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Volkstümliche Religion
ОглавлениеDie bäuerliche Kultur war durchdrungen von den Glaubensüberzeugungen der Orthodoxie, die ihrerseits in den Riten und Dogmen der Kirche wurzelten. Überdies gab es viele lokale Heilige, Feiertage und Rituale, dazu folkloristische religiöse Vorstellungen und Praktiken, die von der Kirchenhierarchie bisweilen als „abergläubisch“ oder gar heidnisch verurteilt wurden. Im Mittelpunkt des volkstümlichen Glaubens standen die Muttergottes sowie nationale und lokale Heilige, allen voran St. Nikolaus, der in Reliquien und zahllosen Ikonen verehrt wurde.31 Eine Ikone war nicht lediglich die Darstellung einer Person oder eines Ereignisses in der religiösen Geschichte, sondern ein Medium, das die numinose Anwesenheit des Dargestellten vermittelte. Während die Eucharistie nur von Priestern dargereicht werden konnte, boten Ikonen die Möglichkeit einer Kommunikation mit dem Geheiligten für alle Gläubigen. Heilige überwachten das Wohlergehen von Familie und Dorf, die Gesundheit der Haustiere, die Fruchtbarkeit der Äcker. Sie sorgten für ausgleichende Gerechtigkeit, heilten Krankheiten und boten Schutz vor den Unbillen der Natur.
Das Leben der Dorfgemeinschaft und die bäuerliche Arbeit waren fest eingebunden in die Feiertage des kirchlichen Kalenders. Bisweilen führte die Verehrung lokaler Heiliger oder wundertätiger Ikonen zu Spannungen mit der Kirchenhierarchie, doch gibt es Hinweise darauf, dass die Autoritäten nach 1905 eher bereit waren, Vorgänge und Ereignisse zu tolerieren, die sie vordem als eher heidnisch eingestuft hätten. Die entscheidenden Phasen des Lebenszyklus – Geburt, Heirat, Tod – wurden von den religiösen Ritualen begleitet. So galt etwa ein Neugeborenes, das noch nicht als vollständiger Mensch angesehen wurde, als besonders durch dämonische Mächte gefährdet. Der Geburt folgten die rituelle Beerdigung der Plazenta und die Beratung zwischen Hebamme und Priester, welchen Namen das Kind erhalten solle. Acht Tage nach der Geburt fand die Taufe statt, nach der die Familie mit Freunden ein Festmahl feierte, bei dem Buchweizen gegessen wurde (die aufgequollenen Körner symbolisierten die Geburt). Die Hebamme sprach ein Dankgebet, in dem sie Gottes Segen für das Kind erbat.32 Ansonsten war die bäuerliche Religion um das Dämonisch-Böse zentriert – die „unreine Kraft“, die im Lauf der Jahrhunderte die Gestalt des (christlichen) Teufels angenommen hatte, aber auch noch in den Geistern der Felder, Wälder und Flüsse präsent war. In W. I. Dals Lexikon der Russischen Sprache von 1864 waren mehr als 40 Namen für Teufel und Geister verzeichnet.
Allerdings sollte man daraus nicht schließen, dass die religiöse Kultur keinen Wandel kannte. Die Modernisierung brachte Veränderungen mit sich: Nun konnten Gläubige per Zug auf Pilgerreise gehen, und die zunehmende Alphabetisierung führte zur Lektüre von Zeitungsartikeln und Flugschriften über Wunderheilungen oder die Tätigkeit von charismatischen spirituell Ältesten, während Lithographien zum Kauf von billigen, weil massenhaft produzierten Ikonen animierten. Zwischen 1861 und 1864 war die Anzahl der ländlichen Gemeinden, vor allem im Norden, doppelt so groß wie die der Kapellen. Diese waren verwaltungstechnisch von der Pfarrkirche getrennt, häufig aus dem Bedürfnis heraus, Gedenkfeiern für Ereignisse zu veranstalten, die die Gemeinde mit der russischen Nation verbanden.33 Zwar konnten Migration und Schulunterricht eine distanziertere, individualistischere Ausrichtung des religiösen Glaubens vermitteln, doch wäre es irreführend, von „Säkularisierung“ zu sprechen, da die äußeren Anzeichen nicht auf eine nachlassende Beachtung religiöser Praktiken schließen lassen. So ging z.B. in der Provinz Woronesch die Teilnahme am Gottesdienst zwischen 1860 und 1914 leicht zurück, doch die Pflicht, übers Jahr die Sakramente zu empfangen, blieb davon unberührt.34 Es war mithin eine noch sehr stark religiös orientierte Gesellschaft, in die 1917 ein auf staatlich geförderten Atheismus setzendes Regime einbrach.
Allerdings löste die Revolution von 1905 bei vielen Menschen ein kritischeres Verhältnis zur Kirche aus. Die Popularkultur war schon immer ein Nährboden für Antiklerikalismus gewesen, der sich nun mit einer nachdrücklicheren Kritik an der institutionalisierten Kirche verband. Das war im Wesentlichen eine Reaktion auf die von den Kirchenoberen vorgetragene resolute Verurteilung sozialen Aufruhrs und die damit verbundene Forderung, Eigentumsrechte zu respektieren und den von Gott eingesetzten Autoritäten zu gehorchen. Insbesondere die Bauern warfen begehrliche Blicke auf die 24,3 Millionen Hektar Land, die der Kirche gehörten – was de facto nicht ausreichte, um alle Pfarrbezirke mit der gesetzlich vorgeschriebenen Norm von 47,8 Hektar pro Pfarrbezirk zu versorgen –, während andere das Recht der Gemeindemitglieder auf Wahl ihrer Priester forderten.35 Unter den Arbeitern war das Misstrauen gegenüber der institutionalisierten Kirche ausgeprägter, obwohl dies, wie auf dem Land, nicht bedeuten musste, dass die „Irreligiosität“ auf dem Vormarsch sei, auch wenn viele Geistliche es behaupteten. So war es z.B. noch bis 1917 unter Arbeitern üblich, Kopeken zu spenden, damit Öl für die Ikonenlichter gekauft werden konnte, die an den meisten Arbeitsplätzen zu finden waren.
Über die Jahrhunderte hinweg hatte sich in Russland bei den Eliten wie auch in der breiteren Bevölkerung eine einflussreiche Tradition apokalyptischen Denkens entwickelt, und in den letzten Jahren des Ancien Régime bildete sich bei religiösen Denkern, literarischen Figuren und in der breiten Masse eine apokalyptische Gefühlswelt aus.36 Der amerikanische Historiker James Billington bemerkt dazu: „Nirgendwo in Europa waren Umfang und Intensität der apokalyptischen Literatur vergleichbar mit dem, was in Russland während der Herrschaft Nikolausʼ II. zu finden war. Die bestürzende Niederlage im Krieg gegen Japan 1904/05 und die nachfolgende Revolution weckten in einer außergewöhnlich großen Anzahl von Russen das Gefühl, dass das Leben, so wie sie es bisher gekannt hatten, zu Ende ging.“37 Das war in mancherlei Hinsicht seltsam, weil es in Russland nur bei den protestantischen Denominationen und den Altgläubigen eine Tradition der Bibellektüre gab. Erstere hatten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter ausgebreitet, während Letztere sich in den 1660er Jahren von der Kirche getrennt hatten, weil sie mit den Reformen des Patriarchen Nikon nicht einverstanden waren.
Seraphim von Sarow (1754–1833), der 1903 auf Geheiß des Zaren heiliggesprochen wurde, hatte (in ihm zugeschriebenen Werken) prophezeit, dass das russische Volk Gottes Gnade erst teilhaftig werde, nachdem es unter Menschen gelitten hatte, die den Zaren töten und Gottes Gesetz niedertreten würden. Die Schriften des Johannes von Kronstadt – und die Predigten seiner Anhänger – verbreiteten die Botschaft, dass Russland dem Abgrund entgegengehe. Untermauert wurde das durch entsprechende Geschichten; in einer von ihnen weigert sich Johannes, Kinder zu segnen, die man ihm bringt, weil aus ihnen, wie er prophezeit, „lebendige Teufel“ würden.38 Die apokalyptischen Überzeugungen und Auffassungen waren im Kern politisch reaktionär: leidenschaftlich dem orthodoxen Glauben und der Autokratie verpflichtet, antisemitisch, antidemokratisch, antisozialistisch und antiwestlich.39 Die apokalyptischen Vorstellungen der Volksmassen waren von dem Gefühl durchdrungen, dass Gottes Präsenz in der Menschenwelt nicht mehr wahrzunehmen sei – ein Vorspiel für die Endzeit. Dergleichen zeigte sich z.B. in der Entdeckung, dass sich bei zahllosen Ikonen Form und Farbe wundersam erneuert hatten; ein Phänomen, das in den 1920er Jahren massenhaft beobachtet wurde.