Читать книгу Kaltes Grab - Stephen Booth - Страница 9
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Diane Fry hasste Schichten, in denen man nur untätig herumstand. Es gab genug Leute, die das wesentlich besser konnten als sie. In der West Street war es geringfügig besser gewesen, da sie sich dort wenigstens noch ein bisschen länger vor dem Heizlüfter des Tatortteams hätte setzen können. Hier draußen hielt sie nichts warm, abgesehen von ihrem langen roten Schal, den sie sich bei Gap in Meadowhall gekauft hatte. Nichts schützte sie vor dem Wind, nicht einmal irgendeine körperliche Arbeit, die sie vor dem Festfrieren bewahrt hätte. Im Grunde hätte sie sogar noch lieber mit dem Beamten getauscht, der den Verkehr regelte, da er wenigstens ein bisschen mit den Armen wedeln durfte. Aber das war eindeutig keine Arbeit für einen frisch gebackenen Detective Sergeant.
Also vertrieb sie sich die Zeit mit ein paar unauffälligen Übungen. Sie stellte sich auf die Zehen, dehnte die Sehnen, kontrollierte ihre Atmung, erkundete die Energiezentren ihres Körpers und ließ ihren Kreislauf im Kampf gegen die Kälte bewusst bis in die äußersten Extremitäten zirkulieren. Sie war so beschäftigt, dass sie beinahe vergessen hätte, dass sie nicht allein war. Beinahe.
»Kein Blut«, stellte DI Hitchens fest, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich lässig an den Radkasten des Schneepflugs, dessen Pflugschar eilig mit einer blauen Plastikplane abgedeckt worden war. Hitchens wirkte entspannt und redete, als plauderte er über das Wetter. Heute also kein Blut, sondern nur Schnee. Wie langweilig. Aber Fry wusste, dass die Bemerkung nicht an sie gerichtet war. Hitchens hatte ein weitaus aufmerksameres Publikum.
Gavin Murfin hatte sich mit dem Fahrer und seinem Begleiter unterhalten, die inzwischen auf dem Rücksitz eines Streifenwagens saßen. Er trug absurde Fellstiefel, die ihm bis zu den Knien reichten und wie das Unterteil eines Yeti-Kostüms aussahen. Als er jetzt um die Rückseite des Pfluges herumkam, stampfte er mit den Füßen auf und schnaufte leise in der kalten Luft.
»Blut? Kein Tropfen«, verkündete er fröhlich.
Fry warf ihrem Kollegen einen finsteren Blick zu, während Murfin nach einer Hosentasche tastete, in der er sein Notizbuch verstauen konnte. Er hatte so viele Pullover übereinander angezogen, dass er wie ein Michelin-Männchen aussah, um dessen Bauch mehrere Gummiwülste wabbelten. Trotzdem war sein Gesicht ganz rot vor Kälte. Irgendwo in seinen Taschen befand sich wahrscheinlich ein geheimer Nahrungsvorrat – genug, um ihn ein, zwei Stunden am Leben zu erhalten, bevor er den nächsten Inder ausfindig gemacht hatte, bei dem er sich eine Portion Beef buryani holen und damit wieder mal ihren Wagen verpesten konnte.
»Ehrlich gesagt hasse ich es, wenn es kein Blut gibt«, sagte Hitchens.
Juliana Van Doon, die Gerichtsmedizinerin, arbeitete sich in voller Montur durch das vom Schnee befreite Areal, während ein Beamter den Tatort mit einer Videokamera abfilmte. Mrs Van Doon hatte die Kleidung des Toten über seinem Unterleib öffnen lassen, um eine klaffende Wunde zu untersuchen. In ihrem weißen Anzug sah sie wie ein misslungener Schneemann aus. Fry seufzte. Ein Schneemann und das Michelin-Männchen. Irgendetwas schien mit ihr heute nicht zu stimmen. Offenbar bekam sie von der Kälte schon Halluzinationen.
»Ich finde, nur mit Blut ist es eine richtige Leiche«, fuhr Hitchens fort. »Damit kriegt die Sache erst den richtigen Pfiff. Das gewisse je ne sais quoi. Vielleicht diese unterschwellige Gefühl von Gewalt. Den herben Geschmack der Vergänglichkeit. Sie wissen, was ich meine, Gavin?«
»Klar«, antwortete Murfin. »Das heißt, dass der Kerl eindeutig hinüber ist oder so.«
Murfin nuschelte verdächtig, als hätte er sich unbemerkt etwas in den Mund geschoben. Sie glaubte, in seiner Tasche Schokoladenpapier rascheln zu hören. Sehnsüchtig sah sie zu ihrem Auto hinüber. In der West Street wartete bergeweise Arbeit auf sie. Ständig wartete irgendwo irgendetwas auf sie, das es zu erledigen galt. Der Alltag in Edendale ging mit all seinen Unannehmlichkeiten weiter, so wie er in jedem Städtchen in Derbyshire und zweifellos in jeder kleinen und großen Stadt im Land weiterging. Viele Verbrechen wurden nicht einmal untersucht, geschweige denn aufgeklärt. Zum Beweis dafür wucherten überall tonnenweise Papierkram-Fälle, denen man aus versicherungstechnischen Gründen Bearbeitungsnummern zuordnete, ehe sie in die Ablage wanderten. Alle Welt schrie nach mehr Polizisten, damit noch mehr Verbrechen aufgeklärt werden konnten, als hinge der Fortbestand der Welt davon ab.
Doch hier, am Fuß des Snake Pass, kam sich Fry allerdings wie am Ende der Welt vor. Links und rechts der A57 ragte eine weiße, mehrere Fuß tiefe, unberührte und unnatürlich glatte Schneewand auf, die die Straßenränder nahtlos in das Hochmoor übergehen ließ. So weit außerhalb von Edendale war die asphaltierte Straßendecke der A57 das einzige Anzeichen von Zivilisation, und Fry fand es beunruhigend, dass auch sie jetzt nicht mehr zu sehen war. Als sollte ihr unmissverständlich mitgeteilt werden, dass sie hier nie wieder wegkommen würde.
Mrs Van Doon drehte sich kurz um und sah zu den Polizisten hinüber, die auf der Straße standen. Ihre Stimmen drangen laut und klar bis zu ihr hinauf. Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit.
»Eigentlich müsste jemand, der von einem Schneepflug fast halbiert wird, wenigstens ein bisschen bluten«, meinte Hitchens.
»Ja, aber ehrlich«, pflichtete ihm Murfin bei.
»Und sei es nur, um in den letzten Sekunden seines Lebens künstlerisch zufrieden stellend auszusehen.«
Hitchens suchte Frys Blick und nickte ihr zu, als hätte sie etwas Intelligentes gesagt. Sie wusste, dass er ihre Abneigung gegen Murfin und ihre Verärgerung darüber spürte, wie der DI ihn aufstachelte. Doch Hitchens lächelte wie jemand, der alle Zeit der Welt hatte und sich bewusst dafür entschieden hatte, einen guten Teil davon genau hier zu verbringen, an diesem gottverlassenen, schneebedeckten Ort, mit einer Hand voll Kollegen von der Polizei, zwei verstörten Arbeitern vom Grafschaftsamt und einer Leiche ohne Blut.
»Vielleicht ist das ja ein Indiz«, sagte er.
Fry sah zu, wie die Gerichtsmedizinerin die Temperatur maß und die Haut des Toten auf Leichenflecken untersuchte. Der Mann trug einen dunklen Anzug, der dort, wo ihn der Pflug erwischt und wie einen Müllsack auf die Straßenböschung geschleudert hatte, entsprechende Spuren aufwies. Die blaue Reisetasche, die bei ihm gefunden worden war, stand ein paar Meter weit weg. Er sah fast aus wie ein auf einem eingeschneiten Flugplatz gestrandeter Passagier, der sich auf dem Fußboden des Terminals schlafen gelegt hatte und auf einen Flug wartete, der niemals aufgerufen wurde.
Murfin kaute verstohlen und schluckte. Als er den Mund aufmachte, glaubte Fry kleine Schokoladenstückchen in seiner Atemwolke zu erkennen, eine Art süßlichen Nebel, der sich in der eisigen Luft auflöste. »Ich glaube, ich hab’s, Sir«, sagte er.
»Was denn, Gavin?«
»Der Schneepflugfahrer ist ein Vampir. Er hat dem Toten das ganze Blut ausgesaugt, bis zum letzten Tropfen.«
Fry wandte sich ab, damit die beiden ihr Gesicht nicht sehen konnten. Sie spürte, wie ihr Missmut in Wut umschlug, und musste erst ein paarmal durchatmen, bevor sie sich wieder im Griff hatte. Am liebsten hätte sie Murfin eine Ohrfeige verpasst, was jedoch in Gegenwart des Inspectors schlecht möglich war. Am schlimmsten war, dass sie Murfin noch für die Dauer der gesamten Untersuchung am Hals hatte.
»Tja«, meinte Hitchens. »Unser erster Vampir in der Dienststelle Edendale. Damit dürfte der Papierkram ziemlich knifflig werden, Gavin. Ich glaube, für so was haben wir nicht mal ein Formular.«
Murfin grinste. Seine Lippen setzten sich wieder in Bewegung, und er klopfte seine Taschen nach Nachschub ab – ein Snickers, eine Tüte Bonbons, irgendetwas würde sich garantiert finden. Fry sah ihm an, was in ihm vorging. Sein Hirn kämpfte mit einer schwierigen Herausforderung, die jedoch nichts mit der Aufklärung eines Verbrechens zu tun hatte.
»So hat eben jeder sein Kreuz zu tragen, Sir«, sagte er.
Mrs Van Doon drehte sich um. Das Geschwätz lenkte sie ab. »Falls es Sie interessiert: Das Herz dieses Mannes hat schon lange vorher aufgehört zu schlagen«, sagte sie. »Keine Herztätigkeit bedeutet: kein Blut. Ihre Leiche hier war schon tot, als der Schneepflug sie erwischt hat.«
Die Gerichtsmedizinerin packte ihre Sachen zusammen. Am liebsten hätte Fry ihr geholfen und wäre mit ihr weggefahren, um weg von diesem Ort und ihren Kollegen und in eine schöne, warme Leichenhalle zu kommen, in eine friedlichere Gesellschaft, wo es keine blöden Witze und auch keine Krabbenchips auf dem Boden ihres Wagens gab. Mrs Van Doon sah müde aus. Wie alle anderen war auch sie in letzter Zeit völlig überarbeitet.
Fry streckte sich ein letztes Mal, atmete tief ein und aus und spürte, wie ihr Körper infolge der zusätzlichen Sauerstoffzufuhr zu kribbeln anfing.
»Ich weiß nicht recht«, meinte Murfin. »Mir persönlich gefällt die Vampir-Theorie besser.«
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen«, sagte die Gerichtsmedizinerin, »ich glaube, ich bin hier vorläufig fertig.«
Fry musste einen Schritt zurücktreten, so dass sie an ihr vorbeigehen konnte. Sie suchte ihren Blick, um sie wissen zu lassen, dass sie mit ihr fühlte, doch die Frau hielt den Kopf gesenkt und sah nicht einmal auf. Um die Augen herum hatte sie Müdigkeitsfalten und darunter dunkle Ringe. Fry musste unwillkürlich daran denken, dass es in der Zentrale hieß, Stewart Tailby, ihr alter Chief Inspector, sei privat an Juliana Van Doon interessiert gewesen, es sei aber nichts daraus geworden. Tailby würde bald zu einem Verwaltungsjob in Ripley wechseln. Mrs Van Doon sah jedenfalls aus, als hätte sie in ihrem Leben bereits zu viele Leichen gesehen.
»Wissen Sie, ich kenne nämlich den Kerl, der den Schneepflug gefahren hat«, verkündete Murfin. »Ehrlich gesagt habe ich ihn noch nie bei Tageslicht gesehen.«
Die Gerichtsmedizinerin ging zu ihrem Wagen und schälte sich aus ihrem Overall. Fry hob Mrs Van Doons Tasche auf und wartete einen Augenblick, bis sie die Hand ausstreckte und sie ihr abnahm. Ihre Blicke trafen sich, doch keine der beiden Frauen sagte etwas.
»Was meinen Sie, Doc? Sollen wir ihm eine Blutprobe entnehmen?«, rief Murfin. »Ich meine, nicht dem Toten, sondern sozusagen dem Untoten. Vielleicht bekommen wir ja über die DNS-Analyse ein Spiegelbild.«
Murfin stieß ein bellendes Lachen aus, das sich an den Schneewänden zu beiden Seiten brach und kleine Lawinen auslöste, die auf die Straße rieselten. Mrs Van Doon streifte ihre Überschuhe ab, verstaute ihre Ausrüstung im Kofferraum ihres Wagens und fuhr grußlos davon, wobei sie derart beschleunigte, dass sich ein Schwall Eismatsch über Murfins Fellstiefel ergoss.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, erkundigte sich Murfin.
»Blödsinn«, meinte Hitchens, »Sie haben bloß wieder mal Knoblauch gefrühstückt.«
Als Ben Cooper die Diensträume der Kripo betrat, fand er sie eiskalt und verlassen vor. Offensichtlich hatten die Heizkörper in diesem Stockwerk mal wieder den Geist aufgegeben. Es roch nach Essen. Tomatensoße und Knoblauch. Folglich war Gavin Murfin noch nicht allzu lange fort. Normalerweise hätte Cooper sofort das Fenster geöffnet und gelüftet, aber seine Finger waren schon jetzt so steif, dass er kaum einen Kugelschreiber halten konnte.
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Akten, die mit gelben Haftzetteln übersät waren. Es sah aus, als sei urplötzlich trotz der frostigen Temperaturen ein Beet Osterglocken erblüht. Sein Blick fiel auf einen Zettel, der größer als die anderen und mit dem schwarzen Marker beschriftet war, der normalerweise für die Aufkleber auf Beweisstücken benutzt wurde. Cooper wusste nicht, was er davon halten oder ob er ihn überhaupt anfassen sollte. Schließlich konnte es sich um wichtiges Beweismaterial für eine bevorstehende Anklage handeln. Aber es stand lediglich»Wir haben uns unseren Heizlüfter zurückgeholt, ihr Schweinepriester!« darauf.
Cooper rief in der Zentrale an.
»Cooper hier. Können Sie mir vielleicht erklären, was hier vorgeht?«
»Cooper? Wir versuchen Sie schon seit sieben Uhr zweiundvierzig zu erreichen.«
»Jetzt bin ich da. Worum geht’s?«
»Sie sollten doch um sieben zum Dienst erscheinen.«
»Weiß ich. Sie müssten einen Bericht vorliegen haben, aus dem hervorgeht, dass ich anderthalb Stunden mit einem Gefangenen auf der Hollowgate festgesessen und auf einen Wagen gewartet habe, der niemals kam! Ich musste den ganzen Weg nach Spital Hill zu Fuß gehen, wo ich dann auf einen Uniformierten gestoßen bin, der sich kaum dreißig Sekunden auf den Beinen halten konnte. Sah aus, als hätte man ihn bei der Northern Ballet Company abgelehnt. Und als ich endlich hier war, habe ich erst den Festgenommenen in Untersuchungshaft gebracht.«
Es gab eine Pause, in der sich seine Gesprächspartnerin mit jemandem in der Zentrale beratschlagte. »Wir sind momentan ein bisschen knapp mit Personal«, sagte sie.
»Schießen Sie los.«
»DS Fry hat mehrere Nachrichten für Sie hinterlassen«, sagte die Kollegin aus der Telefonzentrale vorwurfsvoll. »Drei davon sind angeblich dringend.«
Cooper seufzte. »Also – wo soll ich jetzt hin? Aber nicht wieder an drei Orte gleichzeitig.«
»An der A57, oben am Snake Pass, wurde die Leiche eines unbekannten Weißen gefunden, ungefähr zweihundert Meter westlich vom Snake Inn«, antwortete die Telefonistin.
»Ist die Straße frei?«
»Unseren letzten Informationen zufolge ist sie mit einiger Vorsicht befahrbar.«
»Gut. Bin schon unterwegs.«
»Ähm … danach sind noch ein paar Nachrichten für Sie reingekommen.«
»Nämlich?«
»Am besten lese ich Ihnen die Letzte zuerst vor. Sie lautet: ›Lass gut sein!‹«
»Was soll das denn heißen?«
»Ich würde sagen, das heißt, man ist auch ohne Sie zurechtgekommen, mein Lieber.«
Cooper blinzelte. Die Telefonistin hörte sich plötzlich genau wie seine Mutter an, zumindest so, wie sie sich angehört hatte, bevor sie krank wurde.
»Vielen Dank«, sagte er und legte auf. Er warf noch einen Blick auf die Aktenberge auf seinem Schreibtisch. Es sah ganz so aus, als wäre er mal wieder der Angeschmierte, der mit der ganzen Arbeit sitzen blieb, die sonst keiner erledigen wollte, jedenfalls nicht, solange es spannendere Dinge zu tun gab. Und das alles nur, weil er sich rechtzeitig auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte und Eddie Kemp im Café begegnet war. Nächstes Mal würde er es anders machen. Er würde einfach so tun, als hätte er den Verdächtigen gar nicht gesehen, so wie es neunzig Prozent seiner Kollegen getan hätten, wenn sie eigentlich noch nicht offiziell im Dienst waren. Genauso würde er es beim nächsten Mal auch machen. Vielleicht.
Cooper wanderte ziellos im Zimmer umher und versuchte den Heizkörpern wenigstens ein bisschen Wärme zu entlocken. Bei jedem Schritt gab sein linker Fuß ein schmatzendes Geräusch von sich.
Frank Baine schlug zum dritten Mal auf die Klingel. Nichts rührte sich.
»Na ja, wenn Sie wirklich meinen, es ist in Ordnung«, sagte er.
»Ich komme schon klar«, sagte Alison Morrissey.
Sie stand mit ihren Taschen vor der verwaisten Rezeption. Einen Empfangsraum wie in diesem Hotel hatte sie noch nie gesehen. Er war sehr düster und mit uralten Topfpflanzen und Vitrinen voller ausgestopfter Fische voll gestellt. Außerdem war niemand zu sehen. Baine hatte den Kopf schon durch sämtliche Türen gesteckt. »Bestimmt kommt gleich jemand«, sagte Morrissey.
»Morgen früh um neun haben wir einen Termin bei der Polizei«, sagte Baine. »Ich hole Sie hier um halb neun ab, wenn es Ihnen recht ist. Wir brauchen nicht weit zu fahren.«
»Das wäre nett. Und vielen Dank, Frank.«
Schließlich ging er. Morrissey betrachtete eine Forelle von der Größe eines kleinen Hundes, die mit gläsernen Augen zurückstarrte. Ihr Maul stand offen, als wäre sie drauf und dran, etwas zu sagen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Die Rezeptionistin.
»Ein Zimmer«, sagte Alison. »Ich habe hier ein Zimmer reserviert. Und wenn Sie es mir nicht bald zeigen, kippe ich um.«
Nachdem sie geduscht und sich ein wenig ausgeruht hatte, zog sie wieder die Akten hervor. Sie hatte Unterlagen über jedes Besatzungsmitglied von Sugar Uncle Victor. Die dickste Akte stellte die ihres Großvaters dar, Fliegerleutnant Danny McTeague. Doch ganz oben auf dem Stapel lag jene Akte, die sie sich zuerst vornehmen und heute Abend noch einmal durchlesen würde; die Akte mit der Aufschrift »Zygmunt Lukasz«.
Am späten Vormittag erfuhr Ben Cooper, wer Eddie Kemp zu dem tätlichen Angriff verhören sollte.
»Wir haben sonst niemanden«, hieß es lapidar. »Alle sind unterwegs.«
Kemp sah fast erfreut aus, als er ihn sah. Er schien zu glauben, dass sie bei der Warterei am Straßenrand Freundschaft geschlossen hatten, als hätten sie sich abgesprochen, für die Gäste des Starlight Cafés ein kleines frühmorgendliches Straßentheaterstück aufzuführen. Cooper war sich nicht sicher, wie lange das Stück gedauert hätte, ehe es in eine Tragödie umgeschlagen wäre, wenn nicht Sonny Patel und seine beiden ältesten Söhne, mit brandneuen Besen und Schaufeln ausgerüstet, aufgekreuzt wären. Umständlich hatten sie den Bürgersteig vom Schnee befreit, bis sich die drei Männer an der Schaufensterscheibe endlich in Bewegung gesetzt hatten und weggegangen waren.
»Der Tee hier ist nicht übel«, verkündete Kemp. »Aber diese grässliche Musik nervt. Da wird man ja blöd im Kopf.«
Cooper und der Uniformierte, der ihn begleitete, hielten gebührend Abstand von Kemp, um nicht zu ersticken. Bei laufendem Dreifach-Kassettenrekorder und in Anwesenheit des Pflichtverteidigers, der neben Kemp saß, gingen sie noch einmal die Ereignisse durch, die in den frühen Morgenstunden zu den Verletzungen der beiden jungen Männer geführt hatten. Kemp versuchte nicht einmal abzustreiten, dass er an der Schlägerei beteiligt gewesen war, aber er bestand darauf, dass er angegriffen worden sei und lediglich in Notwehr gehandelt habe.
»Das Übliche«, sagte Cooper.
»Das sind stadtbekannte Verbrecher«, sagte Kemp. »Dealer aus der Wohnblocksiedlung.«
»Und Sie sagen, sie hätten zuerst angegriffen?«
»Ja.«
»Bei Ihrer Einweisung hatten Sie Gelegenheit, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Sie haben keine Verletzungen zu Protokoll gegeben.«
»Weil ich gut auf mich aufpassen kann«, sagte Kemp.
Jetzt, ohne die Manchester-United-Kappe, sah Cooper, dass Kemp dunkles, drahtiges Haar und den Anflug eines Schnäuzers hatte, gerade ein paar Stoppeln mehr als jemand, der am Morgen vergessen hatte, sich zu rasieren.
»Wer war außer Ihnen noch an der Sache beteiligt?«, fragte Cooper.
»Keine Ahnung.«
»Es waren also völlig Fremde?«
»Ich würde sagen, sie kamen zufällig vorbei und haben mir geholfen«, sagte Kemp. »Gute Samariter, wenn Sie so wollen.«
»Und wer hatte den Baseball-Schläger dabei?«
»Baseball-Schläger? Hab keinen gesehen.«
»Dann vielleicht einen Billard-Queue?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hatten die Burschen, die mir zu Hilfe gekommen sind, gerade im Club Billard gespielt.«
Eddie Kemp sah den Anwalt an und grinste vergnügt. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass Zeugenaussagen nur selten ausreichten, um eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten. Bei einer Gruppe von sechs Männern ließ sich nahezu unmöglich feststellen, wer was getan hatte. Außerdem war es dunkel gewesen. Fürs Erste konnte man ihm also nichts anhaben.
»Sie wissen, dass die Opfer schwer verletzt wurden?«
»Sie haben es nicht anders verdient«, sagte Kemp. »So was ist Abschaum. So was wollen wir bei uns in der Underbank nicht haben. Wir wollen nicht, dass sie unseren Kindern harte Drogen geben. Wenn sie eine Tracht Prügel davon abhält, dann ist das eine gute Sache. Euer Verein kann gegen die ja sowieso nichts ausrichten.«
»Tätlicher Angriff mit Körperverletzung ist trotzdem ein Verbrechen, Eddie, ganz egal, wer das Opfer ist.«
»Es gibt Verbrechen, und es gibt Gerechtigkeit.«
»Und was war das hier Ihrer Meinung nach?«
»Beides, könnte ich mir vorstellen.«
»Sie sind ja ein richtiger Philosoph«, sagte Cooper ungeduldig. »Zwei einander widersprechende Sichtweisen gleichzeitig.«
Kemp nickte. »Da haben Sie Recht. Nur dass ich nicht finde, dass sie einander widersprechen. Jedenfalls nicht in jedem Fall.«
Schließlich kamen Diane Fry und Gavin Murfin wie der Weihnachtsmann und einer seiner Engel in das Kripo-Büro gerauscht. Ihre Kleidung war mit Schneeflecken übersät, und ihre Gesichter leuchteten rosig.
»Ah, Ben, endlich«, sagte Fry und schlug die Hände gegeneinander, um sich aufzuwärmen.
»Ich bin schon den ganzen Morgen hier.«
»Viel zu tun gehabt?«
»Hab mich durch den Großteil der Osterglocken durchgebuddelt.«
»Wie bitte?«
»Ich hab einiges aufgearbeitet.«
»Na schön. Ich habe Arbeit für dich.«
»Toll.«
Doch Ben Cooper spürte schon wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Bis jetzt hatte ihn noch nichts, was ihm Diane Fry aufgetragen hatte, in Begeisterung versetzt. Vermutlich sollte er den restlichen Nachmittag irgendwelche Anrufe und noch mehr Schreibtischarbeit erledigen.
»Der Schneemann braucht einen Namen«, sagte Fry.
»Welcher Schneemann?«
»Männlich, weiß, unbekannt.«
»Aha.«
»Und tot«, ergänzte Murfin.
Geduldig hörte sich Cooper die Einzelheiten an. Es waren nicht besonders viele. Eine eindeutige Identifikation des Mannes war unmöglich gewesen, obwohl sie seine Kleidung bekamen, sobald die Gerichtsmedizin mit der Leiche fertig war. Außerdem gab es noch die Reisetasche, die neben dem Toten gefunden worden war. Wie die Leiche war auch die Tasche von der Schaufel des Schneepflugs über den Boden geschleift worden. Sie war zerschrammt, aufgerissen und vom Schnee völlig durchgeweicht. Am schlimmsten aber war, dass sie leer war. Schon eine Zahnbürste oder ein Deospray hätte ihnen helfen können, ein Bild zusammenzusetzen, anhand dessen sich der Schneemann identifizieren ließ.
»Wir brauchen ein paar Vermisste«, sagte Fry.
Erst am Nachmittag hatte Cooper über mehreren Berichten zu vermisst gemeldeten Personen gesessen. Es war leicht, sie als»Vermisste« zu bezeichnen, wenn sie lediglich aus einer Hand voll Einzelangaben in einer Computerdatei bestanden. Wenn man sich jedoch näher mit diesen Fällen beschäftigte, wurden sie plötzlich zu Menschen. Sie sprangen förmlich aus dem Bildschirm heraus und verwandelten sich in unglückliche Jugendliche oder misshandelte Ehefrauen, verwirrte alte Damen oder Geschäftsmänner, die an ihrem fünfzigsten Geburtstag beschlossen hatten, sich mit dem Mädchen aus der Marketing-Abteilung auf die Suche nach ihrer verlorenen Jugend zu machen.
»Von welchem Alter reden wir?«, fragte er.
»Anfang dreißig. Gute körperliche Verfassung, gut gekleidet.«
»Mhmm. Genau das richtige Profil.«
»Wofür?«
»Um zu verschwinden.«
»Muss man dazu ein bestimmter Typ sein?«
»Abgesehen von den Jugendlichen handelt es sich bei den meisten Vermissten um Männer zwischen siebenundzwanzig und vierunddreißig.«
»Damit gehörst du genau zur Risikogruppe, Ben.«
»Geht es hier um Tod durch Unfall oder um Selbstmord oder was?«
Fry zögerte. »Keine Ahnung«, sagte sie.
»Wenn es sich um einen Mord handelt, brauchen wir kein Profil. Heutzutage kommt theoretisch jeder als Mordopfer in Frage. Gibt es irgendwelche Hinweise? Ich dachte, der Mann wurde von einem Schneepflug erfasst?«
»Er war aber schon vorher tot.«
Die Einstufung des Schneemanns auf der Wichtigkeitsskala hing vom Befund der Gerichtsmediziner ab. Wenn er einfach nur einen Herzschlag am Straßenrand erlitten hatte, würde er wohl noch eine Weile auf Eis liegen, bis sich jemand nach ihm erkundigte. Aber Fry wollte auf etwas anderes hinaus.
»Hast du einen Verdacht, Diane?«, fragte Cooper.
Fry ignorierte die Frage. »Dann haben du und Gavin einiges an Arbeit vor euch. Gebt mir eine Liste derjenigen, die in Frage kommen, und kontaktiert die benachbarten Dienststellen. Vergiss nicht, dass er auf der A57 gefunden wurde. Manchester muss jede Menge Vermisste haben.«
»Bestimmt.«
»Setzt euch mit der Vermissten-Hotline in Verbindung. Und vergiss auch nicht die landesweiten Behörden, Bahnpolizei, das Verteidigungsministerium. Ach ja, und den Northern Ireland Police Service.«
»Na toll. Terroristenhinrichtung mittels Schneepflug.«
»Man kann nie wissen.«
Chief Superintendent Colin Jepson, der Dienststellenleiter der Division E, erklärte sich bereit, sich persönlich mit Alison Morrissey zu treffen. Natürlich forderte er jüngere Beamte zu seiner Unterstützung an. Ihre Stärke liege in der zahlenmäßigen Überlegenheit, sagte er – als wäre die Besucherin die Vorhut einer feindlichen Bande, die im Begriff war, die Division E zu stürmen. Aber zahlenmäßige Überlegenheit war genau das, was sie im Augenblick nicht zu bieten hatten. Die diensthabende Inspektorin hatte gemeint, sie sei zu beschäftigt, und auch von der Abteilung für öffentliche Sicherheit war niemand verfügbar. Dann war Ben Coopers Name gefallen.
»Hier sind die Akten, die der zuständige Nachrichtenoffizier für den Chief zusammengestellt hat«, sagte Paul Hitchens, als er Cooper kurz vor seinem eigenen Feierabend die Neuigkeit überbrachte.
»Wenn der NO die Berichte zusammengestellt hat, warum nimmt er dann nicht selbst an der Besprechung teil?«
»Er hat eine Erkältung. Also müssen Sie ran, Ben.«
»Warum?«
»Der Chief fürchtet, dass man ihm ein paar Fragen stellt, für die einige Ortskenntnisse notwendig sind. Sie wissen ja, dass er es seit seiner Versetzung aus Lancashire nie so richtig geschafft hat, sich zu merken, in welchem Bezirk er eigentlich arbeitet. Deshalb hat er sich Sie als Einheimischen ausgesucht, der alle Fragen beantworten kann, die für uns andere zu schwer sind – wie man ›Derbyshire‹ buchstabiert und solche Sachen.«
»Nein. Ich meinte: warum?«, sagte Cooper. »Es hört sich so an, als sei diese Alison Morrissey auf einem Kreuzzug oder so, um den Namen ihres Großvaters reinzuwaschen. Das sind doch alles uralte Geschichten, oder?«
»Da haben Sie allerdings Recht.«
»Warum dann dieser Aufstand?«
»Politische Gründe.«
»Politisch? Was ist denn daran politisch?«
»Wir sind jemandem was schuldig.«
»Wir?«
»Wenn ich ›wir‹ sage, meine ich natürlich den Chief Inspector. Erinnern Sie sich nicht mehr an den großen Betrugsfall vor ein paar Jahren, Ben? Der Hauptverdächtige hatte das Land verlassen und ist in Kanada wieder aufgetaucht, als Holzfäller oder so was verkleidet. Erst waren die Mounties nicht besonders kooperativ, aber dann hat der Chief den Konsul in Sheffield eingeschaltet. Die beiden haben ein-, zweimal zusammen Golf gespielt, und der Konsul hat ein paar Beziehungen spielen lassen. Wie auch immer, jedenfalls hat sich unser Chief Superintendent drüben in Ottawa ein paar neue Busenfreunde gemacht. Und einer von denen ist der Onkel dieser Morrissey. Das meine ich mit Politik.«
»Das heißt, es ist alles bloß Show?«
»Gewissermaßen. Unternommen wird aber nichts.«
»Woher wollen Sie das wissen, Sir? Wir haben doch noch gar nicht mit der Frau gesprochen.«
»Sie werden ja sehen«, sagte Hitchens. »Auch politischer Einfluss kann weder Geldmittel noch Personal aus dem Boden stampfen.«
Als Cooper endlich Feierabend hatte, machte er sich sofort auf den Weg quer durch die Stadt zum Old-School-Pflegeheim. In einem der Aufenthaltsräume saß seine Mutter und wartete, in einem Lehnstuhl – aufrecht, starr, den Blick auf die Wand gerichtet und mit den Gedanken weit weg in ihrer eigenen Welt.
»Weißt du noch, was ich gesagt habe, Mum?«, fragte er. »Dass ich von der Farm wegziehe?« Er versuchte beiläufig zu klingen, als hätte er vor, kurz in den Laden an der Ecke zu gehen, um ein paar Teebeutel zu kaufen.
Isabel Cooper erwiderte nichts, doch ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht. Cooper nahm ihre Hand. Sie fühlte sich schlaff und leblos an.
»Ich finde, ich sollte zur Abwechslung mal allein wohnen«, sagte er. »Es ist aber hier in Edendale, mach dir keine Sorgen. Ich komme dich trotzdem jeden Tag besuchen.«
Ihr Blick war noch immer nicht auf ihn gerichtet, aber einen Augenblick lang schien ein Schatten über ihr Gesicht zu huschen, ein verschwommenes Abbild des Ausdrucks, den sie immer aufgesetzt hatte, wenn sie glaubte, sie hätte ihn bei einer Lüge ertappt.
»Für dich ändert sich dadurch überhaupt nichts, Mum«, versicherte er. »Du siehst mich genauso oft wie jetzt. Viel zu oft, wie gewöhnlich. Das hast du immer gesagt, wenn ich dir zwischen den Füßen herumgelaufen bin.«
Er wünschte, sie würde ihn anlächeln, nur ein einziges Mal. Aber ihr Gesicht blieb maskenhaft starr. Das lag zum Teil an den Tabletten, die die unwillkürlichen Zuckungen kontrollierten und die Gesichtskrämpfe unterdrückten, die sie so oft in eine Fremde verwandelt hatten.
Er tätschelte ihren Handrücken, beugte sich vor und küsste sie. Ihre Wange war kalt, wie das Gesicht einer Statue. Er hörte, wie sie in einem langen Seufzer ausatmete, und spürte, dass sie sich ein bisschen entspannte. Mehr Reaktion durfte er nicht erwarten.
Einen kurzen Moment erwog Cooper, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Aber spielte es überhaupt eine Rolle für seine Mutter? Ihr war es doch ohnehin egal, wo er wohnte, nun da sie im Pflegeheim war und wahrscheinlich nie wieder auf die Bridge End Farm zurückkehrte. Er musste gegen seinen eigenen inneren Widerstand ankämpfen, das Gefühl, sich von einem großen Teil seines Lebens zu trennen.
Er hatte versprochen, seine Mutter jeden Tag im Pflegeheim zu besuchen, und bis jetzt hatte er das auch getan. Das hieß, dass er ihr jeden Tag von seiner Entscheidung berichten konnte, bis sie es beide glaubten.
An diesem Morgen war Cooper zu früh für die Post von der Farm losgefahren, da das Postauto gewöhnlich erst gegen neun nach Bridge End hinauskam. Deshalb warteten die Immobilienangebote auf ihn, als er abends heimkam. Alle wussten, was in dem Umschlag war. Er hatte seiner Familie von seinen Auszugsplänen erzählt, aber jetzt sah er ihren Gesichtern deutlich an, dass sie ihm nicht geglaubt hatte. Josie, eine seiner Nichten, reichte ihm den Umschlag wortlos, aber mit vorwurfsvollem Blick. Sie sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Irgendwas Interessantes?«, erkundigte sich Matt, der zusah, wie sein Bruder den Umschlag aufriss.
Cooper erkannte auf einen Blick, dass nichts Passendes dabei war. Das Einzige, was die Makler anboten, waren ein paar Doppelhäuser mit vier Zimmern in Buxton und eine möblierte Wohnung in Chapel-en-le-Frith. Abgesehen davon, dass alles zu weit weg war, überstiegen die Mieten das, was er sich leisten konnte. Aber seiner Familie zu sagen, dass nichts dabei war, erschien ihm trotzdem wie ein Eingeständnis seines Versagens. Schlimmer noch – damit würde er die Erwartung schüren, dass er wahrscheinlich nie etwas finden und auf der Farm bleiben würde. Und wenn das der Fall war, würde er selbst nur allzu gern daran glauben, womit die Sache erledigt wäre. Er würde bis zur Pensionierung hier wohnen, oder bis Matt beschloss, die Farm zu verkaufen, was für sich allein genommen schon eine Katastrophe wäre.
Er sah Matt an. Er wusste nicht genau, was sein Bruder von seiner Idee hielt. Es war ein großer Schritt, so viel stand fest. Aber hatten damit nicht Matt, Kate und die Mädchen mehr Platz? Sogar beim Immobilienmakler war es ihm peinlich gewesen, seinen Entschluss auszusprechen. Er war fast dreißig – nicht unbedingt das Alter, in dem man verkündete, dass man zum ersten Mal von zu Hause wegzog. Er stellte sich die misstrauischen Blicke vor, die wilden Gerüchte hinsichtlich seiner Beziehung zu seiner Mutter.
»Vielleicht schaue ich mir morgen die eine oder andere Wohnung mal an«, sagte er.
Er konnte nur hoffen. Morgen konnte alles schon ganz anders aussehen.
Nachdem alle gegangen waren, blieb Diane Fry noch eine Weile im Büro. Eine Nachtschicht gab es praktisch nicht, im Polizeirevier wurde es so still wie im Leichenschauhaus. Diese Zeit mochte sie am liebsten, wenn niemand sie ablenkte, wenn sie einen Gedanken zu Ende denken konnte, ohne von singenden Hummern oder – schlimmer noch – von ihren Kollegen unterbrochen zu werden. Andauernd wollte jemand etwas von ihr.
Sie zog einen Umschlag aus einer abgeschlossenen Schublade ihres Schreibtischs, auf dem Ben Coopers Name stand und in dem sich Kopien seiner Personalakten befanden. Sie wusste, wann er hier in Derbyshire in den Polizeidienst eingetreten war, welche Bewertungen er im Lauf seiner Ausbildung erhalten hatte und wo seine erste Einsatzstelle gewesen war. Sie kannte das Datum seiner Versetzung zur Kripo, außerdem verfügte sie über mehrere Zeugnisse seiner Vorgesetzten sowie eine besondere Stellungnahme des Dienststellenleiters zum Tod seines Vaters Joe Cooper, der in Ausübung seiner Pflicht als Polizist gestorben war. Ben hatte damals Trauerurlaub und professionelle Betreuung bekommen. Ein Vermerk besagte: »Keine längerfristigen Probleme.«
Auch die ausnahmslos guten Prüfungsergebnisse seiner Bewerbung für die Beförderung zum Sergeant waren darunter, ebenso wie das Ergebnis der mündlichen Prüfung, in der er seine Bewerbung zurückgezogen hatte. Daraufhin hatte Fry die Stelle bekommen. Ließ sich Coopers verändertes Verhalten darauf zurückführen? Es wäre nur verständlich. Aber sie glaubte nicht, dass es daran lag – obwohl die Enttäuschung, bei der Beförderung, mit der er fest gerechnet hatte, übergangen worden zu sein, der Grund für das gewesen sein mochte, was er ihrer Meinung nach kurz darauf getan hatte. Sie war sich fast sicher, dass er Beweismaterial unterschlagen hatte, zumindest hatte er einen Verdacht nicht weitergegeben, und zwar aus falsch verstandener Loyalität.
Fry berührte die Narbe auf ihrem Gesicht, die verheilt, aber noch nicht verblasst war. Sie hatte keine Beweise für ihre Vermutung, und genau da lag das Problem. Es gab keinen handfesten Beweis. Unbegründete Anschuldigungen gegen einen Kollegen schadeten ihrer Karriere mit Sicherheit ebenso wie alles andere, was sie unternehmen konnte. Insbesondere, wenn sie sich gegen den Liebling des Hauses richteten, jenen Kollegen, der schon sein Leben lang in Eden Valley wohnte und alles und jeden kannte. Solange sie sich ihrer Sache nicht absolut sicher war, ging der Schuss garantiert nach hinten los, wenn sie Stimmung gegen Kollegen machte. Vor allem dann, wenn einer von ihnen im Dienst ums Leben gekommen war.
Sie wusste, dass nichts dem Verhältnis zu ihren Kollegen abträglicher sein konnte. Schon jetzt konnte sie sich vorstellen, wie ihr die anderen Beamten auf dem Korridor auswichen, wie sich die Stimmung in der Führungsebene abkühlte und man sie nach und nach ins Abseits drängte. Bis sie es endlich verstanden hatte und entweder dorthin zurückging, wo sie hergekommen war, in die West Midlands, oder sich gleich ganz aus dem Polizeidienst verabschiedete – wohl wissend, dass es niemanden interessierte, welche Entscheidung sie letztendlich traf.
Als sie daran dachte, wie Ben Cooper heute bei Dienstschluss ausgesehen hatte, verfinsterte sich ihre Miene. Er hatte wieder den lächerlichen Wachsmantel mit den langen Schößen getragen, der diese riesige Innentasche besaß, die er immer als seine Wilderertasche bezeichnete. Der Mantel war dunkelgrün, als wollte er sich damit tarnen. Was ihm im Schnee nicht viel nutzte, da ihn die Farbe für jeden Wildhüter mit einer Schrotflinte zu einem hervorragenden Ziel machte. Aber irgendwie sah er mit dem Mantel aus, als gehörte er ganz und gar hierher – ein Mann, der mit sich und seinem Platz auf der Welt zufrieden war. Und dazu noch diese Tweedmütze, unter deren Schirm man seine Augen kaum sehen konnte!
Fry schüttelte sich. Sie konnte sich bei niemandem über Ben Cooper erkundigen. Vielleicht war ihre Sicht auf ihn ein wenig verzerrt oder ihre Antennen durch die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Problemen abgestumpft. Eins war jedoch sicher: Cooper zog seine Kreise irgendwo jenseits ihres Radarsystems. Aber wenn er seinen Fuß auch nur einen Millimeter danebensetzte, geriet er unweigerlich wieder in ihr Visier. Vielleicht schon morgen.