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Ich brauchte anderthalb Tage, um an eine Adresse von Sharon Napier heranzukommen. Auf Wegen, die ich nicht unbedingt darlegen möchte, zapfte ich den Computer der Verkehrspolizei an und entdeckte, daß ihr Führerschein vor rund sechs Jahren abgelaufen war. Ich fragte bei der Zulassungsstelle nach, ein kurzer Ausflug in die Innenstadt, und fand heraus, daß ein dunkelgrüner Karman Ghia auf ihren Namen registriert war. Die angegegebene Adresse deckte sich mit der zuletzt bekannten hiesigen, die ich schon hatte, aber wie aus einer Randnotiz hervorging, war die Zulassung auf Nevada umgeschrieben worden; demnach hatte sie wahrscheinlich den Staat verlassen.

Ich meldete ein Gespräch mit Bob Dietz an, einem Detektiv in Nevada, dessen Namen ich aus dem nationalen Branchenverzeichnis heraussuchte. Ich erklärte ihm, welche Information ich benötigte, und er sagte, er würde zurückrufen, was er am selben Nachmittag noch tat. Sharon Napier hatte einen Führerschein für Nevada beantragt und erhalten: angegeben war eine Adresse in Reno. Dietz’ Quellen in Reno teilten jedoch mit, daß sie im März des Vorjahres vor einer großen Schar von Gläubigern geflohen sei; das hieß, sie war seit etwa vierzehn Monaten dort weg. In der Annahme, daß sie sich noch innerhalb des Staates aufhielt, hatte Dietz ein wenig weitergeschnüffelt: Einer kleinen Auskunftei in Reno lagen Anfragen zu ihrer Person vor, die erste aus Carson City und danach noch eine aus Las Vegas. Dort, meinte er, hätte ich die besten Chancen. Ich dankte ihm überschwenglich für seine Tüchtigkeit und bat ihn, mir eine Rechnung für seinen Zeitaufwand zu schicken, doch er sagte, ebensogut könne ich mich bei Gelegenheit revanchieren. Ich sorgte dafür, daß er meine Adresse und meine Privatnummer hatte, falls er sie brauchte.

Wegen Sharon Napier versuchte ich es bei der Telefonauskunft in Las Vegas, aber sie stand nicht im Verzeichnis, also rief ich einen Bekannten dort unten an, und er versprach sich umzuhören. Ich sagte ihm, daß ich Anfang der Woche nach Los Angeles fahren würde, und gab ihm die Telefonnummer durch, damit er mich, falls es länger dauerte, bis er einen Hinweis auf sie fand, dort erreichen konnte.

Der nächste Tag war Sonntag, und den widmete ich mir selbst: Wäsche, Hausputz, Lebensmitteleinkauf. Ich rasierte sogar meine Beine, bloß um zu zeigen, daß ich noch Stil hatte. Montag früh hieß es Büroarbeit. Ich tippte einen Bericht für Nikki und telefonierte aus Gründen der Genauigkeit noch mit der hiesigen Auskunftei. Sharon Napier hatte offenbar auch hier eine Menge Schulden und eine Menge empörter Leute zurückgelassen. Sie hatten keine Nachsendeadresse, also gab ich meine Informationen an sie weiter. Dann hatte ich eine lange Unterredung mit der California Fidelity in Sachen Marcia Threadgill. Für 4800 Dollar war die Versicherung beinahe bereit, sich mit ihr zu einigen und die Akte zu schließen. Dagegen argumentierte ich mit aller Schläue, die ich aufbringen konnte. Meine Dienste in dieser Sache kosteten sie keinen Heller, und es machte mich sauer, daß sie halb geneigt waren, wegzuschauen. Ich ließ mich sogar dazu herab, auf Prinzipien zu pochen, was bei dem Schaden-Sachbearbeiter nie sonderlich gut ankommt. »Die will Sie bescheißen«, sagte ich immer wieder, aber er schüttelte bloß den Kopf, als wären da Kräfte am Werk, die über meinen beschränkten Horizont gingen. Ich sagte er solle sich mit seinem Chef besprechen, und ich käme noch mal wieder.

Gegen 14 Uhr war ich auf dem Weg nach Los Angeles. Der andere Stein in dem Puzzle war Libby Glass, und ich mußte wissen, wie sie in das Ganze hineinpaßte. Als ich L. A. erreichte, stieg ich im Hacienda Motor Lodge am Wishire Boulevard, nahe Bundy, ab. Das Hacienda ist noch nicht einmal entfernt haziendaähnlich – ein L-förmiger, zweigeschossiger Bau mit knapper Parkmöglichkeit und einem Schwimmbecken, das von einem Maschendrahtzaun mit Vorhängeschloß umgeben ist. Eine sehr dicke Frau namens Arlette spielt die Doppelrolle der Managerin und Telefonistin. Ich konnte vom Empfang aus direkt in ihre Wohnung sehen. Die hat sie offenbar von ihren Einkünften als Tupperwaren-Vertreterin eingerichtet, ein wenig Kundenfang, den sie nebenher betreibt. Sie bevorzugt Möbel im Stil der Mittelmeerländer, mit roten Plüschpolstern.

»Fett ist schön, Kinsey«, sagte sie selbstbewußt, als ich den Meldeschein ausfüllte. »Gucken Sie her.«

Ich guckte. Sie hielt ihren Arm ausgestreckt, damit ich die mächtigen, durchhängenden Fleischwülste bewundern konnte.

»Ich weiß nicht, Arlette«, meinte ich zweifelnd. »Ich versuche immer daran vorbeizukommen.«

»Dann bedenken Sie mal, wieviel Zeit und Energie das kostet«, sagte sie. »Das Problem ist, daß unsere Gesellschaft die Dicken ausstößt. Beleibte Menschen werden schwer diskriminiert. Schlimmer als die Behinderten. Also, die haben’s leicht im Vergleich zu uns. Wo man auch hinkommt, sind jetzt Schilder für sie. Behindertenparkplätze. Behindertenklos. Sie haben diese kleinen Strichmännchen im Rollstuhl selber schon gesehen. Zeigen Sie mir doch mal das internationale Zeichen für die stark Übergewichtigen. Auch wir haben Rechte.«

Ihr Gesicht war mondförmig, eingerahmt von einem mädchenhaften, dünnen, blonden Haarschopf. Ihre Backen waren ständig gerötet, als würden wichtige Versorgungsadern gefährlich gequetscht.

»Aber es ist so ungesund, Arlette«, sagte ich. »Ich meine, müssen Sie nicht besorgt sein wegen hohen Blutdrucks, Herzanfällen...«

»Na ja, Risiken gibt’s bei allem. Ein Grund mehr, daß man uns anständig behandeln sollte.«

Ich gab ihr meine Kreditkarte, und nachdem sie sie gestempelt hatte, übergab sie mir den Schlüssel für Zimmer 2. »Das ist gleich hier vorn«, sagte sie. »Ich weiß, wie Sie es hassen, nach hinten verfrachtet zu werden.«

»Vielen Dank.«

Ich war schon etwa zwanzigmal auf Zimmer 2, und es ist immer auf tröstliche Weise trostlos. Ein Doppelbett. Fadenscheiniger Teppichboden in Baumhörnchengrau. Ein mit orangefarbigem Kunststoff bezogener Stuhl, der ein Wackelbein hat. Auf dem Schreibtisch steht eine Lampe in der Form eines Footballhelms mit dem Aufdruck »UCLA« auf der Seite. Das Bad ist klein, und die Badematte besteht aus Papier. Es ist so ein Ort, wo man die Unterhose von jemand anders unter dem Bett finden kann. Es kostet mich 11 Dollar 95 zuzüglich Wohnraumsteuer außerhalb der Saison, aber inklusive einem europäischen Frühstück – Instantkaffee und gefüllte Krapfen, von denen Arlette die meisten selber ißt. Einmal, um Mitternacht, setzte sich ein Betrunkener auf die Stufe vor meiner Tür und johlte anderthalb Stunden, bis die Polizei kam und ihn mitnahm. Ich wohne da, weil ich billig bin.

Ich setzte meinen Koffer auf das Bett und holte meine Jogging-sachen raus. Ich ging schnell vom Wilshire zum San Vicente und trabte dann in westlicher Richtung bis zu 26. Straße, wo ich ein Stoppschild anschlug und kehrtmachte, zurück bis Westgate lief und wieder hinüber zum Wishire. Die erste Meile ist diejenige, die weh tut. Ich hechelte arg, als ich wiederkam. Bei den Abgasen, die ich von vorbeidüsenden Kraftfahrern auf dem San Vicente aufgefangen hatte, mußte ich so etwa Kopf an Kopf mit Giftmüll liegen. Zurück in Zimmer 2, duschte ich, zog mich an und sah Verschiedenes in meinen Notizen nach. Dann führte ich ein paar Telefongespräche. Das erste ging an den zuletzt bekannten Arbeitgeber von Lyle Abernathy, die Wunder-Brot KG in Santa Monica. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er dort aufgehört, und die Personalabteilung hatte keine Ahnung, wo er steckte. Ein rascher Blick ins Telefonbuch zeigte, daß er im Ortsnetz nicht verzeichnet war, aber ein Raymond Glass lebte immer noch in Sherman Oaks, und die Hausnummer stimmte mit der überein, die ich mir aus den Polizeiakten in Santa Teresa notiert hatte. Ich meldete noch ein Gespräch mit meinem Bekannten in Vegas an. Er habe einen Hinweis auf Sharon Napier, meinte aber, es würde wahrscheinlich noch einen halben Tag dauern, bis er Genaues wisse. Ich bereitete Arlette darauf vor, daß er anrufen könnte und schärfte ihr ein, daß die Informationen, falls sie sie entgegennahm, exakt sein müßten. Sie spielte ein wenig die Beleidigte, weil ich ihr nicht zutraute, telefonische Nachrichten für mich anzunehmen, aber sie war früher schon nachlässig gewesen, und beim letzten Mal hatte ich teuer dafür bezahlt. Ich rief Nikki in Santa Teresa an und sagte ihr, wo ich war und was ich vorhatte. Dann checkte ich meinen Auftragsdienst. Charlie Scorsoni hatte angerufen, aber keine Nummer hinterlassen. Ich schätzte, wenn es wichtig war, würde er sich noch mal melden. Ich gab meinem Auftragsdienst die Nummer, unter der ich zu erreichen war. Nachdem ich alle diese Stützpunkte angetippt hatte, ging ich in ein Restaurant nebenan, das jedesmal, wenn ich dort bin, die Nationalität zu wechseln scheint. Bei meinem letzten Besuch hatten sie mexikanische Kost, das heißt, sehr heiße Teller mit hellbrauner Pampe. Diesmal gab es griechische: haufenartige Klumpen, in Blätter gewickelt. Auf manch einsamem Parkplatz hatte ich ähnlich appetitliche Sachen gesehen, aber ich spülte sie mit einem Glas Wein hinunter, das wie Flüssiggas schmeckte, und was machte es schon? Es war jetzt Viertel nach sieben, und ich hatte nichts zu tun. Der Fernseher auf meinem Zimmer war futsch, also wanderte ich hinüber ins Büro und sah zusammen mit Arlette fern, wobei sie eine Dose Karamelbonbons verdrückte.

Am Morgen fuhr ich über den Berg ins San Fernando Valley. Von dem Hügelkamm, wo der San Diego Freeway nach Sherman Oaks hin abfällt, sah ich eine Smogschicht, hingebreitet wie ein Trugbild, ein schimmernder, hellgelber Dunstschleier, aus dem sich einige wenige hohe Gebäude reckten wie nach frischer Luft. Libbys Eltern lebten in einem vierteiligen Appartmenthaus an der Biegung, wo sich der San Fernando und der Ventura Freeway treffen; ein klobiger Bau aus Stuck und Balken mit vorstehenden Panoramafenstern längs der Vorderseite. Ein offener Flur teilte das Haus in zwei Hälften, und die Eingänge zu den beiden Parterrewohnungen lagen gleich vorne. Rechts führte eine Treppe zum ersten Stock. Das Gebäude selbst huldigte keinem bestimmten Stil, und ich vermutete, daß es in den dreißiger Jahren entstanden war, noch bevor irgend jemand auf den Gedanken kam, die kalifornische Architektur müsse Südstaatenhäuser und italienische Villen nachahmen. In dem ausgebleichten Rasen mischten sich Hundszahn- und Bermudagras. Eine kurze Auffahrt auf der linken Seite führte nach hinten zu einer Reihe von Garagentoren, und vier grüne Mülltonnen aus Plastik waren an einen Holzzaun gekettet. Die Wacholderbüsche entlang der Hausfront wuchsen so hoch, daß sie die Parterrefenster verdeckten, und schienen unter einer merkwürdigen Mauser zu leiden, die einen Teil ihrer Zweige braun färbte und die übrigen kahl werden ließ. Sie sahen aus wie verbilligte und von der Schattenseite präsentierte Weihnachtsbäume. Die Zeit der frohen Feste war in dieser Gegend längst vorbei.

Appartement Nr. 1 lag zu meiner Linken. Als ich auf die Klingel drückte, klang sie wie das Br-r-r-r eines ablaufenden Weckers. Die Tür wurde von einer Frau mit einer Reihe Stecknadeln im Mund geöffnet, die auf und ab wippten, als sie sprach. Ich hatte Angst, sie würde eine verschlucken.

»Ja?«

»Mrs. Glass?«

»Ganz recht.«

»Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin Privatdetektivin. Ich arbeite oben in Santa Teresa. Könnte ich Sie mal sprechen?«

Sie nahm die Stecknadeln eine nach der anderen aus dem Mund und steckte sie auf ein Nadelkissen, das sie am Handgelenk trug wie ein stachliges Armband. Ich reichte ihr meinen Ausweis, und sie studierte ihn sorgfältig, drehte ihn sogar um, als könnte auf der Rückseite ein verfänglicher kleingedruckter Zusatz stehen. Während sie das tat, studierte ich sie. Sie war Anfang Fünfzig. Ihr seidiges, braunes Haar war kurz geschnitten, und einige Strähnen waren nachlässig hinter die Ohren geklemmt. Braune Augen, kein Make-up, nackte Beine. Sie trug einen Wickelrock aus Drillich, eine verwaschene Madrasbluse in verlaufenen Blautönen und die Sorte Baumwollslipper, die ich in Zellophan verpackt in Lebensmittelläden gesehen habe.

»Es geht um Elizabeth«, sagte sie, als sie mir schließlich den Ausweis zurückgab.

»Ja. Stimmt.«

Sie zögerte und trat dann zurück ins Wohnzimmer, um mich einzulassen. Ich lavierte mich durch den Raum und nahm Platz auf dem einzigen Sessel, der nicht von Stoffteilen oder Schnittmustern bedeckt war. Das Bügelbrett stand nahe dem Panoramafenster, das Eisen war eingeschaltet und tickte beim Heißwerden. Fertige Kleider hingen auf einem Gestell bei der Nähmaschine an der hinteren Wand. Die Luft roch nach Wäschestärke und heißem Metall.

Im Türbogen zum Eßzimmer saß ein untersetzter Mann in den Sechzigern auf einem Rollstuhl, sein Gesicht war ausdruckslos, die Hose vorn aufgeknöpft, überwölbt von einem dicken Bauch. Sie durchquerte das Zimmer und drehte seinen Stuhl um, so daß er auf den Fernseher blickte. Sie setzte ihm den Kopfhörer auf, dann stöpselte sie den Fernseher ein und schaltete ihn an. Er sah ein Unterhaltungsspiel, ob es ihm paßte oder nicht. Ein Pärchen war als Junghenne und Hähnchen kostümiert, aber ich konnte nicht beurteilen, wie sie im Rennen lagen.

»Ich bin Grace«, sagte sie. »Das ist ihr Vater. Er hatte im Frühling vor drei Jahren einen Autounfall. Er spricht nicht, aber er kann hören, und jedes Wort über Elizabeth regt ihn auf. Nehmen Sie sich Kaffee, wenn Sie möchten.«

Auf dem Couchtisch stand eine Keramik-Kaffeemaschine, angeschlossen an eine Verlängerungsschnur, die unter der Couch durchlief. Es sah aus, als würden alle anderen Geräte in dem Zimmer aus der gleichen Stromquelle gespeist. Grace ließ sich auf die Knie hinunter. Sie hatte rund vier Meter dunkelgrüne Seide auf dem Hartholzboden ausgebreitet und war dabei, ein vorgezeichnetes Muster abzustecken. Sie hielt mir eine aufgeschlagene Illustrierte hin, in der ein Modellkleid mit langem Seitenschlitz und engen Ärmeln abgebildet war. Ich goß mir eine Tasse Kaffee ein und sah ihr bei der Arbeit zu.

»Ich näh das gerade für eine Frau, die mit einem Fernsehstar verheiratet ist«, sagte sie freundlich. »Spielt den Busenfreund von irgendwem. Er ist über Nacht berühmt geworden, und sie sagt, er wird sogar in der Wagenwaschanlage erkannt. Die Leute wollen sein Autogramm. Kriegt Gesichtsmassagen. Er, nicht sie. Er war die letzten fünfzehn Jahre arm, habe ich gehört, und jetzt gehen sie auf diese ganzen Parties in Bei Air. Ich mache ihre Kleider. Er kauft seine am Rodeo Drive. Könnte sie auch, bei dem Geld, das er verdient, aber sie sagt, da fühlt sie sich unsicher. Sie ist viel netter als er. Im Hollywood Reporter, ›Wer trifft Wen‹, habe ich schon gelesen, daß er sich mit jemand anders ›Steaks bei Stellini reinzieht‹. Wenn Sie mich fragen, sie täte gut daran, sich eine teure Garderobe zusammenzustellen, bevor er sie verläßt.«

Grace schien mit sich selbst zu reden; sie klang abwesend, hin und wieder erwärmte ein Lächeln ihr Gesicht. Sie nahm eine Zickzackschere und begann an dem geraden Saum entlangzuschneiden, wobei die Schere auf dem Holzfußboden ein knirschendes Geräusch verursachte. Die Arbeit hatte etwas Hypnotisches an sich, es schien kein Zwang zum Gespräch zu bestehen. Der Fernseher flimmerte, und aus dem Winkel sah ich das Hühnermädchen auf und ab hüpfen, die Hände vor ihrem Gesicht. Ich merkte, wie das Publikum sie drängte, etwas zu tun – ein Kästchen zu wählen, weiterzureichen, einzulösen, sich zu holen, was hinter dem Vorhang war, den Umschlag zurückzugeben, und all das lief geräuschlos ab, während Libbys Vater von seinem Rollstuhl aus uninteressiert zuschaute. Ich fand, sie sollte sich mal mit ihrem Hähnchenpartner beraten, aber der stand da bloß befangen wie ein Kind, das weiß, daß es zu alt ist, um sich an Haloween zu verkleiden.

Das Schnittmuster raschelte, als Grace es wegnahm und es sorgfältig zusammenfaltete, bevor sie es beiseite legte.

»Für Elizabeth habe ich auch genäht, als sie jung war«, sagte sie. »Sobald sie von zu Hause wegging, wollte sie natürlich nur noch Ladenware. Sechzig Dollar für einen Rock, an dem höchstens für zwölf Dollar Wolle war, aber sie hatte einen Blick für Farben, und sie konnte sich das leisten, was ihr gefiel. Möchten Sie ein Foto von ihr sehen?« Graces Augen schweiften zu meinen herauf, und ihr Lächeln war wehmütig.

»Ja. Das würde ich gern.«

Sie nahm erst noch die Seide, legte sie auf das Bügelbrett und prüfte im Vorübergehen das Eisen mit einem nassen Zeigefinger. Das Bügeleisen zischte, und sie stellte den Schalter auf »Wolle« herunter. Auf der Fensterbank standen zwei Schnappschüsse von Libby in einem Doppelrahmen, und sie betrachtete sie selber noch, bevor sie sie mir gab. Auf dem ersten schaute Libby in die Kamera, aber sie hatte den Kopf geneigt und die rechte Hand erhoben, als wollte sie ihr Gesicht verbergen. Ihr blondes Haar war sonnengestreift, kurz geschnitten wie das der Mutter, jedoch über die Ohren zurückgefönt. Die blauen Augen belustigt, ihr Grinsen war breit und verlegen vor Überraschung. Warum, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hatte noch nie eine Vierundzwanzigjährige gesehen, die so jung und so frisch wirkte. Auf dem zweiten Schnappschuß deutete das Lächeln sich nur an, geteilte Lippen über blitzend weißen Zähnen, ein Grübchen am Mundwinkel. Ihr Teint war hell, goldbraun getönt, die Wimpern dunkel, so daß sie die Augen zart betonten.

»Sie ist reizend«, sagte ich. »Wirklich.«

Grace stand am Bügelbrett und glättete Seidenfalten mit der Spitze des Eisens, das über die Asbestplatte segelte wie ein Boot auf einem flachen, dunkelgrünen Meer. Sie schaltete das Eisen aus und strich sich mit den Händen kurz über den Rock, dann nahm sie die Seidenteile und begann sie zusammenzustecken.

»Ich habe sie nach Queen Elizabeth genannt«, sagte sie und lachte scheu. »Sie wurde am 14. November geboren, am selben Tag wie Prinz Charles. Ich hätte sie Charles genannt, wenn sie ein Junge geworden wäre. Raymond fand zwar, ich sei albern, aber das war mir egal.«

»Sie haben sie nie Libby gerufen?«

»Aber nein. Das brachte sie selbst auf, in der Grundschule. Sie hatte immer so eine Vorstellung davon, wer sie war und wie ihr Leben sein sollte. Schon als Kind. Sie war sehr ordentlich, nicht pingelig, aber sauber. Sie hat ihre Kommodenschubladen mit hübschem Blumenpapier ausgelegt, und genauso hat sie auch alles andere geordnet. Buchhaltung gefiel ihr aus dem gleichen Grund. Mathematik war ordentlich und hatte Hand und Fuß. Die Antworten stimmten immer, wenn man mit genügend Sorgfalt vorging: wenigstens sagte sie das mal.« Grace ging hinüber zum Schaukelstuhl, setzte sich und breitete die Seide über ihren Schoß. Sie begann Abnäher zu heften.

»Ich hörte, daß sie als Prüferin bei Haycraft und McNiece gearbeitet hat. Wie lange war sie dort?«

»Etwa eineinhalb Jahre. Sie hatte schon die Bücher für den Betrieb ihres Vaters geführt – er reparierte Haushaltsgeräte –, aber das interessierte sie eigentlich nicht, die Arbeit für ihn. Sie war ehrgeizig. Sie machte das Wirtschaftsprüferexamen, als sie zweiundzwanzig war. Danach belegte sie noch Computerkurse an der Abendschule. Ihre Zeugnisse waren sehr gut. Sie hatte schon zwei jüngere Buchhalter unter sich, wissen Sie.«

»War sie glücklich dort?«

»Das war sie bestimmt«, sagte Grace. »Sie sprach auch mal davon, noch Jura zu studieren. Sie hatte Spaß an Betriebswirtschaft und an Finanzen. Sie ging gern mit Zahlen um, und ich weiß, daß sie beeindruckt war, weil diese Firma sehr reiche Leute vertrat. Sie sagte, man könne sehr viel über den Charakter eines Menschen lernen aus der Art, wie er sein Geld ausgibt, was er kauft und wo – ob er im Rahmen seiner Verhältnisse lebt und dergleichen mehr. Sie sagte, es sei ein Studium der menschlichen Natur.« Graces Stimme war von Stolz getränkt. Mir fiel es schwer, die Vorstellung von dieser affektiert klingenden Wirtschaftsprüferin mit dem Mädchen auf den Fotos zu vereinbaren, das hübsch, lebendig, scheu und ziemlich süß aussah, aber kaum wie eine Frau mit hochgestecktem Lebensziel.

»Wie steht’s mit ihrem früheren Freund? Haben Sie eine Ahnung, wo er jetzt ist?«

»Was, Lyle? Ach, der wird bald auftauchen.«

»Hier?«

»Meine Güte, ja. Er kommt jeden Tag gegen Mittag vorbei, um mir mit Raymond zu helfen. Es ist ein reizender Junge, aber Sie werden natürlich auch wissen, daß sie ihre Verlobung mit ihm gelöst hat, ein paar Monate, bevor sie... von uns ging. Sie war schon mit Lyle zusammen auf der High-School, und sie besuchten gemeinsam das Santa Monica College, bis Lyle ausstieg.«

»Fing er damals an, bei Wunder-Brot zu arbeiten?«

»Oh, nein, Lyle hat schon viele Jobs gehabt. Zu der Zeit, als Lyle von der Schule abging, hatte Elizabeth ihre eigene Wohnung, und sie vertraute mir nicht viel an, aber ich glaube, daß sie enttäuscht von ihm war. Er hatte Anwalt werden wollen und sich’s dann einfach anders überlegt. Er meinte, Jura sei zu trocken und er halte nichts von Federfuchserei.«

»Lebten sie zusammen?«

Graces Wangen röteten sich leicht. »Nein. Es klingt vielleicht merkwürdig, und Raymond fand es sehr verkehrt von mir, aber ich redete ihnen zu, sie sollten zusammenziehen. Ich spürte, daß sie sich auseinanderlebten, und ich dachte, es würde helfen. Raymond war, genau wie Elizabeth, wegen des Schulabbruchs von Lyle enttäuscht. Er sagte ihr, sie könne viel bessere bekommen. Aber Lyle vergötterte sie. Ich dachte, das zählt doch auch etwas. Er würde sich schon finden. Er hatte ein rastloses Wesen, wie viele Jungen in dem Alter. Er würde schon zur Besinnung kommen, und das sagte ich ihr auch. Er mußte Verantwortung lernen. Da hätte sie ein sehr guter Einfluß sein können, weil sie selbst so verantwortungsvoll war. Aber Elizabeth sagte, sie wolle nicht mit ihm leben, und damit hatte es sich. Sie konnte starken Willens sein, wenn es ihr darauf ankam. Und das meine ich nicht als Kritik. Sie war fast vollkommen als Tochter. Selbstverständlich war ihr Wunsch auch mein Wunsch, aber ich konnte es nicht ertragen, daß Lyle darunter litt. Er ist sehr lieb. Sie werden es sehen, wenn Sie ihn kennenlernen.«

»Und Sie haben keine Ahnung, was letztlich den Bruch zwischen ihnen herbeigeführt hat? Ich meine, könnte sie sich mit jemand anderem eingelassen haben?«

»Sie reden von diesem Anwalt in Santa Teresa«, sagte sie.

»Seinen Tod untersuche ich«, erklärte ich. »Hat sie jemals mit Ihnen über ihn gesprochen?«

»Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört, bis die Polizei von Santa Teresa herkam und mit uns redete. Elizabeth vertraute sich in persönlichen Dingen nicht gern an, aber ich glaube nicht, daß sie sich in einen verheirateten Mann verlieben würde«, sagte Grace. Nervös hantierte sie mit der Seide herum. Sie schloß die Augen und preßte die Hand auf ihre Stirn, wie um zu prüfen, ob sie sich ein plötzliches Fieber zugezogen hätte. »Entschuldigen Sie. Manchmal vergesse ich’s. Manchmal tu ich, als wäre sie krank geworden. Die andere Sache macht mich fertig – daß jemand ihr das angetan haben könnte, daß jemand sie derart gehaßt haben soll. Die Polizei hier tut gar nichts. Es ist ungeklärt, aber niemand kümmert sich mehr drum, deshalb sag ich... ich sag mir einfach, sie ist krank geworden und heimgegangen. Wie hätte ihr das irgend jemand antun können?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Kummer überwand den Raum zwischen uns wie eine Meereswelle, und ich spürte auch in meinen Augen Tränen aufsteigen. Ich langte herüber und ergriff ihre Hand. Einen Moment lang umklammerte sie fest meine Finger, dann schien sie sich zu fassen und löste sich von mir.

»Es hat mir wie eine Last aufs Herz gedrückt. Ich werde mich nie davon erholen. Nie.«

Meine nächste Frage formulierte ich behutsam. »Könnte es ein Unfall gewesen sein?« sagte ich. »Der andere Tote – Laurence Fife – starb an Oleander, den jemand in eine Allergiekapsel getan hat. Angenommen, sie hatten geschäftlich miteinander zu tun, Bücher durchzugehen oder so etwas. Vielleicht mußte sie niesen oder hat sich über eine verstopfte Nase beklagt, und er hat ihr eben sein eigenes Medikament angeboten. Das tun die Leute ja ständig.«

Sie dachte einen Augenblick unbehaglich darüber nach. »Ich dachte, die Polizei hätte gesagt, daß der Anwalt vor ihr starb. Tage vorher.«

»Vielleicht hat sie das Präparat nicht sofort eingenommen«, sagte ich achselzuckend. »Genau wissen kann man nie, wann jemand so eine vertauschte Kapsel einnimmt. Vielleicht steckte sie sie in ihre Handtasche und schluckte sie später, ohne auch nur zu ahnen, daß eine Gefahr dabei war. War sie allergisch? Könnte es sein, daß sie sich erkältet hatte?«

Grace fing an zu weinen, ein leiser Laut wie ein Miauen. »Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube nicht. Sie hatte keinen Heuschnupfen oder so etwas. Ich wüßte auch nicht, wer sich nach all den Jahren noch daran erinnern sollte.«

Grace sah mich jetzt mit ihren großen, dunklen Augen an. Sie hatte ein gutes Gesicht, beinah kindlich, mit einer kleinen Nase, einem süßen Mund. Sie nahm ein Kleenex heraus und trocknete sich die Wangen. »Ich glaube, länger kann ich darüber nicht mehr reden. Bleiben Sie zu Mittag. Lernen Sie Lyle kennen. Vielleicht kann er Ihnen etwas sagen, das Sie weiterbringt.«

Nichts zu verlieren / In aller Stille

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