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Die Geschichte vom Versagen: Lüge oder Wahrheit?

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Der Großteil der Kirche hat die Geschichte von unserem Versagen geschluckt – in einem Stück und ohne zu kauen. Entweder jemand anderes ist schuld oder wir selbst. Und dieser Überzeugung sind nicht nur Pfarrer, sondern auch ganz normale Gemeindeglieder und all jene, die auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene in den Planungsgremien sitzen. Aber interpretiert diese Deutung eigentlich unseren aktuellen Kontext richtig? Und wenn nicht – wo sollen wir ansetzen?

Als ich Pfarrer wurde, war ich 29 und noch sehr grün hinter den Ohren (es gibt Leute, die meinen, dass es immer noch leicht grün schimmert). Ken, einer der Lektoren meiner damaligen Gemeinde, war ein Christ mit viel Erfahrung. Er nahm mich bei der Hand wie ein Oberfeldwebel einen frisch von der Kadettenschule kommenden Jungoffizier. Zu den besten Dingen, die er mich gelehrt hat, gehört das, was er „den Früchtetest“ nannte. Jesus sagt, dass wir unter anderem diesen Früchtetest überall anwenden müssten:

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte.“

(Matthäus 7,16-17)

Ignatius von Loyola, einer der großen Heiligen, hat ein ähnliches Prinzip entwickelt, um herauszufinden, was Gottes Wille ist – nur ist der Titel weniger einprägsam. Unsere Theorie vom Versagen besteht den Früchtetest jedenfalls nicht. Denn wie sehen die Früchte aus, die sie hervorbringt? Schuldzuweisung und Spaltung, Zynismus und Verzweiflung. Das sind weder Früchte des Heiligen Geistes noch Zeichen dafür, dass Gott seine Hand im Spiel hatte. Aber es gibt noch weitere Gründe, sich gegen diese Theorie zu entscheiden.

Die Theorie vom Versagen basiert auf dem Mythos, dass es vor vielen Generationen ein goldenes Zeitalter des britischen Christentums gegeben hat, von dem wir uns entfernt haben. Historischen Untersuchungen hält dieser Mythos allerdings nicht stand. Denn in jeder Phase der Kirchengeschichte gibt es, wenn wir genauer hinsehen, Gutes und Schlechtes zu entdecken. Zu Zeiten der größten Exzesse mittelalterlichen Papsttums gab es auch die Einfachheit eines Franz von Assisi. Und als die Kirche nur noch trockene Formelhaftigkeit zu sein schien, hat Gott Menschen wie Whitfield und Wesley ihr Werk tun lassen. Seit den Tagen der Apostelgeschichte sind christliches Zeugnis und kirchliches Leben ein ständiger Kampf und die Kirche war nie frei von Fehlern. Für jeden Petrus und jeden Johannes gibt es einen Hananias und einen Zauberer Simon.

Wohlgemerkt, ich will nicht leugnen, dass die Loyalität der Menschen dem christlichen Glauben gegenüber nachlässt oder dass die Lage ernst ist – nur weil ich die Existenz einer Zeit, in der alles perfekt war, als Erfindung entlarven will. Aber ein goldenes Zeitalter hat es nie gegeben.

Die Theorie vom Versagen lässt uns auch die Augen davor verschließen, was im Augenblick in unserer Kirche an wirklich guten Dingen geschieht. Wir nehmen sie gar nicht mehr wahr, denn sie passen nicht zu dem Drehbuch, dass alles rückläufig ist und vor die Hunde geht und wir selbst oder jemand anderes daran schuld sind. Ich habe mit vielen Menschen über die positiven Entwicklungen geredet, die durch die neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in Gang gekommen sind. Mir ist dabei immer wieder aufgefallen, dass es Gruppen gibt, die nicht bereit sind, sie mit an Bord zu nehmen. Neues Wachstum und neue Hoffnung in der britischen Kirche – anscheinend darf es das nicht geben, jedenfalls nicht, wenn man die Welt aus der Sicht dieser Menschen betrachtet. Die Geschichte insbesondere der etablierten Kirche muss eine Tragödie mit bösem Ende sein, auch wenn alles, was sie sehen und hören, eine andere Sprache spricht. Für ihr Identitätsgefühl ist es wichtiger, das Konstrukt einer tragischen Geschichte aufrechtzuerhalten, als anzuerkennen und für wahr zu halten, wie die Kirche vor ihren Augen wächst und sich erneuert. I-Aah3 lässt grüßen – aus vielen Gemeinden, Synoden und Interessensgruppen. Im letzten Buch des Narnia-Zyklus beschreibt C.S. Lewis eine Gruppe von Zwergen, die zum großen Bankett am Ende der Zeiten eingeladen sind. Aber weil sie so voll Zynismus und Verzweiflung sind, können sie all die guten Dinge, die es dort gibt, weder sehen noch genießen. Sucht man solcherlei Gruppen in den Leitungsgremien von Kirche und Gemeinden, wird man nur allzu schnell fündig. Aber sie müssen herausgefordert werden.

Es gibt noch einen letzten Grund – und eigentlich ist er der wichtigste –, warum ich nicht an die Deutung vom Versagen glaube: Sie ist einfach zu kirchenzentriert. Wir haben in den vergangenen hundert Jahren einen massiven Wandel unserer Gesellschaft erlebt. In diesen Zeitraum fallen zwei Weltkriege, eine grundlegende Verschiebung der Stellung Europas im Gefüge der Welt, ein immenser technologischer Wandel, wirtschaftliche Veränderungen, die immer noch überraschend sind, politische Richtungsänderungen jeglicher Art, philosophische und kulturelle Revolutionen. Die Kirche war Teil all jener Veränderungen, aber sie war nicht die treibende Kraft. All die kulturellen Veränderungen auf den verschiedensten Ebenen haben dazu geführt, dass sich auch die Beziehung zwischen Kirche und Gesellschaft immer wieder verschoben hat. Die Kirche für diese Verschiebungen allein verantwortlich zu machen bedeutet ganz einfach, ihr eine zu große Bedeutung beizumessen. Wir sind – wie die Jünger – mitten in einen Sturm geraten. Und es wäre töricht zu denken, wir hätten den Sturm durch unser Tun ausgelöst.

In der Bibel finde ich viele Hinweise darauf, dass das Volk Gottes oft von kulturellen Umbrüchen betroffen war. Es musste darauf reagieren, aber es hat sie nicht ausgelöst. Der Dienst des Propheten Samuel verlief am Ende seines Lebens nach einem geregelten Muster: Einmal im Jahr sprach er Recht im Volk Israel und hielt ansonsten die Ordnung aufrecht. Aber er lebte, genau wie wir heute, in einer Zeit des schnellen Wandels. Es gab viel Bewegung unter den Völkern durch Migration. Es gab einen tiefgreifenden technologischen Wandel, weil die Bronze durch Eisen ersetzt wurde. Es gab wirtschaftliche Verschiebungen in den großen Reichen nördlich und südlich von Israel. Und Religion und Werte veränderten sich, weil die genannten Faktoren eine Bedrohung für das Leben in Israel waren.

Das Volk Gottes musste auf die massiven Veränderungen reagieren, aber es hat sie nicht herbeigeführt. 1. Samuel 8 erzählt, wie Israel um einen König bat. Die neue Gesellschafts- und Regierungsstruktur sollte der Nation die Chance geben, in dem sich wandelnden Kontext zu überleben und zu gedeihen. Samuel wusste erst nicht so recht, wie er mit der Anfrage umgehen sollte. Er war zunächst einmal geneigt, anderen und sich selbst die Schuld zu geben. Aber letztendlich akzeptierte er, dass eine Veränderung wirklich nötig war und verbrachte den Rest seiner Dienstjahre damit, diese voranzutreiben.

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