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Politische Angriffe auf die Autokratie

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Joseph Conrad schrieb einmal, es sei „die Besonderheit russischer Charaktere, dass sie, wie immer auch zutiefst beschäftigt mit dem Drama des Handelns, doch zugleich dem Gemurmel abstrakter Ideen lauschen“.106 Die russische Intelligenzija war berühmt für ihre heftigen ideologischen Scharmützel, doch waren die Intellektuellen sich einig in ihrer Gegnerschaft zur Autokratie und ihrem Engagement für das Ideal des autonomen Individuums. Die Intelligenzija war säkularen Werten und der Überzeugung verpflichtet, dass nur mit Hilfe der Wissenschaft Russlands wirtschaftliche und soziale Zurückgebliebenheit überwunden werden könne. Außerdem setzte sie auf Bildung und Erziehung sowie sozialen Fortschritt, um die Kultur der Bevölkerung weiter vorantreiben zu können. Der Terminus Intelligenzija fand seit den 1860er Jahren weite Verbreitung; er benannte eine Schicht, die sich vor allem durch kulturelles, mittels Ausbildung und Talent erworbenes Kapital und nicht so sehr durch den Besitz materieller Güter auszeichnete. Anfänglich stammten viele ihrer Mitglieder aus privilegierten Familien, doch mit der Zeit wuchs die Zahl derer, die aus weniger bevorrechtigten Schichten stammten.

Zu ihnen gehörte Lenins Vater Ilja Uljanow. Er war der Sohn eines tschuwaschischen Schneiders, der an der Universität von Kasan studierte und danach Lehrer für Mathematik und Physik wurde. Er schrieb einige Bücher über Meteorologie und wurde 1869 zum Schulinspektor in der Provinz Simbirsk ernannt. 1882 wurde er wegen seiner Verdienste um die schulische Bildung in den erblichen Adelsstand erhoben. Er richtete ein Ausbildungskolleg für tschuwaschische Lehrer sowie nationale Schulen für Mordwinier und Tataren ein. Lenins Vater verkörperte den typischen liberalen Vertreter der Intelligenzija – ihm ging es darum, die Gesellschaft durch Reformen in Bereichen wie Erziehung und Bildung, Gesundheit, Frauenrechte und die Ausweitung bürgerlicher und politischer Freiheit zu verbessern. Im späten 19. Jahrhundert gehörten dieser gebildeten, aufgeklärten Öffentlichkeit, die von den Zeitgenossen als obschtschestwo bezeichnet wurde (wörtlich: „Gesellschaft“ oder „Öffentlichkeit“), Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte, Geschäftsleute, die Angestellten der Semstwos und städtischen Dumas und sogar Angehörige der Regierungsbürokratie an.107 Durch die Presse und durch Bücher, durch die Beteiligung an öffentlichen Organisationen und gemeinnützigen Gesellschaften verbreiteten sie jene Werte und Ideen, die der Publizist Pjotr Lawrow, ein Mitglied der Narodniki, dem „kritisch denkenden Individuum“ zurechnete.

Revolutionäre wie Lawrow waren in der Intelligenzija zwar eine Minderheit, doch konnten sie sich der Sympathien der Mehrheit sicher sein. Obwohl die revolutionäre Tradition bis zum Dekabristenaufstand von 1825 gegen Nikolaus I. zurückverfolgt werden kann, ist es sinnvoller, als Ausgangspunkt den Sommer 1874 zu wählen, als Hunderte „kritisch denkender Individuen“ „ins Volk gingen“, um in der Bauernschaft den moralischen Imperativ zur Revolte wachzurufen. Allerdings wurden sie der Polizei übergeben. Diese aus der Mittelschicht stammenden Volkstümler, auf Russisch narodniki, glaubten in der dörflichen Gemeinschaft jene Werte von Kollektivismus, Kooperation und Egalitarismus zu finden, auf denen eine sozialistische Gesellschaft errichtet werden könne. Auf diese Weise wären die Übel des Industriekapitalismus zu umgehen. Eine Reaktion auf die Unterdrückung dieser wesentlich friedlichen Bewegung war die Gründung der Gruppe Narodnaja Wolja („Volkswille“) im Jahr 1879. Es war eine konspirative Organisation, die in Terrorakten ein Mittel sah, um Volksaufstände hervorzurufen. Würde man jene Personen, in denen sich die Tyrannei der Autokratie verkörperte, töten, könnte das zu einem revolutionären Aufstand der Volksmassen führen. Zwischen 1879 und 1881 verübte die Gruppe eine Reihe von Attentaten, die (nach etlichen fehlgeschlagenen Versuchen) am 1. März 1881 in der Ermordung Alexanders II. ihren Höhepunkt fand. Doch statt des Volksaufstands gab es Schläge gegen die Bewegung: Einige ihrer Führer wurden gehängt oder nach Sibirien verbannt.108

Aus dem Debakel zogen einige, darunter vor allem Georgi Plechanow, den Schluss, es sei wohl besser, sich dem Marxismus zuzuwenden, mithin einer wissenschaftlicheren und weniger moralisch inspirierten Theorie der Revolution. Für Plechanow, der (zu Recht) als „Vater des russischen Marxismus“ bezeichnet wurde, war die ländliche Gemeinschaft keine embryonische Form des Sozialismus, sondern dem Kapitalismus ausgesetzt, weshalb die Bauernschaft sich entlang von Klassengrenzen aufzuspalten begann. Die Revolution würde nicht von der Bauernschaft, sondern vom Proletariat ausgehen. 1883 war er Mitbegründer der Gruppe Befreiung der Arbeit, die unter den gebildeten Arbeitern der Städte Propagandazirkel betrieb. 1889 fand in Paris der Gründungskongress der internationalen sozialistischen Parteien, die Zweite Internationale, statt, auf der Plechanow die kühne Voraussage tätigte, dass die Russische Revolution „als proletarische Revolution oder überhaupt nicht triumphieren wird“.109

1887 wurde eine Gruppe Terroristen, die ein Attentat auf Alexander III. geplant hatten, gefasst und hingerichtet. Unter ihnen befand sich Alexander I. Uljanow, der Sohn von Ilja Uljanow und der Bruder des damals 17-jährigen Wladimir Iljitsch, der sich später Lenin nannte. Der Tod seines Bruders traf Wladimir tief und veranlasste ihn, sich an der Universität Kasan Studentenprotesten anzuschließen, aufgrund derer er einige Monate später die Universität verlassen musste. Anfänglich war er, wie sein Bruder, vom Terrorismus der Narodnaja Wolja beeindruckt, doch zog ihn schließlich der Marxismus stärker an.110 Obwohl der Marxismus den Terror als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele und insbesondere der Revolution ablehnte, behielt Lenins Version immer etwas von dem Elan der terroristischen Tradition Russlands, die auf die gewaltsame Abschaffung des bestehenden Staates drängte. Und noch auf andere Weise war Lenins Marxismus von der revolutionären Tradition Russlands geprägt, für die Denker wie Nikolaj Tschernyschewski, Sergej Netschajew oder Pjotr Tkatschow standen. Sie betonten die Notwendigkeit einer disziplinierten revolutionären Avantgarde, waren davon überzeugt, dass die voluntaristische Aktion (der „subjektive Faktor“) den „objektiv“ determinierten Geschichtsverlauf beschleunigen könne, verteidigten die jakobinischen Methoden der Diktatur und verachteten Liberalismus und Demokratie (und besonders jene Sozialisten, die dergleichen schätzten). Marx und Engels kritisierten die z.B. von Tkatschow gehegten Vorstellungen von revolutionärer Avantgarde und „Kasernenhofkommunismus“, doch Lenin rühmte sein „besonderes Talent als Organisator und Verschwörer wie auch die Fähigkeit, seine Gedanken in erstaunliche Formulierungen zu kleiden“.111 In mancher Hinsicht war Lenin ein vollkommenerer Marxist als Marx selbst, denn er war nicht nur ein bedeutender Theoretiker, sondern, anders als sein Mentor, ein unermüdlicher Aktivist.112

1895 kehrte Lenin von seiner ersten Auslandsreise zurück und war mittlerweile ein wirksamer öffentlicher Kritiker der Volkstümler. Zusammen mit Julius Martow gründete er in St. Petersburg den Kampfbund für die Befreiung der Arbeiterklasse. Er widmete sich nicht der Propaganda, sondern der „Agitation“, eine Taktik, die zuerst von jüdischen Arbeitern im Ansiedlungsrayon in den westlichen Provinzen entwickelt worden war und der es darum ging, die ökonomischen Kämpfe der Arbeiter zu politisieren.113 Diese neue Taktik schien sich zu bewähren, als im Mai 1896 30.000 Textilarbeiter in der Hauptstadt in den Streik traten. Zu diesem Zeitpunkt waren Lenin und Martow in Haft, und im Januar 1897 wurden das frisch verheiratete Ehepaar Lenin und Nadeschda Krupskaja, die selbst eine bedeutende revolutionäre Aktivistin war, für drei Jahre nach Sibirien verbannt. Während dieses Exils wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) gegründet, die ihren Ersten Kongress 1898 in Minsk abhielt. Ihr Manifest hatte Peter Struve geschrieben, der bald darauf zu den Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) wechselte. In diesen Jahren ging es vor allem darum, welche Haltung die Marxisten zur liberalen Opposition einnehmen sollten.

Der marxistischen Theorie zufolge würde die kommende Revolution „bürgerlich-demokratischer“ Provenienz sein, weil die sozioökonomischen Bedingungen für eine sozialistische Revolution in Russland noch nicht gegeben waren. Der Streit um die Haltungsfrage lag der Auseinandersetzung zugrunde, die die SDAPR auf ihrem Zweiten Kongress 1903 in eine bolschewistische und eine menschewistische Fraktion spaltete. Die Menschewiki, zu denen auch Lenins Freund und Genosse Martow gehörte, sahen die Liberalen als Verbündete der Arbeiterklasse in der bürgerlich-demokratischen Revolution, wohingegen die von Lenin geführten Bolschewiki für die Liberalen nur Verachtung übrighatten und davon ausgingen, dass die bürgerlich-demokratische Revolution vom Proletariat im Bündnis mit den ärmeren Schichten der Bauernschaft durchgeführt werden würde. Im Exil verfasste Lenin eine umfangreiche theoretische Studie mit dem Titel Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, die 1898 veröffentlicht wurde. Lenin hatte hier eine Menge an empirischen Daten verarbeitet, um zu zeigen, dass sich der Kapitalismus auch auf dem Land entwickelte und die Bauernschaft sich klassenmäßig differenzierte. So konnte er das politische Potential der Bauernschaft, allen voran der „armen Bauern“, positiv einschätzen und in ihr einen Bündnispartner der Klasse der Industriearbeiter für eine bürgerliche Revolution sehen.114

Im Dezember 1900 brachte die SDAPR die erste Nummer von Iskra („Funke“) heraus. Diese illegale Zeitung sollte in den nächsten Jahren Tausende von Arbeitern zum Eintritt in die neue Partei bewegen. Im Allgemeinen griffen die Arbeiter gern auf das zurück, was die Intellektuellen für die Bewegung taten – Flugblätter verfassen, Reden halten, Gelder auftreiben, für den Fortbestand und die Wirksamkeit einer notwendigerweise geheimen, konspirativen Organisation sorgen. Weniger erfreut waren sie, wenn lokale Parteigruppen von Angehörigen der Intelligenzija beherrscht wurden.115 In einer Schrift von 1902 mit dem Titel Was tun?, die größeren Einfluss gewann, als sie es möglicherweise verdiente, vertrat Lenin die Überzeugung, dass die Autokratie nur gestürzt werden könne, wenn es eine im Untergrund arbeitende Organisation von „Berufsrevolutionären“ gebe, die sich in der marxistischen Theorie ebenso auskenne wie mit den Regeln der Verschwörung. Viel wurde über seine Ansicht diskutiert, dass Arbeiter aus eigener Kraft nur zu einem „gewerkschaftlichen Bewusstsein“ gelangen könnten, weshalb Intellektuelle die Aufgabe hätten, ihren Kämpfen ein politisches Bewusstsein zu verschaffen. Doch sieht es so aus, als erwartete er, dass sich aus der Arbeiterklasse nach und nach ein Kader von Berufsrevolutionären herausbilden würde, und als 1905 die Revolution ausbrach, begrüßte er die „Spontaneität“ der Arbeiterklasse. Ganz sicher ging er davon aus, dass die Kämpfe der Arbeiter allein noch keine Revolution bewirken würden. Ihr revolutionäres Potential ließe sich nur mit der Führung durch eine organisatorisch disziplinierte und ideologisch einheitliche politische Partei voll ausschöpfen. Die Menschewiki sahen im Modell der Avantgardepartei die Gefahr, dass die Berufsrevolutionäre sich an die Stelle der Arbeiterklasse setzten, und sie standen auch Lenins restriktiven Kriterien für eine Mitgliedschaft in der Partei kritisch gegenüber. Diese Bedenken beschleunigten auf dem Zweiten Kongress der SDAPR, der in London seinen Abschluss fand, die Spaltung der jungen Partei in Bolschewiki und Menschewiki.

Keine Unterdrückung hatte die typisch russische Tradition der Volkstümler oder Sozialrevolutionäre, der Narodniki, zum Verschwinden bringen können. Mitte der 1890er Jahre ließen altgediente Narodniki in mehreren Regionen ihre organisatorischen Aktivitäten wieder aufleben, und ab 1900 veröffentlichten sie eine einflussreiche Zeitschrift mit dem Titel Revolutionäres Russland. Wiktor Tschernow, der Sohn eines ehemaligen Leibeigenen, reicherte die Ideologie der Narodniki mit marxistischer Klassenanalyse an, weil er die kapitalistische Entwicklung in den russischen Städten erkannt hatte. Er hielt es für notwendig, dass Industriearbeiter und Bauern gemeinsam den Fortschritt des Kapitalismus auf dem Lande aufhalten müssten, indem sie die Großgrundbesitzer enteigneten. Diese „Sozialisierung des Landes“ würde dann wiederum die Ausbreitung des Industriekapitalismus begrenzen. 1902 wurde die Sozialrevolutionäre Partei (SR) gegründet, ihrem Wesen nach eine konspirative Organisation ohne Programm, doch energisch auf die Agitation der Massen ausgerichtet. Allerdings fielen die ersten Resultate recht mager aus: Über mehr als ein paar bäuerliche Brüderschaften kam man nicht hinaus. Berüchtigt war die neue Partei, weil sie die Tradition des Terrorismus wieder aufgriff; ihre Kampforganisation führte eine Reihe spektakulärer Attentate auf verhasste Regierungsbeamte durch. Doch war, wie im Hinblick auf die SDAPR, bis zur Revolution von 1905 ihr Einfluss auf bestenfalls einige tausend Personen beschränkt.116

Das Vorspiel zur Revolution brachten nicht die Revolutionäre auf die Bühne, sondern die liberale Opposition. Als Reaktion auf die Hungersnot von 1891 und den Versuch von Alexander III., ihre Kompetenzen zu beschneiden, betraten die Semstwos den politischen Schauplatz. 1895 richteten die Vorstände der Semstwos, die immer noch überwiegend dem Landadel entstammten, an den neuen Zaren, Nikolaus II., eine Petition, in der sie um eine nationale Vertretung baten. Nikolaus schmetterte die Bitte als „sinnlosen Traum“ ab. 1899 gingen die Studenten in St. Petersburg nach einem Zusammenstoß mit der Polizei in den Streik, um gegen deren umfassende Befugnisse zu Verhaftung, Haft, Durchsuchung und Abfangen von Post zu protestieren. Im November 1904 gingen die Leiter der Semstwos noch einen Schritt weiter und riefen einen halblegalen Kongress zusammen, auf dem Forderungen nach bürgerlichen Freiheiten und einer Volksvertretung erhoben wurden. Jedoch war es der katastrophale Verlauf des Kriegs gegen Japan, der die gebildete Öffentlichkeit dazu trieb, politische Reformen zu fordern. Der Krieg zeigte mit aller Deutlichkeit, wie schlecht es um Führungskräfte, Ausrüstung und Ausbildung der russischen Armee bestellt war, und ließ, wie es schien, Rückschlüsse auf den maroden Zustand des politischen Systems zu.

Im Januar 1904 half Peter Struve, nunmehr ein Liberaler, bei der Gründung der Befreiungsunion, einem im Untergrund wirkenden lockeren Bündnis, das auf die Einführung einer konstitutionellen Monarchie, des allgemeinen Wahlrechts und die Selbstbestimmung für die nicht-russischen ethnischen Gruppen drängte. Liberale Gruppen organisierten landesweit eine Reihe von Sitzungen und Banketten, die zumeist die Resolution des Semstwo-Kongresses unterstützten. Einige forderten eine konstituierende Versammlung, um über die zukünftige Form der Regierung zu bestimmen.117 Trotz aller Bemühungen des politisch moderaten Innenministers, Prinz P. D. Swjatopolk-Mirski, der gerade Nachfolger des von der Kampforganisation der Sozialrevolutionäre ermordeten Wjatscheslaw von Plehwe geworden war, machte Nikolaus nur vage Versprechungen und weigerte sich, im Hinblick auf das entscheidende Problem der politischen Repräsentation kompromissbereit zu sein. Da die Regierung die Stärke der Opposition gravierend unterschätzte, war einer Revolution der Boden bereitet.

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