Читать книгу Nichts zu verlieren / In aller Stille - Sue Grafton - Страница 11
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ОглавлениеIch fuhr zeitig ins Büro, um das Expose für Nikkis Akte zu tippen, in dem ich kurz darauf hinwies, wozu ich engagiert worden war und daß ich einen Scheck über 5000 Dollar als Vorschuß erhalten hatte. Dann rief ich Charlie Scorsonis Büro an. Seine Sekretärin sagte, er sei gegen Mitte des Nachmittags vorübergehend frei, also vereinbarte ich einen Termin für Viertel nach drei und verwandte den Rest des Morgens auf Hintergrundforschung. Wenn man zum erstenmal jemand befragt, ist es immer nützlich, ein paar Informationen in petto zu haben. Ein Besuch bei der Kreisverwaltung, bei der Auskunftei und im Zeitungsarchiv lieferte mir genügend Fakten, um eine grobe Skizze des früheren Sozius von Laurence Fife zu entwerfen. Charlie Scorsoni war offenbar ledig, besaß ein eigenes Haus, zahlte seine Rechnungen pünktlich, trat hin und wieder als Versammlungsredner für eine ehrenwerte Sache ein – kurz, er war ein ziemlich konservativer Mann mittleren Alters, der weder spielte noch an der Börse spekulierte und sich in keiner Weise gefährdete. Ich hatte ihn verschiedentlich bei dem Prozeß gesehen und ihn als etwas übergewichtig in Erinnerung. Sein jetziges Büro war von meinem aus zu Fuß erreichbar.
Das Gebäude selbst sah aus wie eine Maurenfestung: zwei Stockwerke aus Adobeziegeln mit zwei Fuß tiefen Fenstersimsen, in die schmiedeeiserne Gitter eingelassen waren, und ein Eckturm, der wahrscheinlich die Toiletten und Besen beherbergte. Scorsoni und Powers, Rechtsanwälte, saßen im Oberstock. Ich stieß eine massive Tür aus geschnitztem Holz auf und befand mich in einem kleinen Empfangsraum, dessen Teppichboden weich wie Moos unter den Füßen war und auch ungefähr den gleichen Farbton hatte. An den weißen Wänden hingen abstrakte Aquarelle in verschiedenen zarten Variationen, und hier und dort waren Pflanzen; zwei dicke Sofas aus spargelgrünem Breitkord standen im rechten Winkel zueinander unter einer Reihe schmaler Fenster.
Die Sekretärin der Firma sah aus wie Anfang Siebzig, und ich dachte zuerst, sie sei vielleicht von irgendeiner Altenagentur ausgeliehen worden. Sie war dünn und energisch, mit einem Bubikopf direkt aus den zwanziger Jahren und einer »poppigen« Brille, die ein Kristallschmetterling am unteren Rand des einen Glases zierte. Sie trug einen Wollrock und einen hellen, malvenfarbenen Pullover, den sie selbst gestrickt haben mußte, denn er war ein Meisterwerk aus Waben, Kornähren, Zöpfen, Perl- und Picotmustern. Sie und ich wurden sofort Freundinnen, als ich sie deswegen lobte – hatte doch meine Tante mir ein Bewußtsein für solche Leistungen anerzogen –, und bald redeten wir uns beim Vornamen an. Der ihre war Ruth, sehr schön biblisch.
Sie war ein geschwätziges kleines Ding, voller Elan, und ich fragte mich, ob sie nicht genau richtig für Henry Pitts wäre. Da Charlie Scorsoni mich warten ließ, rächte ich mich damit, daß ich Ruth so viele Auskünfte entlockte, wie ich konnte, ohne unverschämt zu erscheinen. Sie erzählte mir, daß sie für Scorsoni und Powers schon seit der Gründung ihrer Partnerschaft vor sieben Jahren arbeitete. Ihr erster Mann hatte sie wegen einer jüngeren Frau (fünfundfünfzig) sitzenlassen, und Ruth, zum erstenmal seit Jahren auf sich gestellt, verzweifelte fast daran, jemals eine Anstellung zu finden, da sie damals zweiundsechzig war, »wenn auch bei bester Gesundheit«, wie sie sagte. Sie war schnell, fähig und wurde natürlich alle naselang von Frauen ausgespielt, die nur ein Drittel ihres Alters hatten und hübsch waren, statt kompetent zu sein.
»Was ich noch an Kurven habe, da sitze ich drauf«, meinte sie und lachte sich gleich selber aus. Ich gab Scorsoni und Powers mehrere Punkte für ihre Urteilskraft. Ruth hatte nichts als begeisterte Worte für die beiden. Ihre Schwärmereien bereiteten mich allerdings kaum auf den Mann vor, der über den Schreibtisch hinweg meine Hand schüttelte, als ich endlich mit fünfundvierzig Minuten Verspätung in sein Büro vorgelassen wurde.
Charlie Scorsoni war stämmig, aber alles Übergewicht, an das ich mich zu erinnern meinte, war verschwunden. Er hatte dichtes, sandfarbenes Haar, das an den Schläfen zurückwich, breite Kiefer, ein gespaltenes Kinn und blaue Augen, die hinter einer großen randlosen Brille noch größer aussahen. Sein Hemdkragen stand offen, die Krawatte saß schief, die Ärmel waren so weit aufgerollt, wie seine muskulösen Unterarme es erlaubten. Er lehnte zurückgekippt in seinem Drehstuhl, die Füße auf der Schreibtischkante, und in seinem langsam aufsteigenden Lächeln glomm verhaltene Sexualität. Er wirkte abwartend, wach, und er widmete sich meinem Anblick mit beinah verwirrender Aufmerksamkeit fürs Detail. Er verschränkte die Hände über dem Kopf. »Ruth sagte mir, Sie haben ein paar Fragen über Laurence Fife. Was gibt’s?«
»Ich weiß noch nicht. Ich untersuche seinen Tod, und es schien mir logisch, hier damit anzufangen. Darf ich mich setzen?«
Er winkte fast nachlässig mit der einen Hand, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Ich nahm Platz, und Scorsoni setzte sich gerade.
»Ich habe gehört, daß Nikki auf Bewährung draußen ist«, sagte er. »Wenn sie behauptet, sie hätte ihn nicht umgebracht, ist sie verrückt.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich für sie arbeite.«
»Na, sonst würde weiß Gott kein Hahn danach krähen.«
»Mag sein. Sehr erfreut sind Sie anscheinend nicht.«
»Hey, langsam. Laurence war mein bester Freund. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen.« Sein Blick war direkt und etwas Stachliges lag unter der Oberfläche – Kummer, falsch angebrachter Zorn. Es war schwer zu bestimmen.
»Haben Sie Nikki gut gekannt?« fragte ich.
»Mir hat es genügt.« Die sexuelle Ausstrahlung, die anfangs so spürbar gewesen war, klang ab, und ich fragte mich, ob er sie ein- und ausschalten konnte wie eine Heizung. Jedenfalls war er jetzt auf der Hut.
»Wie haben Sie Laurence kennengelernt?«
»Wir waren zusammen auf der Universität in Denver. Die gleiche Verbindung. Laurence war ein Playboy. Alles fiel ihm zu. Auch das Jurastudium. Er wechselte nach Harvard, ich an die Arizona State. Seine Familie hatte Geld. Meine hatte keins. Ich verlor ihn ein paar Jahre aus den Augen, und dann hörte ich, er hätte hier in der Stadt eine Anwaltspraxis eröffnet. Also kam ich her und sprach mit ihm über die Möglichkeit, für ihn zu arbeiten, und er war einverstanden. Zwei Jahre später machte er mich zum Teilhaber.«
»War er damals mit seiner ersten Frau verheiratet?«
»Jaja, Gwen. Sie ist immer noch irgendwo in der Stadt, aber ich würde sie mit Vorsicht genießen. Sie war furchtbar verbittert zum Schluß, und ich habe gehört, daß sie ihm allerhand nachsagt.«
Er behielt mich im Auge, und ich gewann den Eindruck, er wußte genau, wieviel er mir sagen würde und wieviel nicht.
»Was ist mit Sharon Napier? Hat sie lange bei ihm gearbeitet?«
»Sie war bei ihm, als ich einstieg, hat aber herzlich wenig getan. Zu guter Letzt suchte ich mir eine eigene Kraft.«
»Mit Laurence ist sie gut ausgekommen?«
»Soweit ich weiß. Sie blieb noch, bis der Prozeß vorbei war, dann schob sie ab. Sie hat mich um einiges Geld geprellt, das ich von ihrem Gehalt vorausgezahlt hatte. Falls Sie ihr über den Weg laufen, würde ich es gern erfahren. Ihr eine Rechnung schicken oder so was, nur damit sie weiß daß ich die alten Zeiten nicht vergessen habe.«
»Sagt Ihnen der Name Libby Glass etwas?«
»Wer?«
»Sie war die Buchhalterin, die unten in L. A. Ihre Finanzen betreut hat. Sie arbeitete bei Haycraft und McNiece.«
Scorsoni sah noch einen Augenblick verständnislos drein und schüttelte den Kopf. »Was hat die damit zu tun?«
»Sie wurde ebenfalls mit Oleander umgebracht, genau um die Zeit, als Laurence starb«, sagte ich. Es schien weder besonderen Schrecken noch Bestürzung bei ihm hervorzurufen. Er verzog skeptisch die Unterlippe und zuckte die Achseln.
»Das ist mir zwar neu, aber ich nehme Ihr Wort dafür«, sagte er.
»Sind Sie ihr nie begegnet?«
»Doch, bestimmt. Laurence und ich teilten uns die Schreibarbeit, aber er hatte den meisten direkten Kontakt mit den Prüfern. Hin und wieder habe ich allerdings mitgemischt, also bin ich ihr wahrscheinlich auch irgendwann über den Weg gelaufen.«
»Er soll ein Verhältnis mit ihr gehabt haben«, tippte ich an.
»Ich klatsche nicht gern über Tote«, entgegnete Scorsoni.
»Ich auch nicht, aber herumgespielt hat er doch«, sagte ich behutsam. »Ich will gar kein Aufhebens davon machen, aber im Prozeß haben eine Menge Frauen das bezeugt.«
Scorsoni lächelte den Kasten an, den er auf seinen Kanzleiblock zeichnete. Der Blick, den er mir dann zuwarf, war listig.
»Na, ich kann dazu folgendes sagen: Erstens, der Mann hat sich nie jemandem aufgedrängt. Und zweitens, ich glaube nicht, daß er sich mit einer Geschäftspartnerin eingelassen hätte. Das war nicht sein Stil.«
»Und seine Klienten? Hat er sich mit denen auch nicht eingelassen?«
»Kein Kommentar.«
»Würden Sie mit einer Klientin ins Bett gehen?« fragte ich.
»Meine sind alle achtzig Jahre alt, daher ist die Antwort nein. Ich mache Vermögensverwaltung, er machte Scheidungen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr, dann schob er seinen Stuhl zurück.
»Ich unterbreche hier ungern, aber es ist jetzt Viertel nach vier, und ich muß noch einen Schriftsatz vorbereiten.«
»Entschuldigung. Ich wollte Ihnen Ihre Zeit nicht stehlen. Es war nett, daß Sie mich so kurzfristig empfangen haben.«
Scorsoni begleitete mich nach vorn, von seinem großen Körper strahlte Wärme aus. Er hielt mir die Tür auf, indem er den linken Arm entlang dem Türrahmen nach oben streckte. Wieder schien dieses kaum verhüllte männliche Tier ihm aus den Augen zu sehen. »Viel Glück«, sagte er. »Ich fürchte, Sie werden nicht viel zutage fördern.«
Ich holte die großformatigen Glanzfotos von dem Riß im Bürgersteig ab, den ich für die California Fidelity geknipst hatte. Alle sechs Aufnahmen zeigten den geborstenen Beton deutlich. Die Ansprucherhebende, Marcia Threadgill, sprach von fahrlässiger Körperverletzung: Sie sei über die vorspringende Partie des Gehsteigs gestolpert, die teils durch Baumwurzeln, teils durch Erdbewegung herausgedrückt worden war. Sie machte den Inhaber des Kunstgewerbeladens haftbar, zu dessen Grundstück das kaputte Trottoir gehörte. Der Schadenersatzanspruch – ein klassischer Bananenschalenfall – hielt sich in Grenzen: insgesamt etwa 4800 Dollar für Arztkosten, Schmerzensgeld und Verdienstausfall während der Zeit, in der sie nicht arbeiten konnte. Es sah aus, als würde die Versicherung bezahlen, aber man hatte mich angewiesen, doch einmal kurz zu untersuchen, ob, der Anspruch nicht trotz allem aus der Luft gegriffen war.
Miss Threadgills Apartment lag in einem terrassenförmig angelegten Gebäude an einem Hügelhang über dem Strand, nicht allzuweit von meiner Wohnung. Ich parkte sechs Häuser weiter unten und holte mein Fernglas aus dem Handschuhfach. Indem ich mein Kreuz durchdrückte, bekam ich genau ihren Patio ins Visier, und zwar deutlich genug, um zu erkennen, daß sie ihre Farnkräuter nicht so goß, wie sie es sollte. Ich verstehe nicht viel von Zimmerpflanzen, aber wenn das Grünzeug braun wird, dann würde ich das als Wink nehmen. Ein Farn war von der ekelhaften Sorte, die kleine, grau behaarte Pfoten entwickelt, die heimlich, still und leise aus dem Topf rauskriechen. Jeder, der so ein Ding besitzt, neigt wahrscheinlich auch zu Betrügereien, und ich konnte mir genau vorstellen, wie sie mit ihrem angeblich verknacksten Rücken einen 25-Pfund-Sack Farnkompost hochhob. Ich beobachtete ihre Wohnung anderthalb Stunden, aber sie ließ sich nicht blicken. In einer meiner alten Ausbildungsgruppen wurde immer behauptet, daß nur Männer für die Überwachungsarbeit geeignet sind, weil sie in einem parkenden Wagen sitzen und diskret in eine Tennisballdose pinkeln können, womit sie unnötige Abwesenheit vermeiden. Ich verlor das Interesse an Marcia Threadgill und an der Wahrheit; ich mußte pinkeln wie verrückt, also legte ich das Fernglas weg und suchte mir auf dem Rückweg in die Stadt die nächste Tankstelle.
Ich fuhr noch mal an der Auskunftei vorbei und redete mit dem Kumpel, der mich Akten einsehen läßt, die normalerweise nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Ich bat ihn, mal zu sehen, was er über Sharon Napier herausfinden könne, und er sagte, er würde sich melden. Ich erledigte ein paar private Besorgungen und fuhr nach Hause. Es war kein sehr befriedigender Tag gewesen, aber andererseits sind die meisten Tage bei mir gleich: prüfen und gegenprüfen, Lücken schließen, Kleinarbeit, die absolut notwendig ist für den Job, aber nicht eben dramatisch. Die Grundeigenschaften jedes guten Ermittlers sind eine Pferdenatur und unendliche Geduld. Die Gesellschaft erzieht uns Frauen unweigerlich seit langem dahin. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und übertrug Charlie Scorsoni auf mehrere Karteikarten. Es war eine verwirrende Unterredung gewesen, und ich hatte das Gefühl, ich war noch nicht fertig mit ihm.