffelnd.

»Mmm«, antwortete Murfin und wischte sich den Mund mit einem Blatt von einem Notizblock ab. »Frühstück, Sir.«

»Passen Sie ja auf, dass nichts auf die Akten tropft, Gavin. Beim letzten Mal dachte die Staatsanwaltschaft, wir hätten ihnen echte Blutflecken geschickt, nur um ihnen zu beweisen, dass wir über dem Fall Blut und Wasser geschwitzt haben.«

Fry sah zu Murfin hinüber. Er grinste. Er war glücklich. Sie hatte schon häufiger bemerkt, dass Essen auf manche Menschen diese Wirkung hatte. Auch DI Hitchens war in letzter Zeit ein bisschen weniger flott angezogen und dafür etwas fülliger um die Hüften. Dabei war er erst vor vier oder fünf Monaten mit seiner Freundin, einer Krankenschwester, zusammengezogen. Es war deprimierend, wie genau man voraussagen konnte, ab wann sich ein Mann gehen ließ, sobald er einen Hauch Familienluft geschnuppert hat.

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Ben Cooper angerufen hat«, sagte der Inspector.

»Erzählen Sie mir bloß nicht, dass er sich der Krankenbrigade angeschlossen hat«, erwiderte Fry und ließ den Blick über die verwaisten Schreibtische vor ihr wandern. Urlaub, Fortbildungskurse, Versetzungen und Krankheit verwandelten das Büro der Kriminalpolizei allmählich in die Tribüne bei einem Heimspiel des FC Edendale. »Was ist mit Ben? Maul- und Klauenseuche? Beulenpest?«

»Nein. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern, dass sich Ben irgendwann auch nur einen Tag krank gemeldet hätte.«

»Dann kann er wohl wegen des Schnees nicht zur Arbeit kommen. Tja, selber schuld, wenn man im letzten Winkel wohnen muss.«

»Deshalb hat er sich ja diesen Jeep mit Vierradantrieb angeschafft«, sagte Hitchens. »Er sagt, damit kommt er überall durch, wo andere Leute stecken bleiben.«

»Und wo ist dann das Problem?«, erkundigte sich Fry ungeduldig.

»Nirgends. Er hat auf dem Weg ins Büro jemanden festgenommen.«

»Was?«

»Er hat sich einen der Verdächtigen zu dem tätlichen Angriff geschnappt. Sieht so aus, als sei Cooper schon früh in die Stadt gefahren und hätte sich unterwegs die Tagesberichte durchgeben lassen. Er wollte vor dem Dienst noch einen Kaffee trinken, und dabei hat er Kemp im Starlight Café getroffen und gleich festgenommen. Gute Arbeit, was? So sollte man jeden Tag anfangen!«

»Das sieht Ben wieder mal ähnlich«, kommentierte Murfin. »Immer im Dienst, der Bursche. Nicht mal beim Frühstück vergisst er die Arbeit. Ich würde auf die Dauer Verstopfung kriegen.«

»Du kriegst Verstopfung, weil du nicht gewissenhaft arbeitest, Gavin«, sagte Fry.

»Vorsicht, sonst wird Oliver böse.«

Oliver war der Gummihummer auf Murfins Schreibtisch, der auf Knopfdruck Auszüge aus alten Popsongs mit irgendwelchen nautischen Themen sang. »Sailing«, »Octopus’s Garden«, »Sittin’ on the Dock of the Bay«. Eines Tages würde ihn Fry noch zu Hummerpastete verarbeiten und auf einem Sandwich an Murfin verfüttern.

»Jetzt schau sich mal einer dieses Wetter an«, sagte Hitchens. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

Fry blickte wieder aus dem Fenster. Der Wind blies kleine Schneewirbel von den benachbarten Dächern, die gegen die Scheiben klatschten, dann am Glas herunterrutschten und den Schmutz auf der Außenseite verschmierten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es zu Hause in Birmingham je geschneit hätte, jedenfalls nicht richtig. Zumindest war der Schnee nicht liegen geblieben, und ganz bestimmt hatte er sich nicht knietief aufgetürmt. Vielleicht hatte es ja etwas mit der Wärme zu tun, die von dem großflächigen Gewirr aus Schnellstraßen und Wohntürmen aufstieg. Ihre ehemalige Dienststelle in den West Midlands stellte für sie inzwischen eine schöne Erinnerung dar, jedenfalls immer dann, wenn sie in diese primitive arktische Öde hinausblickte, in die sie sich selbst verbannt hatte. Sie hatte Birmingham verlassen, ohne sich von den Kollegen zu verabschieden. Sie hätte ebenso gut sagen können: »Ich geh mal raus. Kann ein bisschen länger dauern.«

»Wenigstens einen Vorteil hat der Schnee«, stellte Inspector Hitchens fest. »Er senkt die Verbrechensrate.«

Irgendwo unter Diane Frys Papierbergen klingelte das Telefon.

In Grace Lukasz’ Bungalow am Stadtrand von Edendale war die Zentralheizung in allen Zimmern voll aufgedreht. Seit dem Unfall konnte Grace Kälte nicht mehr ertragen. Inzwischen bestand sie sogar im Sommer darauf, Fenster und Türen geschlossen zu halten, damit auf keinen Fall Zugluft entstehen konnte. Ihre Bewegungslosigkeit war verantwortlich dafür, dass sie an diesen Wintertagen die Kälte deutlicher spürte als die meisten anderen Menschen, und Mangel an Behaglichkeit war nun einmal etwas, das sie absolut nicht tolerierte. Weshalb auch?

Grace war wie immer früh aufgestanden. Als Erstes hatte sie den Thermostat im Flurschrank eingestellt und dann eine Zeit lang zufrieden die Welt draußen vor ihrem Fenster betrachtet, in der ihre Nachbarn im Woodland Crescent vor Kälte weiß wurden, wenn sie das Eis von ihren Autos kratzten oder auf den glatten Gehsteigen ausrutschten und unsicher weiterwankten. Einmal war die Frau von gegenüber in ihrer Einfahrt auf dem Hinterteil gelandet, und ihre Handtasche und ihre Einkäufe waren in hohem Bogen davongeflogen. Grace hatte eine ganze Weile darüber lachen müssen.

Für ihren Mann dagegen war die stickige Wärme in dem Bungalow zu viel. Kaum war er von seinem Nachtdienst im Krankenhaus zurück, lief er bereits rot an, was Grace gründlich die Laune verdarb. Peter trat sich die Schuhe auf der Matte ab und warf seinen Mantel über den Garderobenständer. Grace wollte ihn etwas fragen, doch er wich ihrem Blick aus, als er sich an ihrem Stuhl vorbei in Richtung Wohnzimmertür schob. Mit kurzen, entschlossenen Handbewegungen setzte sie in der Diele ein Stück zurück und drehte um, wobei ihr linkes Rad eine weitere Schleifspur auf der Scheuerleiste hinterließ. Peter hatte die Tür aus Gewohnheit für sie offen gelassen. Sie blieb dicht hinter ihm, starrte auf seinen Rücken und ärgerte sich darüber, dass er einfach vor ihr weglief. Inzwischen sollte er eigentlich wissen, dass er sie damit zur Weißglut brachte.

»Hast du die Polizei angerufen?«, fragte sie jetzt in schärferem Ton, nachdem sie sich entschlossen hatte, das Thema anzuschneiden.

»Nein.«

Grace sah ihren Mann finster an. Aber sie schwieg, obwohl es sie einige Mühe kostete. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es nichts brachte, wenn sie ihn zu sehr bedrängte. Dann würde er nur wieder behaupten, dass sie an ihm herumnörgelte, und sich abwenden, nur um zu beweisen, dass er seine eigenen Entscheidungen traf und sich nicht von seiner Frau herumkommandieren ließ. Manchmal konnte er richtig dickköpfig sein. Dann war er wie ein störrischer alter Hund, den man mit einem Knochen locken musste.

»Na ja, wahrscheinlich hätte es sowieso nichts genützt«, sagte sie.

»Nein.«

Grace sah zu, wie Peter zum Sofa schlenderte und seinen Schlips lockerte. Gleich würde er nach der Fernbedienung greifen und sich von einer dieser schwachsinnigen Rateshows berieseln lassen. Peter behauptete immer, er müsse nach einer Nacht im Krankenhaus erst eine Zeit lang abschalten, weil er von der anstrengenden Arbeit so erschöpft sei. Dass auch sie von dem abschalten wollte, was sie den ganzen Tag über beschäftigt und gequält hatte, spielte jedoch keine Rolle. Ihr blieb immer viel zu viel Zeit zum Brüten. Früher hatte sie sich darauf gefreut, dass Peter nach Hause kam, hatte sich auf diese Vorstellung konzentriert, aber in letzter Zeit schien das nicht mehr zu funktionieren.

Peter hatte den Geruch nach Feuchtigkeit und Kälte von draußen mitgebracht. Der Geruch von Schnee hing in seinem Mantel und seinem Haar und stieg von den Schuhen auf, die er auf dem nassen Fußabstreifer hatte stehen lassen. In den vergangenen Stunden hatte Grace nur den auf den Heizkörpern röstenden Staub gerochen, der sich an den Stellen sammelte, die sie beim Putzen nicht erreichte. Kurz bevor Peter gekommen war, hatte sie Raumspray versprüht. Trotzdem hatte er diesen unangenehmen kalten Geruch mit hereingebracht, und damit war die Welt dort draußen in den Bungalow eingedrungen.

»Du weißt doch, dass so was nichts bringt«, sagte er. »Du erwartest zu viel, Grace. Du bauschst schon wieder alles maßlos auf.«

»Ja, wahrscheinlich hast du Recht.«

Sie lenkte den Rollstuhl zur Zimmermitte, senkte den Kopf und rieb ihre gefühllosen Beine. Währenddessen beobachtete sie ihren Mann aus dem Augenwinkel und wartete darauf, dass sein Widerstand erlahmte. Bei aller Sturheit ließ er sich dennoch, wie alle Männer, mit der richtigen Taktik einfangen.

Peter warf sich auf das Sofa und zog die Fernbedienung unter einem Kissen hervor. Der Fernseher erwachte mit statischem Knistern zum Leben. Gerade liefen Nachrichten, mit einem Eingangsbericht über die Auswirkungen des schlechten Wetters im ganzen Land. Abwechselnd wurden Aufnahmen von Kindern, die Schlitten fuhren und Schneemänner bauten, und Bilder von festgefahrenen Autoschlangen gezeigt, von Flughafenhallen voller frustrierter Urlauber, Zugreisenden, die missmutig auf Anzeigetafeln blickten, und Schneepflügen in Schottland, die den Schnee vier Meter hoch neben einer Landstraße auftürmten.

»Wo ist Dad?«, fragte Peter.

»Er sitzt wieder über seinen Fotos«, antwortete sie.

»Es war eine anstrengende Nacht, Grace. Wir haben zwei junge Männer reinbekommen, die jemand mit Baseball-Schlägern entsetzlich zugerichtet hatte.«

»Wie schrecklich.«

Sie saßen eine Weile schweigend da. An der Kopfhaltung ihres Mannes erkannte Grace, dass er den Nachrichten ebenso wenig folgte wie sie. Sie kannte die Macht der Stille und wartete, atmete so leise, bis sie das Knacken der Heizkörper und das Brummen eines Automotors auf der Straße hören konnte. Aus der gegenüberliegenden Zimmerecke, wo der blaugrüne Papagei saß, drang leises Federrascheln. Vielleicht spürte das Tier die Spannung im Raum. Der Vogel richtete eines seiner schwarzen Augen auf sie, ehe er mit einer abrupten, zornigen Schnabelbewegung nach den Gitterstäben seines Käfigs hackte.

»Wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte Peter, »ich glaube, er ist wieder zurückgefahren.«

Grace spürte, wie sich ihre Schultern versteiften. »Wohin denn zurück?«, fragte sie, obwohl sie ganz genau wusste, was Peter damit meinte.

»Was glaubst du denn? Nach London.«

»Zu ihr?«

»Ja. Zu seiner Frau. Sie hat übrigens einen Namen.«

»Andrew hat gesagt, sie ist in Amerika, auf der Beerdigung eines Cousins.« Grace schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie, als hätte es sie durch seine Untätigkeit beleidigt. »Ich habe noch mal bei ihm angerufen, Peter. Er geht nicht ran.«

»Wir müssen eben warten, bis er sich von sich aus wieder meldet, Grace. Was bleibt uns anderes übrig?«

Grace schob sich neben einen Sessel und spürte, wie die Räder in die ausgefahrenen Rillen im Teppich glitten. Peter rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, er schaute nicht einmal herüber, um herauszufinden, ob sie zurechtkam. Inzwischen war sie froh, dass er es nicht mehr tat. Früher hatte sie seine Schwerfälligkeit oft in Rage gebracht, und sie hatte ihn grob weggestoßen. Er hatte nichts gesagt, aber sie wusste, dass ihn ihre Grobheit schockierte und kränkte. Auch wenn ihre Beine nichts mehr taugten – ihre Hände und Handgelenke waren kräftig.

»Das ist doch unlogisch«, sagte sie. »Warum sollte er plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen und dann ebenso rasch und ohne ein Wort wieder verschwinden?«

»Es gibt haufenweise Dinge in seinem Leben, von denen uns Andrew nichts erzählt hat.«

»An einem Tag? Dazu war nicht genug Zeit. Ein Tag ist zu kurz, um fünf Jahre nachzuholen.«

»Grace! Er führt jetzt sein eigenes Leben. Du kannst nicht bis in alle Ewigkeit über der Vergangenheit brüten.«

Diese Worte hatte sie schon zu oft gehört. Es war zu Peters Mantra geworden, das er immer wieder aufsagte, als könnte es wahr werden, wenn er es nur oft genug wiederholte. Grace wusste, dass es nicht stimmte. Wenn man weder eine Gegenwart noch eine Zukunft hatte, wo sollte man dann schon leben, wenn nicht in der Vergangenheit?

»Aber er ist unser Sohn«, sagte sie. »Mein kleiner Junge.«

»Ich weiß, ich weiß.«

Grace spürte, dass sie jetzt zu ihm durchdrang. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Mein lieber Pjotr…«

Doch sie hörte Peter seufzen und sah, wie er an der Fernbedienung herumfummelte. Auf dem anderen Kanal lief der Wetterbericht. Eine attraktive junge Frau stand vor einer Karte voller wattiger Wölkchen, die kleine weiße Krümel über ganz Nordengland verstreuten. Gleich würde sie in die Küche rollen und Peter eine Kanne Tee kochen müssen, sonst war sein gewohnter Ablauf gestört, und er würde den Rest des Tages schmollen.

»Da kommt noch jede Menge Schnee nach«, bemerkte er.

Die Gelegenheit war vorüber. Grace hob die Hände ans Gesicht und schnupperte an dem dünnen Ölfilm auf ihren Fingern. Das Öl und die dunklen Flecken auf ihren Händen erinnerten sie ständig an ihre Abhängigkeit von Maschinen, an ihren unfreiwilligen Rückzug vom Rest der Menschheit. Sie glaubte fest daran, dass man seine Benachteiligung in etwas Positives verwandeln konnte. Aber manchmal war es einfach schwer zu finden.

»Na, wunderbar«, sagte sie. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Noch mehr Schnee. Noch mehr Ausreden, wieso sie ihn nicht finden. Dann behaupten sie wieder, sie sind zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Und am Schluss heißt es, jetzt ist es zu spät und wir müssen uns eben damit abfinden, dass er weg ist.«

Grace blickte zu der Madonnen-Ikone in der Nische über dem Fernseher hinauf. Heute Abend würde sie wieder für ihren Sohn beten. Und sie würde auch Peter dazu zwingen.

»So viel Schnee macht eine Menge Probleme«, fuhr Peter fort. »Das können sich die meisten Leute überhaupt nicht vorstellen.«

Doch das Mädchen von der Wettervorhersage lächelte sie fröhlich vom Bildschirm an, als wäre Schnee in ihren Augen das Herrlichste, was man sich auf dieser Welt überhaupt vorstellen konnte.

Der Schneepflug der Grafschaftsverwaltung Derbyshire war brandneu. Es war ein gelber Seddon Atkinson mit einem glänzenden Schaufelblatt aus Stahl, der mit seinen automatischen Granulatbehältern überholende Autos wie mit einem Maschinengewehr beschießen konnte. An diesem Morgen waren die beiden Männer damit beschäftigt, die Hauptstrecke über den Snake Pass nach Glossop und bis zur Grenze nach Greater Manchester freizubekommen. Sie kämpften sich vom Ladybower-Reservoir aus durch immer tiefere Schneeverwehungen hinauf, unter sich den River Ashop und über sich die alte Römerstraße, die sich an den unteren Ausläufern des Bleaklow und des Irontongue Hill entlangzog.

Trevor Bradley war an diesem Morgen Beifahrer. Er hatte für die Arbeit mit dem Schneepflug nicht besonders viel übrig, und noch weniger dafür, deswegen mitten in der Nacht aufstehen zu müssen. Schlimmer noch, man hatte sie zum Snake Pass geschickt, der so ziemlich der trostloseste Ort war, an dem man sich aufhalten konnte, wenn alle anderen Leute gemütlich in ihren Betten lagen. Sie hatten die letzten Häuser schon weit hinter sich gelassen, und auf den langen, unbeleuchteten Straßenabschnitten gab es nichts zu sehen außer dem Licht ihrer eigenen Scheinwerfer und den uferlosen Schneemassen vor sowie links und rechts von ihnen. Bradley war froh, als der Fahrer kurz am abgelegenen Snake Inn anhielt, wo die Inhaber ihre Thermoskannen mit Kaffee aufgefüllt und ihnen heiße Schweinefleischpastete aus der Mikrowelle gegeben hatten. Die Männer vom Schneepflug waren im Snake Inn gern gesehen, denn an Tagen wie diesem lag es ganz in ihren Händen, ob Besucher bis zu dem Gasthaus durchkamen oder ob es gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten blieb.

Kurz nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht hatten, erreichte der Schneepflug die Strecke zwischen Lady Clugh und den Snake Plantations. Hier wurde es steiler, und die Scheinwerfer fielen auf noch höhere Verwehungen, da der Wind den Schnee vom Hochmoor heruntergeweht, um den Waldsaum herumgetrieben und nach und nach zu bizarren, irrealen Skulpturen geformt hatte.

Kurz hinter dem Parkplatz, bevor sie aus dem Wald herauskamen, glaubte Bradley zu spüren, wie etwas Hartes gegen die Maschine prallte und ein paar Meter von dem Schaufelblatt mitgeschleift wurde. Im nächsten Augenblick sah er einen dunklen Umriss, der von der Schaufel angehoben und in die Böschung befördert wurde. Es war, als hätte er das Gesicht eines Mannes gesehen, das dicht vor seinem Fenster durch die Luft schwebte und wieder verschwand. Es war ein sehr bleiches Gesicht gewesen, wie von einem Gespenst, und es konnte sich eigentlich nur um eine optische Täuschung aus dem weißen Schnee und der schlechten Beleuchtung gehandelt haben.

»Wir haben was gerammt, Jack«, sagte er und leckte sich den letzten Rest der warmen Pastetensoße von den Fingern.

»Echt?«

Jack schaltete den Motor ab, und die Männer stiegen aus. Der Fahrer schien sich mehr darum zu sorgen, dass seine Maschine etwas abbekommen hatte. Er hatte Trevor bereits erzählt, dass die Leute haufenweise Bauschutt am Straßenrand abstellten, und Ytong-Steine oder kaputte Ziegel konnten das Schaufelblatt leicht beschädigen. Der Pflug war die neueste Anschaffung der Straßenbehörde, und der Fahrer war sich seiner Verantwortung für den Zustand des Fahrzeugs durchaus bewusst.

Inzwischen stocherte Bradley in der Böschung herum, scharrte den Schnee mit den Handschuhen beiseite und zog schließlich eine blaue Reisetasche aus der Schneewehe. Die Tasche war leer, wie ihm ihr Gewicht sofort verriet.

»Echt unverschämt«, sagte er.

Er schob noch mehr Schnee beiseite. Es sah aus, als sei der Inhalt der Tasche herausgefallen, denn dort lag ein Schuh im Schnee. Die Kappe war aus schwarzem Leder, und auf der Oberseite war ein Muster aufgedruckt. Niemand ging in solchen Schuhen wandern, also musste er aus der Tasche stammen. Vielleicht hatte er vorhin im Scheinwerferlicht einfach nur ein paar Kleidungsstücke gesehen … ein weißes Hemd vielleicht, so zerknittert, dass es in dem Augenblick, als es von der Pflugschar aus der Tasche geschleudert wurde, wie ein menschliches Gesicht ausgesehen hatte.

Bradley bückte sich und wollte den Schuh aufheben, spürte jedoch einen leichten Widerstand. Vielleicht war der Schuh festgefroren. Bradley scharrte noch ein wenig mehr Schnee beiseite, bis sein Blick auf die Socke fiel, deren grün-blaues Schottenkaro ihn unwillkürlich an die Socken einiger Abteilungsleiter in der Grafschaftsverwaltung erinnerte. Er berührte sie, als er den gefrorenen Schnee wegwischte. Das war eindeutig die Socke eines Büroangestellten, so etwas trug niemand in Arbeitsstiefeln. Mit so modischen Socken würde man sich hier draußen im Handumdrehen die Füße abfrieren.

Bradley bemerkte, dass seine Gedanken abschweiften. Es dauerte einige Zeit, bis er schließlich akzeptierte, was ihm seine Finger sagten. In der Karosocke steckte ein Knöchel, und in dem Schuh steckte ein Fuß. Unter dem Schnee lag ein Mann.

Bradley richtete sich auf und drehte sich nach dem Fahrer um, der immer noch seinen Pflug und das glänzende Schaufelblatt inspizierte, das allein schon eine halbe Tonne wog. Im vergangenen Winter hatten sie mit einem ähnlichen Modell einem VW-Käfer den Kotflügel abgerissen, ehe sie überhaupt gemerkt hatten, dass unter dem Schnee ein abgestelltes Auto stand. Bradley wusste noch genau, wie das Schaufelblatt das Metall einfach so aus dem Wagen gerissen hatte, wie ein Fleischmesser, das ein gekochtes Hühnchen zerteilt. Und der Käfer mit seiner modischen gelben Lackierung hatte ihn tatsächlich an ein Hühnchen aus dem Supermarkt erinnert. Damals hatten er und sein Fahrer einige Sekunden auf den Metallfetzen gestarrt, der sich an der Pflugschar verfangen hatte, ohne zu erkennen, worum es sich handelte, bis der Wind den Kotflügel, der seine Scheinwerferkabel wie durchgetrennte Sehnen hinter sich herzog, erfasst und die Straße entlanggeweht hatte.

Jetzt rief sich Trevor Bradley dieses Bild wieder ins Gedächtnis zurück. Gerade eben war etwas gegen den Pflug geprallt und vom Schaufelblatt ein Stück mitgeschleift worden. Er erinnerte sich an etwas, das für den Bruchteil einer Sekunde im seitlich wegspritzenden Schnee gewinkt hatte. Anfangs hatte sein Verstand dieses Ding nicht einordnen können, doch jetzt identifizierte er es eindeutig als menschlichen Arm. Außerdem war da noch das Gesicht gewesen. Der Arm und das Gesicht waren alles, was er von dem Körper gesehen hatte, den der Schneepflug aufgegabelt und in die Dunkelheit geschleudert hatte.

Er spürte, dass er würgen musste, und beschloss, sich lieber nicht vorzustellen, was der Schneepflug womöglich mit dem Rest angestellt hatte.

Bradley öffnete den Mund und rief den Fahrer.

»Jack!«

Doch seine Stimme war zu leise in der kalten Luft, außerdem ging sie im Dröhnen eines Düsenflugzeugs unter, das in den dichten Wolken über ihnen seine Anflugschneise nach Manchester suchte. Das Dröhnen der Triebwerke ließ die Windschutzscheibe des Schneepflugs vibrieren, ehe es langsam nachließ und hinter der Kuppe des Irontongue Hill verklang. Es war eine Boeing 767 der Air Canada, kurz vor dem Ende ihres siebenstündigen Fluges aus Toronto.

Kaltes Grab

Подняться наверх