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Jesus’ People – Ein geistliches Zukunftslabor der Kirche

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Die Lage ist ernst: Die großen evangelischen Volkskirchen in Westeuropa stecken in einer tiefen Krise. Sie verlieren unaufhaltsam Mitglieder und gesellschaftlichen Einfluss, ihre Ausstrahlungskraft und Relevanz ist für viele Menschen weggeschmolzen. Die Gemeinden finden sich im kräftigen Gegenwind einer postmodernen Gesellschaft, in der Menschen zunehmend indifferent leben, ohne Kirche, ohne Gebet, ohne Glauben, ohne Rituale – oder zumindest ohne die von den Gemeinden tradierten und angebotenen Formen. Das Gewohnte ist wie die gesamte Gesellschaft im Umbruch: Andere Religionen sind präsent; schwieriger noch als ein aggressiver Atheismus ist die wachsende Gleichgültigkeit vieler Menschen. Und es tröstet nicht, dass es der römisch-katholischen Kirche oder den Freikirchen in diesem Umbruch ähnlich ergeht.

Doch die Lage ändert sich: Die anglikanische Kirche von England ist in unserem westeuropäischen Umfeld so etwas wie ein „Hot Spot“, ein aufregendes Labor für Innovation und Veränderung. Eine traditionelle Volkskirche der reformatorischen Tradition, Mutter einer weltweiten Kirchen-Gemeinschaft, gerät im 20. Jahrhundert in eine tiefe Krise. Der Abbruch war jahrzehntelang schleichend spürbar, wurde aber lange ignoriert. Erst als Menschen in Scharen die Kirche verließen, bekamen auch leere Gottesdienste, kleine Mitgliederzahlen, geringe Finanzkraft und baufällige Gebäude ein Gewicht, das sich nicht mehr ignorieren ließ.

Parallel dazu begann eine Graswurzel-Bewegung2 des Aufbruchs, die lange ebenso übersehen wurde: Gemeinden, kirchliche Dienste und Bistümer begannen, sich auf die Menschen auszurichten, die sie bisher nicht erreicht hatten. Sie brachen dorthin neu auf, wo unerreichte Menschen leben. Diese Bewegung führte heraus aus angestammten Formen, alten Gebäuden, gewohnten Lebensstilen oder vertrauten Kulturen.

Wichtiger Teil dieser innovativen Bewegung sind „Fresh Expressions of Church“, neue Ausdrucksformen von Gemeinde und Kirche. Zellen, Gemeinschaften oder Gemeinden werden neu gegründet in Netzwerken oder Lebenswelten, unter Skatern, Schülern oder Surfern, an ungewohnten Orten wie Cafés, Schulen oder Supermärkten. Gewachsene Gemeinden senden Teams in Stadtteile oder Orte ohne christliche Präsenz aus, neue Gottesdienste am Abend oder in der Woche erreichen Menschen, die durch traditionelle Zeiten oder Formen ausgeschlossen sind. Eine unglaubliche Fülle von Aufbrüchen und Formen hat sich entwickelt.

Parallel sind Tausende von Ortsgemeinden wieder lebendiger geworden, haben sich geöffnet, Profil entwickelt, sich investiert in die Wunden oder Herausforderungen ihres Gemeinwesens und zugleich mit neuer Leidenschaft das Evangelium verbreitet. Glaubenskurse sind so etwas wie eine Massenbewegung geworden, die Gottesdienstlandschaft ist unüberschaubar geworden, der Mut zu Risiko und Innovation hat weite Teile dieser Volkskirche erfasst.

Wer von uns in der Kirche engagiert ist, kann schleichend müde werden im Alltagsgeschäft: Irgendwann merken wir, dass Auftrag und Vision, Freude und Begeisterung seit langem auf der Strecke geblieben sind. Menschen, die sich diesem Sog entziehen, die uns auf die Fährte der Freude zurückführen, sind dann unersetzlich. Steven Croft, Bischof von Sheffield, hat diese seltene Gabe: Ebenso bildhaft und einleuchtend wie theologisch fundiert und in tiefer Liebe zur Kirche entwirft er eine geistliche Sicht der kommenden Kirche. Er geht dafür zurück an den Anfang der Bergpredigt, zu den Seligpreisungen. Er schaut von dort auf Jesus, dessen Wesen die Prägeform seiner Kirche ist – und immer wieder werden muss.

Der englische Titel des vorliegenden Buches ist ein unübersetzbares Wortspiel: Jesus’ people. Das Volk, die Leute von Jesus – und zugleich us: wir sind gemeint, wir sind das Volk. Im Text werden Sie diese englische Formulierung gelegentlich unübersetzt wiederfinden, weil sie so griffig ist.

Zwei kurze Fragen stellt Croft: Wozu ist die Kirche da? Und: Wie soll die Kirche aussehen? – Seine verblüffend einfache Antwort: Sie soll mehr wie Jesus, sie soll ihm ähnlicher werden. Ich gestehe: Das verliere ich im Lauf der Jahre häufig aus den Augen. Steven Croft hilft, zu dem einfachen und elementaren Kern der Kirche zurückzufinden: Kirche soll das Wesen Jesu widerspiegeln. Eine schwache und geistlich hungrige Kirche hat Zukunft, weil sie nicht aus ihren eigenen Quellen leben muss.

Welche Sprengkraft diese Antwort für uns in Kirche und Gemeinde entwickelt? Dazu müssen Sie dieses Buch lesen. Am besten im Austausch mit anderen, Sie finden am Ende jedes Kapitels einige kurze Fragen zum Gesprächseinstieg. An einigen Stellen sind Anmerkungen eingefügt worden, die die englische Situation für deutsche Leserinnen und Leser verdeutlichen. Alle Anmerkungen für diese deutsche Ausgabe stammen von Christiane Vorländer (Köln) und Hans-Hermann Pompe (Dortmund).

Dieses Buch ist für diejenigen, die den missionarischen Aufbruch und die radikalen Veränderungen einer europäischen Volkskirche verstehen und für uns in Deutschland auswerten wollen. Es ist für alle, die sich nach einer von Jesus Christus geformten Kirche sehnen. Und für alle, denen die Zukunft der Kirche Jesu in Deutschland nicht egal ist.

Hans-Hermann Pompe

Leiter des EKD-Reformzentrums Mission in der Region (Dortmund, Stuttgart, Greifswald)

PS: Wenn Sie mehr über die Umbrüche in der anglikanischen Kirche erfahren wollen, empfehle ich Ihnen drei Bücher. Der Bericht „Mission shaped church“ für die Synode der anglikanischen Kirche liegt in einer hervorragend kommentierten Ausgabe auf Deutsch vor: M. Herbst (Hg.), Mission bringt Gemeinde in Form (BEGPraxis 2008). Den aktuellen Reiseführer für Menschen, die mit der deutschen und der englische Kirche zu tun haben, humorvoll aus der Hand eines Vorgängers von Steven Croft geschrieben: John Finney, To Germany with love. Die Evangelische Kirche in Deutschland aus der Sicht eines Anglikaners (BEGPraxis 2011). Und den Berichtband der Konferenz über neue Gemeindeformen mit einem Beitrag von Steven Croft: H. Hempelmann / M. Herbst / M. Weimer (Hg.), Gemeinde 2.0. Frische Formen für die Kirche von heute (BEGPraxis 2011).

2 Englisch: „grass-roots movement“, bezeichnet eine politische oder gesellschaftliche Initiative, die aus der Basis der Bevölkerung kommt.

Format Jesus. Unterwegs zu einer neuen Kirche

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